Die Sicherheit der Menschen im Westen ist in Gefahr! Sie ist bedroht durch Menschen in Machtpositionen, die kein anderes Wort so inbrünstig im Mund führen wie eben dieses: „Sicherheit“. Menschen, die von der Krankheit der Paranoia angefressen sind, und die zur Realität nur noch einen lockeren Kontakt halten. Unsere Sicherheit in solche Hände zu legen, ist ungefähr so sinnvoll, wie einen Schnapsbrennereibesitzer mit einer Kampagne zur Suchtprävention zu beauftragen. Nachfolgend sieben wichtige Gründe, warum zumindest der monströseste Auswuchs dieses „Sicherheits“-Komplexes, die Geheimdienste, sofort abgeschafft werden müsste.
001.
Das selbst aus der Perspektive eines totalitären Überwachungsfanatikers groteske Ausmaß des NSA-Überwachungsskandals wird von der NSA damit begründet, durch die flächendeckende Ausschnüffelung der Weltbevölkerung seien 50 terroristische Anschläge vereitelt worden.1
Bundesinnenminister Friedrich, von seinem peinlichen USA-Besuch zurückgekehrt, nannte 45 solcher Vereitlungs-Erfolge.2
Fünf davon in Deutschland, wobei Friedrich auf Nachfragen nicht so genau sagen konnte, was das denn für Anschlagspläne waren, und ob nicht statt fünf doch eins oder zwei die richtigere Zahl wäre.
Das ist genau die Krux: Es handelt sich um Geheimdienst-Informationen, und da ist eben alles geheim und nichts überprüfbar. Man kann solchen Angaben glauben; aber das wäre schon ziemlich erfahrungsresistent. Da Geheimdienste und ihre „Informationen“ nicht überprüfbar und nicht kontrollierbar sind, sind sie von A bis Z demokratiewidrig, denn jede Form von Demokratie lebt von einer gut informierten Öffentlichkeit. Dies sei hier als erster Grund festgehalten, diese Organisationen abzuschaffen.
002.
Es kann sein, dass in einer Welt ohne Geheimdienste Terroranschläge passieren würden, die mit ihnen verhindert worden wären. Aber wie würde die Gesamtbilanz sein? Die New York Times hat letztes Jahr berichtet, dass 14 der 22 „beängstigendsten“ vereitelten Anschlagspläne innerhalb der USA seit dem 11. September 2001 vom FBI inszeniert wurden. Labile junge Männer wurden zu teilweise grotesken Anschlagsplänen aufgestachelt und dann kurz vor dem ‚Coup‘ verhaftet.3 Nachwuchsfutter mit meist arabisch klingenden Namen für die US-Gefängnis-Industrie. Und nur gut, dass keiner dieser Fälle aus dem Ruder gelaufen ist.
In Deutschland war ja bekanntlich die Infiltration der rechtsextremen Szene durch die „Verfassungsschutz“-Behörden so massiv und so erfolgreich, dass eine Mordserie mit zehn Opfern über acht Jahre unentdeckt blieb.
Die Ursachen dieser Schwachsichtigkeit und das Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens im Jahre 2003 sollten in einem Zusammenhang betrachtet werden. Man wusste vor zehn Jahren nicht, ob der Verfassungsschutz die NPD infiltriert hatte, oder die NPD den Verfassungsschutz. Die nicht unbeträchtlichen Steuergelder, die in die vermeintlich angeworbenen Spitzel gesteckt wurden, dienten jedenfalls vielfach zum Aufbau politischer und militanter rassistischer Strukturen.
Dies hat zweierlei beunruhigende Implikationen: Einerseits gibt es offenbar eine ideologische Nähe zwischen „Sicherheitsbehörden“ (insbesondere im Geheimdienstbereich) und rechtsextremen Aktivisten, nicht nur die sprichwörtliche Blindheit auf dem rechten Auge, sondern oft ein stillschweigendes Einverständnis. In diesem politischen Segment werden Straftaten – auch terroristische – durch die geheimdienstlichen Aktivitäten eher gefördert als verhindert. Ein weiterer Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
003.
Um im Einsatz-Milieu unerkannt zu bleiben, müssen andererseits Geheimdienst-Agenten, wie uns die Befürworter dieser Halbwelt-Agenturen stets versichern, „szenetypische Verbrechen“ begehen können, ohne dass man sie dafür „belangt“. Ihr Einsatz kreiert also notwendigerweise zusätzliche Straftaten. Aber dabei bleibt es nicht. Jeder Mensch, der sich schon einmal im linken politischen Spektrum engagiert hat, kennt Fälle von „agents provocateurs“, vermeintlichen Genossen, die sich besonders militant gebärdeten und am Ende als Angestellte der Polizei oder des Verfassungsschutzes erwiesen. Auch hier ging es, wie oben über das FBI berichtet, darum, die Straftaten zuallererst zu generieren, die man dann mit großer Öffentlichkeits-Wirkung verfolgen und aufdecken konnte. Die agents provocateurs sind ein dritter Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
004.
Wie gesagt: Da alles geheim ist, können wir überhaupt nicht sagen, welcher Anteil der politisch motivierten Straftaten inklusive terroristischer Akte direkt oder indirekt auf das Konto der „Sicherheitskräfte“ geht, die sie eigentlich verhüten sollen. Beim Vermuten, auf das wir also angewiesen sind, ist zu bedenken, dass das Budget oder gar die Existenz dieser Organisationen auf dem Spiel stünde, wenn es allzu ruhig im Land wäre. Die Versuchung, sich die eigene Unverzichtbarkeit herbei zu bomben, ist also beträchtlich, und das ist in Verbindung mit der Unsichtbarkeit geheimdienstlicher Aktionen höchst beunruhigend. Die Annahme erscheint also nicht allzu tollkühn, dass durch die Existenz der Geheimdienste (und geheimdienstähnlich vorgehender Polizei-Instanzen) mehr derartiger Verbrechen erzeugt als verhindert werden; auch weil dies dem institutionellen Selbsterhaltungsinteresse von Geheimdiensten entspricht. Diese objektive Interessenlage ist ein vierter Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
005.
Der Staat ist der ‘geschäftsführende Ausschuss’ der Gesellschaft, nicht irgendeine Wesenheit eigenen Rechts – das ist das schwer erkämpfte Staatsverständnis der Moderne. Es ist stets in Gefahr, weil eben dieser Staat mit enormen Macht- und Gewaltmitteln, ja sogar mit dem „Monopol legitimer Gewaltsamkeit“ ausgestattet ist, was die Versuchung, sich gegen die Gesellschaft zu verselbstständigen, stets akut sein lässt. Angehörige der ‘politischen Klasse’ nehmen die Welt denn auch aufgrund ihres standortgebundenen Interesses in eigentümlicher Weise wahr.
So meint der CSU-Innenpolitiker Hans-Peter Uhl angesichts der NSA-Affäre im Juli 2013, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung sei eine „Idylle aus vergangenen Tagen“.4 Zeitgemäß scheint für diesen Politiker nur das Staatshandeln totalitärer Systeme zu sein, wie sein Eifern für die Internet-Zensur belegt, bei dem er 2008 freimütig bekannte, von der Volksrepublik China lernen zu wollen: „Was die Chinesen können, sollten wir auch können. Da bin ich gern obrigkeitsstaatlich“.5
Halten wir also fest, dass Uhl, der politisch ins mittlere Drittel des 20. Jahrhunderts zurück will, heutigen MenschenrechtlerInnen vorwirft, rückständig zu sein.
In eine ähnliche Kerbe haut Uhls Parteifreund Hans-Peter Friedrich, zurzeit Innenminister der Bundesrepublik Deutschland. Dieser reiste nach Bekanntwerden der NSA-Affäre in die USA, um Aufklärung zu erlangen, ließ sich dort wie ein Schuljunge abfertigen und erklärte anschließend, es gebe ein „Supergrundrecht auf Sicherheit“.6
Eigentlich sind die Grundrechte der in Deutschland lebenden Menschen im Grundgesetz der Bundesrepublik normiert; dort ist auch bei aufmerksamer Lektüre von einem „Supergrundrecht auf Sicherheit“ nichts zu finden. Wenn Friedrich ein solches gerne hätte, dann kann er (auch das ließe sich im Grundgesetz nachlesen) den üblichen Weg des Gesetzgebungsverfahrens (in diesem Fall den Weg der Verfassungsänderung) beschreiten; dies hätte den Vorteil, dass über seine Idee zumindest im Prinzip diskutiert werden könnte. Vielleicht hält er aber auch das Grundgesetz für eine „Idylle aus vergangenen Tagen“ und meint, es sei zeitgemäßer, dass Grundrechte und Supergrundrechte vom Bundesinnenminister verkündet und kassiert werden.
Jedenfalls zeigt sich, dass das „Supergrundrecht auf Sicherheit“ bereits im Moment seiner Verkündung gegen die tatsächlichen Grundrechte der Menschen gerichtet ist, die ja in ihrem Wesenskern Abwehrrechte der Menschen gegen Übergriffe des Staates sind. Mit dem „Supergrundrecht“ beansprucht der Bundesinnenminister, dass nicht die zivile Gesellschaft den Staat zu kontrollieren habe, sondern der Staat die zivile Gesellschaft; dass nicht die Menschen ein Recht auf Privatheit haben und der Staat eine Pflicht zur Öffentlichkeit, sondern genau umgekehrt. Das ist der Mist, auf dem Geheimdienste gedeihen.
Für die Idee des Supergrundrechts Sicherheit reklamiert Friedrich aber kein Urheberrecht, sondern beruft sich dabei mit einer gewissen inhaltlichen Berechtigung auf seinem Amtsvorgänger Otto Schily (SPD).7 Schily seinerseits, Träger des „Big Brother Award“ des Jahres 2005, tritt auch im Sommer 2013 wieder in den innenpolitischen Ring und bekennt, die Aufregung um die Späh-Aktivitäten der NSA und anderer Geheimdienste trage „teilweise wahnhafte Züge“. Die größte Gefahr für die Menschen gehe nicht vom US-Geheimdienst, sondern „vom Terrorismus und von der Organisierten Kriminalität“ aus.8
Wieder haben wir den Effekt, dass die „Sicherheits“-Politiker die Realität exakt auf den Kopf stellen.9 Denn deutlich erkennbar zeigt Schilys Statement genau jene wahnhaften Züge, die er ringsum zu erkennen glaubt. Ein Kommentar von „Spiegel-online international“ hat in diesem Zusammenhang für die USA interessante Zahlen übermittelt. Seit 2005 sind demnach im Jahresdurchschnitt 23 US-AmerikanerInnen durch Terrorismus ums Leben gekommen (meistens im Ausland).
Die Wahrscheinlichkeit, beim Sturz von einer Leiter tödlich zu verunglücken, sei für US-BürgerInnen 15 mal so hoch gewesen.10
Es wäre auch interessant, die Zahl der amerikanischen Terroropfer mit der Zahl der infolge von Geheimdienstaktivitäten z.B. durch Drohnenangriffe in Pakistan ermordeten Menschen zu korrelieren. Hier soll es aber reichen, die völlige Verkehrung der Realität bei unseren „Sicherheitspolitikern“, die für die Geheimdienste ja politisch verantwortlich sind, festzustellen. In rechtsfreien Räumen operierende, bewaffnete Organisationen, geführt von Menschen mit massiven politischen Wahrnehmungsproblemen: Ein fünfter Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
006.
Die Geheimdienste, die eine so offensichtlich schädliche Rolle spielen, verschlingen riesige Mengen an Steuergeldern. In den USA wurden 2010 erstmals Zahlen darüber veröffentlicht; danach waren es in jenem Jahr 80 Milliarden Dollar, die in die diversen Geheimdienste flossen.11 In Deutschland erhält allein der BND jährlich immerhin 500 Millionen Euro; die in Berlin entstehende neue BND-Zentrale verursacht nach derzeitigen Schätzungen Kosten von 1,5 Milliarden Euro.12
Das ist natürlich Geld, das für andere Zwecke fehlt. Ich möchte hier gar nicht von Schuldentilgung oder gar von sozialer Gerechtigkeit reden, oder von der Bekämpfung der weltwirtschaftlichen Ursachen des internationalen Terrorismus, sondern nur von unmittelbarer, nackter Sicherheit!
Als im August 2005 infolge des Hurricanes „Katrina“ große Teile von New Orleans überschwemmt wurden, wobei hunderte von Menschen starben, lag dem als Ursache zugrunde, dass seit 2003 praktisch keine Gelder mehr für den Erhalt der Deiche dieser zum großen Teil unter dem Meeresspiegel liegenden Stadt geflossen waren: Die Regierung von George W. Bush hatte die Gelder in den Irakkrieg umgeleitet – und in den Ausbau der „Homeland Security“, also der unter anderem geheimdienstlich operierenden ‘Terrorabwehr’.13
Durch Fehlallokation von Steuergeldern in Geheimdiensten wird das Leiden und Sterben von Menschen verursacht – die „Homeland Security“ schafft ein insecure homeland: ein sechster Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
007.
Die Geheimdienstaffäre des Sommers 2013 hat Aspekte, die wie aus einem schlechten, klischeehaften Drehbuch entsprungen wirken. Der US-amerikanische Staat, der als eine Variante von George Orwells „Big Brother“ kenntlich wird, fügt sogleich ein veritables Beispiel des „Neusprech“ hinzu, jener totalitär-verdummenden Sprachpolitik, die ebenfalls in Orwells Roman „1984“ vorgeführt wird. Der Whistleblower Edward Snowden, der die Totalüberwachung der Weltbevölkerung durch die staatlichen Geheimdienste bekannt gemacht hat, wird in seiner Heimat wegen „Spionage“ angeklagt. Also gerade weil er von seinem Spionage-Job die Nase voll hat und indem er sich also von der Spionage abwendet, soll er sich derselben schuldig gemacht haben. Das ist eine Beleidigung des Verstandes. Die klandestine und antidemokratische Logik der Geheimdienste gefährdet nicht nur die politischen und privaten Freiheiten der Menschen, sondern auch die Grundlagen einer aufgeklärten Kultur, und zwar bis in die Sprache hinein. Diese kulturelle Verblödung ist ein siebter Grund, diese Organisationen abzuschaffen.
X.
Und der andere berühmte Whistleblower dieser Tage, Bradley Manning, der in großem Umfang Kriegsverbrechen des US-Militärs im Mittleren Osten publik gemacht hatte, stand zur gleichen Zeit wegen „Unterstützung des Feindes“ vor einem Militärgericht – auch ein Fall von „Neusprech“. Manning hatte die vertraulichen Informationen bekanntlich nicht heimlich an Osama bin Laden oder sonst irgendwelche Terroristen geliefert, sondern der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis gebracht. In dieser zunächst absurd erscheinenden Anklage steckt am Ende vielleicht mehr Wahrheit, als ihre VertreterInnen wahrhaben wollen; denn Manning hat tatsächlich den Feind dieser Staatsraison unterstützt: eine aufgeklärte Zivilgesellschaft.
Jetzt sehen wir auch besser, gegen wen der „War on Terror“ eigentlich geführt wird: gegen uns. Es wird Zeit, die Institutionen, die diesen Krieg führen und damit permanent unsere Sicherheit gefährden, abzuschaffen. Die DDR-Widerstandsbewegung hat 1989/90 gezeigt, wie so etwas geht.14
Rüdiger Haude
(verfasst am 6.8.2013)
Anmerkungen:
- http://futurezone.at/netzpolitik/16573-haben-durch-prism-50-anschlaege-verhindert.php
- www.faz.net/aktuell/politik/nsa-abhoeraffaere -friedrich-kehrt-mit-leeren-haenden-zurueck-12281042.html
- www.nytimes.com/2012/04/29/opinion/sunday/terrorist-plots-helped-along-by-the-fbi.html?pagewanted=all&_r=1&
- www.heise.de/ix/artikel/Das-Supergrund recht-Update-1919743.html
- Zitiert nach: http://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Peter_Uhl#Internetsperren
- www.welt.de/politik/deutschland/article 118110002/Friedrich-erklaert-Sicherheit-zum-Supergrundrecht.html
- www.heise.de/newsticker/meldung/Spurensuche-nach-dem-Supergrundrecht-1920113.html
- Westdeutsche Zeitung, 29.7.2013, S.4: „Wahnhafte Züge“.
- Vgl. als weiteren Beleg hierfür die von mir verfasste frappierende Fallstudie über den CDU-Hardliner Jörg Schönbohm: www.graswurzel.net/324/schoenbohm.shtml
- www.spiegel.de/international/world/spiegel-commentary-on-us-internet-surveillance-a-911256.html
- www.zeit.de/politik/ausland/2010-10/cia-spionage-etat
- www.zeit.de/news/2013-07/01/geheim dienste-hintergrund-wer-hoert-wen-ab—was-kann-man-dagegen-tun-01205219
- www.pensitoreview.com/2005/08/31/bush-diverted-levee-building-funds-to-iraq/ Vgl. auch Rüdiger Haude: Das Versinken der Stadt New Orleans; www.graswurzel.net/302/neworleans .shtml
- Zur Anregung lese man das Telegramm des Erfurter Stasi-Chefs, Generalmajor Schwarz, vom 04.12.1989: www.bstu.bund.de/DE/Wissen/DDRGeschichte/Revolutionskalender/Dezember-1989/Dokumentenseiten/04-Dezember_b/04_dez_b_text.html?nn=1930566
Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 381, September 2013, www.graswurzel.net
KASTEN:
Whistleblower, Presse und Staat – einst und jetzt
Vor 50 Jahren – am 7.2.1963 – kam der Chefredakteur und Herausgeber des „Spiegel“, Rudolf Augstein, nach 103 Tagen Haft aus dem Gefängnis frei. Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer und Franz-Josef Strauß war mit dem Versuch gescheitert, durch Instrumentalisierung der Justiz ein unabhängiges und unbequemes Presseorgan mundtot zu machen. „Der Spiegel“ hatte zuvor darüber berichtet, dass die Bundeswehr nach Ansicht der NATO nur „bedingt abwehrbereit“ sei. Diese Enthüllung erschien der Bundesregierung als „Landesverrat“. Die Redaktionsräume der Hamburger Wochenzeitung waren wochenlang durch die Polizei besetzt. Aufgrund dieses prädemokratischen Verhaltens kam es in der BRD zu einer Solidarisierungswelle der kritischen Öffentlichkeit. Franz-Josef Strauß musste schließlich als Verteidigungsminister zurücktreten. Die „Spiegel-Affäre“ trug maßgeblich zur relativen Zähmung des Obrigkeitsstaats BRD bei.
Vor 40 Jahren – 1973 – erhielten die „Washington Post“ und ihre zwei Journalisten Bob Woodward und Carl Bernstein den Pulitzer-Preis für „Dienst an der Öffentlichkeit“. Sie hatten maßgeblich zur Aufdeckung der „Watergate-Affäre“ beigetragen, die aus einer Reihe krimineller Akte der US-Regierung von Richard Nixon bestand – am bekanntesten die versuchte Ausspionierung der Parteizentrale der konkurrierenden Demokratischen Partei durch Abhörwanzen des Weißen Hauses. Ein FBI-Whistleblower hatte den Journalisten entscheidende Informationen zugespielt. 1974 musste Richard Nixon aufgrund der Enthüllungen der Regierungskriminalität zurücktreten.
Heute – im Sommer 2013 – hat sich die Welt geändert. Bradley Manning, der viele Kriegsverbrechen der USA in Afghanistan und im Irak publik machte, wird zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt, während die Mörder und Folterknechte, deren Taten er enthüllte, unbehelligt bleiben. Edward Snowden, dem wir die Einsicht verdanken, dass die Stasi überwachungstechnisch ein Kindergeburtstag war, verglichen mit der heutigen Praxis im „freien Westen“, wird von den USA quasi für vogelfrei erklärt. Agenten des britischen Geheimdiensts GCHQ erscheinen in den Räumen der linksliberalen Tageszeitung „The Guardian“ und zwingen die MitarbeiterInnen, Computer-Festplatten zu zerstören. Der „Guardian“ hatte sich an der Verbreitung der von Snowden öffentlich gemachten Informationen über Regierungsverbrechen beteiligt. Weder der für diesen Akt des staatlichen Vandalismus verantwortliche britische Premierminister Cameron, noch der US-Präsident Obama, der die Verwandlung seines Landes in ein Überwachungs-Monstrum auch noch öffentlich verteidigt, scheinen zum Rücktritt genötigt zu werden. Die von Manning geouteten Joystick-Helden, die sich am Totschießen mittelöstlicher Zivilisten aufgeilen, dürfen weiter ihrem Mordhandwerk nachgehen.
Skandale sind offenbar nicht mehr, was sie mal waren. Die Whistleblower – echte Helden, wenn dieses Wort denn überhaupt einen positiven Klang haben soll – riskieren heute nicht nur gnadenlose Verfolgung durch die betroffenen Staaten, sondern auch die Folgenlosigkeit ihres Tuns. Eigentlich wären wir verpflichtet, das zu verhindern!
Leonie Felix
Artikel aus Graswurzelrevolution Nr. 381, September 2013, www.graswurzel.net