Willy Brandt: "EFTER SEGERN. Nach dem Sieg"

„EFTER SEGERN. Nach dem Sieg. Die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele“
by
Willy Brandt
Publisher:
Campus Verlag
Published 2023 in
Frankfurt/New York
247 Seiten
pages
Price:
29,00 Euro

Die Menschen machen ihre eigene Geschichte;
aber sie machen sie nicht aus freien Stücken,
nicht unter selbstgewählten,
sondern unter unmittelbar vorgefundenen,
gegebenen und überlieferten  Umständen.

Karl Marx

Fast Tag genau vor zehn Jahren erschien ein fein ausgestatteter Band „Das musst du erzählen, Erinnerungen an Willy Brandt“ von Egon Bahr. Das war zwar sein Buch mit Gedanken und Erinnerungen, wirkte aber doch als eine Art Schlussbilanz anlässlich der zunehmend auch kritischen Würdigungen Brandts zu dessen 100. Geburtstag.
Darin diese Charakteristik: „Sein Lebensweg und sein innerer Kompass hatten ihm die bleibende Lehre erteilt: ‚Entweder oder‘, ‚Freund oder Feind‘ sind bühnenwirksam oder diktatorengemäß, aber nicht einmal nach einer bedingungslosen Kapitulation ratsam. Und schon gar nicht, wenn man solide demokratische Erfolge erreichen will. … Brandt lehnte es immer ab, an geschichtliche Unabwendbarkeiten zu glauben. Zu verkünden, diese oder jene Entscheidung sei alternativlos, hätte er als politisches Armutszeugnis betrachtet.“
Dieser Tage kommt eine kompakte Broschur auf den Markt, an der man auch dieses Urteil prüfen kann, freilich unter ganz anderen Umständen: Willy Brandt als Autor von „EFTER SEGERN – Nach dem Sieg, die Diskussion über Kriegs- und Friedensziele“; abgeschlossen im März 1944. Der Hintergrund: Seit 1931 war er Mitglied der links-sozialistischen SAPD und musste deshalb 1933 emigrieren (in einem Fischerboot nach Dänemark). In Norwegen setzte er dann seine politische Arbeit fort und konnte dies zunehmend erfolgreich mit journalistischer Betätigung  verbinden. Infolge deutscher Besetzung Norwegens musste er nach Schweden ausweichen, wo er nicht interniert wurde, da ihm die norwegische Staatsangehörigkeit verliehen worden war. Dieser Standort eröffnete ihm die Möglichkeit, im neutralen Land  außerordentlich viele Quellen zu nutzen und vielfältig zu verwerten. Eine Frucht dessen war diese umfang- und inhaltsreiche  Dokumentation mit Prognosen hinsichtlich der Beendigung des Krieges durch den Sieg der Alliierten und den Folgen europa- und weltweit, vor allem aber für und in Deutschland.
Erstaunlicherweise hat Brandt in seinen späteren Werken mit biographischem Bezug kaum darauf verwiesen und die Wissenschaft begnügte sich mit partieller Nutzung, so dass erst jetzt das Manuskript in Gänze und Deutsch vorliegt. Aus dem Norwegischen  übersetzt, kommentiert und eingeleitet ist das Werk von Einhart Lorenz (Oslo); optisch und inhaltlich hervorzuheben sind die von ihm und  durch das Lektorat sorgsam und umfänglich eingefügten Fußnoten.
Für den Interessenten mit Neigung und Muse aus der Blättchen-Gemeinde eröffnet sich die Gelegenheit, mit dem Herausgeber und einigen Wissenschaftlern direkt darüber zu sprechen: Das „Forum Willy Brandt“, Behrenstraße 15 in Berlin, lädt mit Voranmeldung zur öffentlichen Buchvorstellung am 9. Mai ein. Vorab dazu ein Satz zur Einschätzung des Herausgebers, die Veröffentlichung biete „allen Brandt-Forschern einen weiteren Zugang zum geistigen Werdegang des Autors“. Solches Nutzungsangebot mag die Absicht sein; viel bedeutender scheint mir das politische Anliegen, insbesondere im Hauptteil „Das deutsche Problem“, was nach dem Waffenstillstand – und von wem! – zu tun sei. Also eine Anleitung zum praktischen Handeln. So zum Beispiel seine  Analyse, welche gesellschaftlichen Kräfte im Volke real nutzbar sind  – oder eben nicht. Oder die häufige Betrachtung von Bildung, verbunden mit der Umwertung als Folge der Niederlage und der damit verbundenen Notwendigkeit und den Möglichkeiten zur Vermittlung  demokratischer Werte als ein Ziel.
Zweck und Nutzen der Arbeit erklärt der Autor als Beobachter, Analytiker und Verwerter so:  „Nun, da die Niederlage des Nazismus naht, kann man sich guten Gewissens nicht nur mit der Frage beschäftigen, wie der Krieg militärisch gewonnen, sondern auch, wie ein dritter Weltkrieg verhindert werden kann. … Die Absicht ist nicht, die Zahl privater Pläne zur Rettung der Welt um ein weiteres Exemplar zu erhöhen. Ich habe mich damit begnügt, eine Übersicht über die internationale Debatte zu den Kriegs- und Friedenszielen zu liefern. Der Standpunkt des Autors und seine Einschätzung dessen, was wesentlich ist, spielt natürlich eine Rolle bei der Auswahl und Präsentation des Materials. Er ist sich auch darüber im Klaren, dass der Abstand zwischen dem, was man zu erreichen sich wünscht, und dem, was erreichbar ist, noch übertroffen werden kann durch die Unterscheidung zwischen dem, mit dem man heute rechnet, und dem, was faktisch das Resultat des Krieges sein wird.“
Bei solcher Draufsicht dürfte nicht überraschen, dass sich bei seiner Beschreibung der Veränderungen und Zufälligkeiten praktisch eine „neue Karte Europas“ darbietet, wobei vieles noch weiterhin in Bewegung bleiben dürfte. Das veranlasst ihn, sowohl die jeweilige Entstehungsgeschichte als auch die aktuellen Positionen vor Ort und/oder bei den emigrierten Regierungen zu benennen und unmissverständlich zu bewerten. Hier als Beispiel: Der Autor bekundet Verständnis für polnische Ideen, dem deutschen „Drang nach Osten“ endgültig durch ein Großpolen von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zu begegnen; aber er begründet, dass dies weder nach Kriegsende durchsetzbar sein wird, noch dass dies eine dauerhafte Lösung für Nachbarn, für Europa, noch für Polen selbst wäre.
Hervorzuheben ist für die gesamte Schrift der Duktus: Möglichst nahe am jeweiligen Sachverhalt, aber ohne Taktieren oder demonstrative Emotion. Das gehört eindeutig zu den Vorzügen gemäß der Arbeitsmethode „Argumentation durch Tatsachen“. Das gilt auch für den sich andeutenden Kernbereich: Wie weiter mit der Sowjetunion? In diesem Text findet sich jedenfalls keinerlei Stigmatisierung oder prognostische Andeutung dafür, wenngleich der Antikommunismus in den nordischen Ländern trotz aktueller Sympathie für die Sowjetunion virulent war.
Möglicherweise ist diese Zurückhaltung aber auch dem Umstand geschuldet, dass Brandt die politische Gemengelage als reif für eine „Revolution“ in Europa hielt. Er benutzt den Begriff offenbar auch für eine von ihm erwartete Eruption in Deutschland als Aufbruch aus den kapitalistischen Widersprüchen, die in seiner Lesart auch den mit solchen Opfern zu Ende gehenden „Sieg-Krieg“ mit verursacht hätten: „Hinter dem Schlagwort, dass Deutschland niedergehalten werden sollte, verbirgt sich auch heute bei vielen der Wunsch, die deutsche Revolution in Schach zu halten.“
Dazu passt seine Fragestellung, wie sich die USA entscheiden würden. Weitere und zusätzlich andere materielle Unterstützung für den Partner Sowjetunion, oder Ausnutzung deren Schwäche. Wobei es bei dieser Entscheidung auch darum ginge, ob die USA sich in Europa direkt, unmittelbar fest etablieren oder die Sicherung des Kapitalismus gegen die vernutete „Revolution“ und zwecks Kontrolle der Sowjetunion einer zu schaffenden Gruppe von Hauptmächten vor Ort zuordnen werden. Dass es in Europa – unabhängig von amerikanischen Interessen – zu föderativen Strukturen kommen müsse, wird sachlich begründet und ist offenbar auch besonderes Anliegen des Autors aus doppeltem Grund: Um Aufbau und Wohlfahrt für alle Staaten zu erreichen und macht-strategisch, um ein langsam erstarkendes Deutschland einzuhegen.
Also ein Grundgedanke, der später zur Begründung der NATO beitrug. Ob die verkündete Teilbegründung ernst gemeint war oder mehr als Vorwand für dies Militärbündnis gegen den potentiellen Feind „Sowjetunion/Russland“ diente, bleibt hier unerörtert. Seinerzeit musste sich Brandt aber auch mit der Konzeption auseinandersetzen, dass es für das anvisierte Europa auch günstig wäre, Deutschland und die Sowjetunion „außen vor“ zu lassen. Wurde damit die Erinnerung an Rapallo beschworen?  Vermutlich nicht. Die von Brandt angeführte Begründung lautet: Deutschland außerhalb der angestrebten europäischen Gemeinschaft zu halten, konnte so als Sanktion wirken; die Sowjetunion wiederum habe ihre Landmasse weitgehend außer Europa und gehöre deshalb nicht dazu. Dieser Aspekt wurde erneut auch noch bei der Vorbereitung von „Helsinki“, also noch 30 Jahre später in die Diskussion eingeführt. Durch die Beteiligung der USA und Kanadas als „Außer-Europäische“ war dieser Vorhalt mehr als ausgeglichen und damit gegenstandslos.
Spätestens an diesem Beispiel wird offenbar, dass es bei Brandt Sachbezüge und Argumente gibt, die nach 80 Jahren bis in die Gegenwart hineinreichen, in Sonderheit bei seiner Hauptrubrik „Kollektive Sicherheit“ mit Darlegungen zu den häufig verschobenen Grenzen und den Auswirkungen für die Bevölkerungen. Sein Fazit: Auch siegreiches Kriegsende ermöglicht keineswegs die Auflösung aller nationalen Probleme, selbst wenn es relativ redlich dabei zuginge. Hier findet sich also auch eine Ursache für seine  spätere „neue Ostpolitik“, wodurch  auch allerlei repariert wurde; ein Aspekt, der gegenwärtig durchweg außer Acht gelassen wird.
Fragt jemand, ob dieser Reprint nützlich ist? Ich bedauere nur, diese Schrift nicht schon um 1970/72 zur Verfügung gehabt zu haben, und befürchte, dass diese Unkenntnis flächendeckend sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik herrschte. Ich vermute jedoch, dass man in Moskau davon Kenntnis hatte. Das persönliche Verhältnis von Breshnew/Andropow zu Brandt und dessen Politikwahrnehmung, mit Vertrauen ohne in Kameraderie zu verfallen, scheint dafür zu sprechen.
Was kann und soll man zu einem politisch-strategischen Werk mit starker Kennzeichnung des Autors sagen, das vor 80 Jahren als persönliche Positionsbeschreibung und Auseinandersetzung mit den Notwendigkeiten zu Ende des Krieges und dem Neu-Beginn veröffentlicht wurde? Es wäre albern, die damaligen Aussagen, Annahmen und Prognosen am hier und heute, mit oder ohne Ereignissen dazwischen, zu messen. Zumindest  wären dabei mehrere Zeitenwenden zu bedenken; etwa das „sozialdemokratische Jahrzehnt“ mit unbestreitbar günstigen Ergebnissen, die freilich den Fußabdruck von Brandt tragen und dennoch im aktuellen „sozialdemokratischen Jahrzehnt“  aus der Geschichte Deutschlands und der SPD getilgt werden. „Tempora mutantur“ – den Rest des Satzes lassen wir mal offen.