70 Jahre Vergessen

in (23.06.2008)

Das "Gedenkjahr 2008" ging im Fußballtrubel ziemlich unter. "Frauen 1938" macht sichtbar, was seit siebzig Jahren im Verborgenen bleibt: Frauen als Verfolgte, Widerständige und Täterinnen.

"Unzählige Male sind wir der Opfer des Dritten Reiches eingedenk, und auf Zehenspitzen schleichen wir uns von ihnen wieder davon." So beginnt Elfriede Jelineks Beitrag. Sie macht keinen Hehl daraus, was sie von "Gedenkjahren" hält: "Das geht ganz leicht: im lauwarmen Strom der Gedenkfeiern mitschwimmen und sich irgendwann an einen warmen Strand retten, wo man wieder ganz bei sich zu Hause sein kann."
In diesem Band haben sowohl Jelineks gewohnt schonungslose Kritik Platz als auch Interviews mit überlebenden Opfern des Nationalsozialismus, denen gerade das Gedenken und ständig in Erinnerung rufen das Wichtigste ist. "Die Opfer haben als einzige das Recht zu vergessen", sagt Elfriede Gerstl. Die Schriftstellerin und Überlebende gab für dieses Buch eines ihrer wenigen Interviews zur Vergangenheit.
Neben weiteren Zeitzeuginnen und Überlebenden werden die verschiedenen Aspekte zu "Frauen 1938" von HistorikerInnen und Literatinnen aufgearbeitet: Von Ingrid Bauer, die Widerstand und Alltagsdissens von Frauen beispielhaft darstellt, über Helga Embachers Darstellung österreichischer Frauen im Exil bis zu literarischen Beiträgen von Elfriede Gerstl und Sabine Gruber. Dazwischen ein sehr persönlicher und berührender Text der AUF-Redakteurin Eva Geber über die Beziehung zu ihrer Mutter. Diese Mischung in Form und Inhalt macht diesen Sammelband so aufregend.
Der "vorauseilende Gehorsam den neuen Machthabern gegenüber" sei in Österreich besonders stark ausgeprägt gewesen, schreibt Herausgeberin Evelyn Steinthaler. Auch unter Frauen gab es Verfolgte und Verfolgerinnen. Deshalb sollte das Buch einen Blick auf unterschiedliche weibliche Schicksale nach dem "Anschluss" an Nazi-Deutschland werfen - auf verfolgte Jüdinnen und Romni, auf Kärntner-slowenische Partisaninnen, auf Emigrantinnen, auf Täterinnen. Zahlreiche Opfergruppen müssen unerwähnt bleiben, etwa zwangssterilisierte Frauen oder lesbische Frauen oder jene, die in Lagerbordellen zur Prostitution gezwungen wurden. Das Forschungsfeld ist riesig und die Aufarbeitung hat erst begonnen.
Besonders spannend ist der häufige Blick auf traditionelle Geschlechterrollen, die sich für viele Frauen in unterschiedlichen (Über)Lebenssituationen sehr verändert haben. Frauen im Widerstand beispielsweise kamen die traditionellen Geschlechterrollen sogar zugute, weil sie unauffälliger agieren konnten und lange Zeit nicht als "bedrohlich" galten. Dabei zeugen gerade die Beispiele von Widerstand im Alltag von grenzenloser Kreativität: Die Eine verließ das Haus prinzipiell nur mit zwei Einkaufssackerln in den Händen, was den Hitlergruß unmöglich machte. Die Andere murmelte statt "Heil Hitler" "drei Liter", um den Gruß vorzutäuschen. Solche Erzählungen bringen Ingrid Bauer zur Conclusio, dass "die Vereinnahmungskraft selbst totalitärer Systeme ihre Grenzen hat", denn es gibt "Spielräume des non-konformen Verhaltens im Alltag". Und diesen Alltag haben - nicht nur 1938 - Frauen bestimmt. Bei Ehepaaren im Exil kehrte sich die Rollenverteilung oftmals um, weil es meist die Frauen waren, die flexibler waren bei der Annahme unterqualifizierter Jobs. Und plötzlich waren sie die "Ernährerinnen", womit so mancher Mann schwer zu kämpfen hatte. Umso erstaunlicher ist es, wie schnell die Rollenverteilung nach dem Krieg und nach der Rückkehr wieder umgedreht wurde. (vgl. Interview mit Evelyn Steinthaler S. 16f)
Die Herausgeberin berichtet, dass es bereits sehr schwierig ist, Zeitzeuginnen aufzutreiben, die sowohl erzählen wollen als auch noch können. Diese letzten Chancen in den kommenden Jahren müssen genutzt werden. Noch immer gibt es Frauen, die viel erlebt haben und damit nun auch an die Öffentlichkeit gehen wollen, der Milena-Verlag kündigt etwa für Herbst ein Buch der Überlebenden Vilma Neuwirth an.

Evelyn Steinthaler (Hg.): Frauen 1938. Verfolgte - Widerständige - Mitläuferinnen. Milena 2008, 21,90 Euro

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at