"… der letzte Augenblick"

in (23.06.2008)

Evelyn Steinthaler, die Herausgeberin des jüngst erschienenen Sammelbands "Frauen 1938", im Interview über das Jahr 1938 als Zäsur für Frauen und warum ein Gedenkjahr allein nicht reicht.

an.schläge: Was hältst du von Gedenkjahren? Bringt das was?

Evelyn Steinthaler: Es bringt was, aber viel zu wenig. Das heurige Jahr ist sowieso sehr schwierig: Die EURO 08 ist schon das ganze Jahr so präsent, dass alles anderen untergeht. Es hat für mich auch kein richtig offizielles Gedenken gegeben - außer den Sondersitzungen im Parlament und der alljährlichen Gedenkveranstaltung in Mauthausen. Mir fehlt etwa, dass der 5. Mai, der Tag der Befreiung von Mauthausen, ein Feiertag ist. Das wäre ein Zeichen, das die Republik setzen müsste. Es sind auch irrsinnig wenige Bücher herausgekommen - für mich ein klarer Fall von Desinteresse. Es ist natürlich leichter, einem Jahr zu gedenken, das super ist: 1945 Kriegsende, 55 Staatsvertrag. Bei 38 kann sich niemand auf die Schulter klopfen. Da ist das offizielle Gedenken umso schwieriger.

Was bedeutete das Jahr 1938 für Frauen in Österreich?

Es war ein klarer Umbruch. Obwohl es in den vier Jahren Austrofaschismus davor auch schon starke Einschränkungen gegeben hat. Mit der Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten ist dann aber eine komplett neue Zeit eingeläutet worden - im negativsten Sinne. Schon im März 1938 hat es die ersten Deportationen gegeben, das hat sofort begonnen. Und natürlich gab es auch genug Frauen, die Hitler zugejubelt haben.

Was hat sich schon im Austrofaschismus verändert für Frauen?

In den 1920er Jahren hat es ein relativ freies Frauenbild gegeben: sie haben sich engagieren dürfen, durften studieren. Frauen waren in der Sozialdemokratie sehr stark verankert. Die ist weggebrochen mit 33/34, dem Ausschalten des Parlaments und dem Verbot der Sozialdemokratie. Diese Frauen haben teilweise illegal weitergearbeitet, aber so engagiert, wie sie schon mal waren, konnten sie nicht mehr sein. Die Austrofaschisten haben sich am konservativen Frauenbild der Nationalsozialisten in Deutschland orientiert. Deshalb sind viele schon sehr früh emigriert, vor allem Frauen, die politisch aktiv waren und Probleme bekommen haben. Entweder sie sind weggegangen oder in die sogenannte innere Emigration.

Du schreibst in der Einleitung deines Buches, dass der "vorauseilende Gehorsam den neuen Machthabern gegenüber in Österreich besonders stark ausgeprägt war." Warum war das so?

Es gibt in unserer Gesellschaft dieses katholische, stark vaterorientierte Bild. Das ist tief verwurzelt, hängt sicherlich auch mit dem Absolutismus in der Monarchie zusammen. Wenn eine starke Männerfigur da ist, dann bewundert man sie eher, als dass man sie hinterfragt. Das hat man heute teilweise in den Medien gesehen beim Fall Amstetten: "Super, mit der eigenen Frau Kinder und mit der Tochter, toller Mann." Es ist erschütternd, dass in unserer Gesellschaft negative Männerbilder immer noch positiv wahrgenommen werden können. Und diesen gewissen vorauseilenden Gehorsam gibt es sicher immer noch bei uns, Zivilcourage ist nicht so stark ausgeprägt. 1938 wurde das insofern sichtbar, als Österreicherinnen und Österreicher bei der sogenannten "Judenhatz" besonders schnell waren. Sie waren mit den Arisierungen so schnell - sind in die Wohnungen hinein und haben ohne lange nachzufragen ausgeräumt -, so dass es aus Deutschland ein Gesetz geben musste, damit sie das etwas eindämmen, wie es in Österreich zugeht. "Reibpartien"1 hat es in Deutschland auch nie gegeben.

Es hat sehr lange gedauert, bis der Widerstand österreichischer Frauen in seiner ganzen Bandbreite wahrgenommen und gewürdigt wurde. Woran liegt das?

Weil Frauen von der Mainstreamforschung gerne als passiv abgestempelt werden. Frauen sind die Schuldlosen, waren nicht beteiligt - weder als Täterinnen noch im Widerstand, nur weil sie in den Hierarchien nicht so sichtbar waren. Ich glaube, die Forschung war so lange mit den wenigen Männern im Widerstand beschäftigt, dass sie den Blick einfach nicht hinbekommen haben bzw. waren Frauen vielleicht einfach nicht spektakulär genug. Und: Frauen haben eh keine Ahnung von Politik, haben also auch keinen Widerstand leisten können. Und wenn dann waren es die bösen Flintenweiber, wie die Kärntner Paritsaninnen auch nach dem Krieg noch abwertend bezeichnet wurden, vor denen man sich fürchten musste.

Wie weit ist man heute mit der Aufarbeitung dieser blinden Flecken?

Es ist noch immer viel zu machen. Der Philosoph Christian Dürr hat das auch in seinem im Buch veröffentlichten Text zu den Lagerbordellen in Mauthausen geschrieben. Er arbeitet im Innenministerium und sagt, dass jetzt erst damit begonnen wird, die nach Mauthausen deportierten Frauen zu erforschen. Eine der Zeitzeuginnen, mit denen ich gesprochen habe, Katharina Sasso, hat gemeint, es geht erst jetzt, weil die Tätergeneration nicht mehr da ist. Die wollten und konnten darüber noch nicht reden. Und natürlich hat sich Österreich auch lange das Opferbild auf die Brust geheftet.

Welche unterschiedlichen Rollen hatten Frauen im Widerstand?

Der Widerstand begann im Alltag. Viele Frauen sind etwa absichtlich mit zwei Einkaufstaschen außer Haus gegangen, damit sie nicht grüßen mussten. Und viele haben vehement mit "Grüß Gott" weiter gegrüßt. Und dafür konnte man schon ins Gefängnis kommen! Es ist großartig, dass viele Frauen im organisierten Widerstand waren, aber auch diese Kleinigkeiten sind nicht zu unterschätzen. Die Hand nicht zum Hitler-Gruß zu heben, oder BBC zu hören war schon sehr gefährlich. Dann hat es beispielsweise die Frauen der "Roten Hilfe" in Wien gegeben, die Lebensmittelmarken gesammelt und sie an die Familien von Inhaftierten weiter gegeben haben - auch eine Art von Widerstand. Dann gab es Frauen, die in der Küche Flugzettel abgezogen und sie verteilt haben. Immer unter Lebensgefahr! Viele Frauen, die in der Rüstungsindustrie gearbeitet haben, sabotierten die Produktion: Sie haben Luft in die Patronen gelassen, sie nicht richtig gefüllt. Und dann hat es Frauen gegeben, die im bewaffneten Widerstand waren - was es in Österreich eben in Kärnten gegeben hat. Je nachdem, welche Möglichkeiten die Frauen hatten, haben sie auch Widerstand geleistet. Wenn eine Frau in einem Dorf weit und breit keine Widerstandsgruppe gehabt hat und sie etwas tun musste, dann war es schon irrsinnig viel, das "Grüß Gott" beizubehalten.

Ingrid Bauer analysiert im Buch, dass traditionelle Geschlechterrollen Frauen sogar zugute kamen, weil sie im Widerstand unauffälliger agieren konnten und nicht als "bedrohlich" eingestuft wurden Â…

Mit den Frauenbildern wurde gespielt und sie wurden für den Widerstand benutzt. Und immer wieder unter Lebensgefahr, was mich so stark beeindruckt. Da hat es auch jüdische Gruppen gegeben, die sich im Exil als deutsche Mädel ausgaben und mit deutschen Soldaten angefreundet haben, um sie zu überreden zu desertieren. Da frage ich mich selber immer wieder, was ich getan hätte. Wäre ich mit zwei Einkaufstaschen auf die Straße gegangen? Hätte es für mehr gereicht, oder für gar nichts?

Für Frauen im Exil war es andererseits auch oft leichter, weil sie sich besser anpassen konnten, kein Problem damit hatten, unqualifizierte Jobs anzunehmen. Und die Männer hatten damit zu kämpfen, ihre Existenz als "Ernährer" zu verlieren. Und nach der Rückkehr aus der Emigration wurden die Rollen wieder umgekehrt?

Im Exil haben sich, gerade für sehr junge Frauen, im Vergleich zu den vorher sehr engen Strukturen, unglaubliche Freiheiten ergeben. Nach dem Krieg wurde das konservative Frauenbild aber wieder weiter getragen. Es hat nicht geheißen: Jetzt knüpfen wir bei den 1920er Jahren an und Frauen tragen Hosen und kurze Haare, sondern ein verstärkt konservatives Frauenbild, das ja von den Nazis propagiert wurde, blieb weiterhin aktuell. Wie die Frauen das geschafft haben, sich das wieder zurückzunehmen, ohne komplett verrückt zu werden, ist für mich etwas Unvorstellbares.

So gesehen war 1938 auch eine Zäsur, die etwas ermöglicht hat, wo man dann 45 wieder einen Rückschritt gemacht hat.

Es wurde nicht ermöglicht, es wurde eingefordert. Man hat sich konfrontieren müssen. Auch das Wegschauen war ein aktiver Akt. Meine Großmutter meinte: Sie hat gewusst, wo die Gestapo in Klagenfurt war, was sie dort taten, dass die Juden wegtransportiert wurden und dass das alles nichts Gutes verhieß. Man konnte nicht sagen: Das habe ich nicht gesehen. Was passiert ist, hat von jeder Einzelnen eingefordert, auch Position zu beziehen. Entweder machÂ’ ich was, oder ich machÂ’ nichts. Und wenn ich was mache: Was trauÂ’ ich mich? Und wenn ich mich gar nicht trauÂ’: Schaue ich dann weg oder schaue ich hin? Wie ertrage ich das alles?

Wie schwer war es heute - 70 Jahre später - Zeitzeuginnen aufzutreiben, die noch reden wollen und auch fit genug dazu sind?

Wahnsinnig schwer. Es gibt nur mehr ganz Wenige, die noch reden wollen und noch so gesund sind, dass sie sich an die ganze Geschichte erinnern können. Einige haben mich wissen lassen, sie wünschten mir viel Glück mit dem Projekt, aber sie könnten nicht mehr. Was ich auch verstehe. Ohne die Gespräche mit den Frauen, die auf so unterschiedliche Weise die Nazi-Zeit überlebt haben, wäre das Buch bei allem Engagement aber nicht möglich gewesen.
Ich habe Dagmar Ostermann im Sommer 2007 besucht und konnte das Interview fürs Buch führen. Drei Wochen später ist sie gestürzt und kam ins Pflegeheim. Der Sturz hat sie sehr verändert und ihr auch viel von dem unglaublichen Lebensmut genommen, den sie sich über ihre unfassbar schrecklichen Erlebnisse in Auschwitz hinaus bewahrt hat. Es ist erschütternd zu sehen, was Gebrechlichkeit mit einer macht. Die Gesprächssituation im Sommer mit Frau Ostermann war vielleicht wirklich sowas wie der letzte Augenblick.

1 Als "Reibpartien" wurde die systematische Demütigung der jüdischen Bevölkerung bezeichnet, die gezwungen wurden, Straßen und Fassaden zu putzen, zu reiben - unter öffentlichem Spott und Hohn.

Evelyn Steinthaler (Hg): Frauen 1938. Verfolgte - Widerständige - Mitläuferinnen. Milena 2008.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at