„Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin"

Eritreische Frauen auf der Flucht im griechischen Transit

Pagani liegt knapp 10 Minuten Autofahrt vom Hafen Mytilinis entfernt, der Hauptstadt der griechischen Ferieninsel Lesbos. Eigentlich ist Pagani der Name eines Vorortes von Mytilini, doch seit vergangenem Sommer ist es zum Sinnbild geworden für die humanitären Dramen in den Lagern und das in Kauf genommene Sterben an den Küsten der europäischen Außengrenzen. Pagani steht aber auch für die Beharrlichkeit und List, mit der viele Flüchtlinge und MigrantInnen trotz allem an ihr Ziel kommen.

 

„Das hier heißt nicht Lager, sondern Gefängnis!"

Das Flüchtlingsgefängnis mit der irreführenden Bezeichnung „Special Foreigners Hosting Centre" befindet sich in einem Gebäudekomplex, der zuvor als Warenlager diente. Die ursprüngliche Funktion ist unverkennbar. Die Tatsache ignorierend, dass eine Lagerhalle keine adäquate Unterbringung für Menschen bieten kann, werden dort alle Papierlosen zur Registrierung vom griechischen Staat in sogenannte administrative Haft genommen. Nach offiziellen Angaben für insgesamt 280 Menschen vorgesehen, wurden im Sommer 2009 etwa 1.000 Menschen darin festgehalten.

„Das war nicht das, was ich mir vorgestellt habe, wenn sie über Lager gesprochen haben. Das hier heißt nicht Lager, sondern Gefängnis!", beschreibt Lydia ihren Eindruck, die zu der Zeit über einen Monat in Pagani festgehalten wurde. Es gab mehrere Zellen, die al­lesamt dasselbe Bild boten: rund 200 Menschen auf engstem Raum eingesperrt. Eine der Zellen war für Frauen: „Eine Toi­lette und eine Dusche. Wir haben Unterleibschmerzen gehabt, weil wir so lange warten mussten, um auf Toilette zu gehen", erzählt Eden. „Stell dir das mal vor, du musst auf Toilette und vor dir stehen 50 Menschen in der Schlange." Eden war auch in Pagani inhaftiert. Im Herbst traf ich sie, Lydia und einige andere eritreische Frauen in Athen wieder. Acht von ihnen erzählten später in Interviews von den Erlebnissen und Erfahrungen, die sie auf dem Weg von Asmara nach Athen gemacht hatten. Kennengelernt haben wir uns in jenem Sommer in Pagani. Ich war wegen des No Border Camps1  auf Lesbos und habe als Übersetzerin das Projektteam des Ecumanical Refugee Program und Pro Asyl in das Lager begleitet und mit den Frauen gesprochen. „Es gab viele, die oft bewusstlos wurden und umfielen. Das war wegen der Hitze", erinnert sich Eden später bei einem Tee in ihrer Athener Wohnung. „Es war unheimlich heiß und das in einem Raum mit 300 Menschen. Überleg mal, der Atem von 300 Menschen. Kinder sind da drin, die auch krank wurden. Ältere Frauen wurden krank. Alle wurden krank." Der Eingang zur Frauenzelle be­fand sich im hinteren Teil des Lagers. Ein großes blaues Git­tertor verwehrte den Zugang auf den Hof und zu etwas frischer Luft. Allein die Kinder konnten unter den Gitterstäben rein und raus. Oft machten sie ein Spiel daraus, sich nicht von den PolizistInnen erwischen zu lassen. Zum Beispiel, wenn sie für ihre Mütter nasse Kleider an der gegenüberliegenden Wand zum Trocknen aufhängten. „Egal ob für Erwachsene oder für Kinder, es gab kein Recht auf medizinische Versorgung", sagt Ruth über Pagani. „Ich ge­be dir mal ein Beispiel. Ein kleines Mädchen hatte sich beim Spielen den Finger gebrochen [...] Sie war bei der Ärztin und kam wieder zurück und ihr ist nur ein Stück Holz wie von einem Tischbein da dran gebunden worden. Nach drei, vier Ta­gen meinten wir zu der Mutter, sie solle noch mal hingehen und fragen, ob sie das nicht richtig behandeln könnten, aber sie sagten ‚Du kommst nicht raus. Das wird schon von allein verheilen. Geh jetzt!‘. Das kleine Mädchen hatte einen ge­brochenen Daumen. Er ist wie­der zusammengewachsen, aber er ist schief. Du kannst es richtig sehen."

No Border Camp Lesbos 2 

Während des No Border Camps sorgte eine Videoaufzeichnung, zunächst auf Youtube veröffentlicht, für eine Skandalisie­rung des Flüchtlingsgefängnis­ses Pagani in den internationalen Medien. Darin dokumentieren inhaftierte Minderjährige mit einer während der Proteste eingeschmuggelten Kamera die unmenschlichen Haftbeding­ungen und fordern die sofortige Freilassung aller Flüchtlinge. Innerhalb Paganis kam es zu Hungerstreiks und Revolten. Außerhalb organisierten kurz zuvor aus Pagani entlassene Flüchtlinge gemeinsam mit dem No Border Camp Protestaktionen. Flüchtlinge und MigrantInnen, die gerade erst während der Camptage an den Küsten von Lesbos angekommen waren, nahmen nicht nur an diesen Ak­tionen teil, sondern sorgten da­für, dass das europäische Grenzregime eine Zeitlang praktisch außer Kraft gesetzt wurde. Statt festgenommen, in Pa­gani inhaftiert und registriert zu werden, nahmen sie die Infrastruktur des No Border Infopunkts in Anspruch, welcher neben dem Sitz der Inselpräfek­tur an einer der exponiertesten Stellen Mytilinis errichtet worden war. Vor allem an diesem legendären Info-Zelt kam es zu einer Neuverhandlung von Identitätspolitiken, welche die scheinbar eindeutigen Trennlinien zwischen AktivistIn, Mi­grantIn und Flüchtling unscharf werden ließen. Noch während des No Border Camps kam es zu der Freilassung von rund 500 Menschen. Zudem wurde für die Jugendlichen und Frauen mit Kindern ein offenes Lager nahe dem Flughafen von Mytilini zur Verfügung gestellt. „Ich bin einfach ganz früh aus dem Lager raus und erst spät abends, bevor die Tür zu gemacht wurde, wieder zurück", erzählt mir Na­thaniel in Athen. Er war einer der Minderjährigen, die von Pagani nach Pikpa, dem offenen Lager transferiert worden waren. „So haben die nicht meine Fingerabdrücke nehmen können. In Pagani hatten sie einige von uns noch nicht registriert. In dem neuen Lager haben sie das nachgeholt. Aber ich war immer weg, den ganzen Tag in der Stadt mit euch." Kurz nach dem Ende des No Border Camps wurde Pikpa wie­der geschlossen. Die neu angekommenen Flüchtlinge wurden wieder in das Flüchtlingsgefängnis Pagani gesperrt. Allerdings hatte die unverhoffte Liaison zwischen Flüchtlingen, transnationalen AktivistIn­nen und MigrantInnen mit der Forderung der sofortigen Schließung Paganis ihre Spuren hinterlassen. Noch Wochen nach dem No Border Camp hielten die Revolten an und machten es unmöglich, das Lager weiter in Betrieb zu halten. Nachdem der stellvertretende Minister für Bürgerschutz Spy­ros Vougias am 22. Oktober 2009 gemeinsam mit einer UN­HCR-Delegation Pagani einen Besuch abstattete, wurde die Schließung Paganis offiziell an­gekündigt.

„Jetzt geht es nur ums Rauskommen aus diesem Land"

Eden, Lydia, Ruth, Nathaniel und viele andere EritreerInnen, die in Pagani und anderen  Flüchtlingsgefängnissen waren, haben Griechenland bereits verlassen. Als ich Ruth vor ihrer Abreise aus Athen nach ihren Plänen für die Zukunft fragte, sagte sie: „Ich habe niemanden in Europa. Ich mache das alles allein. Und ich mache das, damit ich arbeiten kann, wenn ich angekommen bin. Nicht um mich zu verkriechen." Rahwa hatte ähnliche Pläne: „Jetzt geht es nur ums Rauskommen aus diesem Land. In diesem Land bringt alles nichts, ob du einen Asylantrag stellst oder nicht, du kannst weder hier weg noch arbeiten, du hast keine Rechte, gar nichts." Abgesehen von einer Anerkennungsquote, die bei knapp über Null liegt, gibt es in Griechenland kein Aufnahmesys­tem für Asylsuchende. Deshalb möchte keine der Frauen ihren Antrag in Griechenland stellen. Die Situation von Sella, die be­reits seit mehr als einem Jahr ohne Papiere in Athen lebt, ist exemplarisch für Flüchtlinge, die nach Europa kommen: „Ich hab ja meine Fingerabdrücke abgeben müssen (...) es ist sehr schwierig für mich, in irgendein Land weiterzureisen." Nach der Dublin II-Verordnung,welche die Zuständigkeit für Asylverfahren innerhalb Eu­ropas regelt, gilt, dass ein Asylantrag in dem als erstes betretenen EU-Land bearbeitet werden muss. So bestand die größte Sorge der Frauen vor ihrer Abreise darin, dass sie nach Griechenland zurück abgeschoben würden, falls ihre Fingerabdrücke, die sie im Lager abgeben mussten, in der europäischen Datenbank EURO­DAC auftauchten. Durch Dublin II sind die Länder an den EU-Außengrenzen für die Bearbeitung eines Großteils der Asylgesuche zuständig. So sind überfüllte und menschenunwürdige Lager wie Pa­gani eine logische Konsequenz aus der Verweigerung der Kernländer der EU, ihrer Verantwortung gegenüber Schutzbedürf­tigen nachzukommen. Diese Verantwortung, zu der sich alle EU-Staaten mit der Ratifizierung der Genfer Flücht­lingskonvention verpflichtet haben, wird durch Dublin II an Länder wie Griechenland, Zypern oder Malta abgetreten. Griechenland hat den anderen Mitgliedstaaten gegenüber schon mehrfach seine Überforderung betont und Solidarität eingefordert. Dass die Situation für Flüchtlinge in Griechenland unzumut­bar ist, zeigen auch die Eilent­sch­eidungen des Bundesverfassungsgerichts. Mehrmals sprach es Asylsuchenden einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Überstellung nach Griechenland zu. Die Entscheidung wurde jedes Mal mit der Überbelastung des griechischen Asylsystems begründet, die dazu führe, dass der Zugang zu einem fairen Verfahren nicht mehr garantiert sei. Es ist offensichtlich, dass die Dublin-II-Regelung eine zusätzliche Barriere für Flüchtlinge darstellt, ihr Recht auf Asyl wahrzunehmen. Alle Frauen, die ich in Pagani kennengelernt habe, sind mitt­lerweile in unterschiedlichen europäischen Ländern angekommen und haben einen Antrag auf Asyl gestellt. Kaum zwei Wochen nach unserem Abschied in Athen rief mich Rahwa an: „Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin. Morgen habe ich das Interview und dann mal sehen." Zurzeit werden weiterhin Menschen, die an der Küste von Lesbos ankommen, festgenommen und für einige Tage in Pa­gani untergebracht, um wenig später zur Nachbarinsel Chios gebracht zu werden, die eben­falls über ein Flüchtlingsge­fängnis verfügt. Ob ein neues Lager eröffnet wird, ob es ein offenes oder geschlossenes sein wird oder ob lediglich Pa­gani „renoviert" und wiedereröffnet wird, ist bisher unklar. In jedem Fall trägt das Flücht­lingsgefängnis Pagani die Spuren einer erfolgreichen Revolte. Eine Revolte vieler, die darin eingesperrt waren und heute dennoch in einem europäischen Land ihrer Wahl angekommen sind.

Aida Ibrahim

Aida Ibrahim studiert Afrikanistik und Politikwissenschaften in Hamburg. Sie ist Mitglied im  Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung.

Anmerkungen:

1 Das No Border Camp fand vom 25. bis 31. August 2009 auf Lesbos statt. Von europaweit vernetzen antirassistischen Zusammenhängen auf die Beine gestellt, stand bei diesem Camp vor allem die Kritik an der Inhaftierung und den Haftbedingungen von Flüchtlingen und MigrantIn­nen im Mittelpunkt sowie die rassistische Praxis an den Küsten Griechenlands durch die Küs­tenwache in Zusammenarbeit mit FRONTEX. Da­rüber hinausgehend kritisiert die No Border Bewegung allgemein die Menschenleben riskierende Europäische Migrations- und Flüchtlingspolitik an den Grenzen Europas und stellt die Legitimität der Existenz von Grenzen generell in Frage. 2 Siehe auch die Texte Shut down pagani! Azadi!  von der Gruppe transact! und  'Azadi' bedeutet Freiheit vom No Border-Aktivisten Bernd Kas­parek. Beide bieten lesenswerte Zusammenfassungen und Reflektionen der Geschehnisse während des No Border Camps. Zu finden unter http://transact.noblogs.org und http://www.hinterland-magazin.de/

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 347, März 2010, www.graswurzel.net