Gewalt zu Hause

Frauenhäuser retten Leben – auch in Mexiko

»Ich wusste nicht wohin«, sagt Daniela. Ihr Ex-Partner missbrauchte sie und ihre Tochter psychisch und physisch und drohte letztlich, sie umzubringen. Ihr gelang die Flucht in ein Refugio para Mujeres (Frauenhaus), wo sie mit ihrer Tochter über drei Monate lebte.

Für die einen sind die eigenen vier Wände der sicherste Ort der Welt – für die anderen, wie für Daniela, ein Ort der Gewalt. Diese gegensätzlichen Bedeutungen traten während der Covid-19-Pandemie besonders deutlich zu tage. »Quédate en casa« – »Bleib zu Hause« hieß es im März 2020 in Mexiko, wie in vielen anderen Ländern. In der Pandemie wurde das Zuhause einmal mehr zum sicheren Ort stilisiert. Doch schon wenige Wochen nach Beginn der Lockdowns häuften sich weltweit die Berichte über einen sprunghaften Anstieg von häuslicher und sexualisierter Gewalt sowie Feminiziden. In den ersten Monaten des Lockdowns in Mexiko, wo Gewalt gegen Frauen, Inter-, und Transpersonen ohnehin immense Ausmaße annimmt, verzeichneten viele Hilfestellen im Vergleich zum Vorjahr fast doppelt so viele Hilfsgesuche von Gewaltbetroffenen. Auch die Dunkelziffern werden für die Pandemie höher geschätzt. Aktivist*innen sprachen von einer »Pandemie in der Pandemie«.

 

Wo der Staat versagt

Der Zusammenhang zwischen häuslicher Isolation und patriarchaler Gewalt und Missbrauch ist nicht zufällig, darauf verweisen Feminist*innen schon seit Jahrzehnten. Die vorherrschende Trennung des öffentlichen und privaten Raums ist ein Grundpfeiler patriarchaler Macht. Die häusliche Sphäre wird zur Privatsache erklärt, zum Ort der vermeintlichen Sicherheit, wo die unbezahlte und meist unsichtbare Hausarbeit verrichtet wird. Der öffentliche Raum ist klar davon getrennt, und gleichzeitig an der männlichen Norm ausgerichtet. Patriarchale Machtverhältnisse reproduzieren sich in dieser räumlichen Zweiteilung. So kann das Zuhause zum Ort unmittelbarer psychischer und körperlicher Machtausübung werden.

Daniela konnte in einem Frauenhaus unterkommen – welche andere Alternative hätte es für sie gegeben? Wahrscheinlich keine. Denn bei der Prävention, Aufklärung und Strafverfolgung von sexualisierter Gewalt und Feminiziden versagt der mexikanische Staat auf ganzer Linie. Laut der feministischen Psychologin Wendy Figueroa Morales hätten »mehr als 40 Prozent der Feminizide verhindert werden können. Die Frauen haben zuvor Anzeige erstattet, aber die Behörden haben nichts unternommen«.

Die Psychologin leitet ein unabhängiges und bundesweites Netzwerk aus insgesamt 72 Frauenhäusern und Notunterkünften in Mexiko, das Red Nacional de Refugios (RNR). »Angesichts der Straflosigkeit und fehlender Maßnahmen zur Prävention und Beseitigung von machistischer Gewalt sind Frauenhäuser der effektivste Mechanismus zur Verhinderung von Feminiziden«, so Figueroa. Frauenhäuser sind ein weltweit verbreitetes feministisches Konzept zur Akuthilfe für von Gewalt betroffene Frauen und nichtbinäre, Inter- und Transmenschen sowie Kinder. Das Konzept der Unterkünfte variiert je nach Kontext. Es gibt staatlich sowie zivilgesellschaftlich finanzierte Projekte; Notunterkünfte, die nur für wenige Nächte gedacht sind und längerfristig angelegte Wohnprojekte, die medizinische, psychologische und rechtliche Begleitung für Betroffene anbieten. Figueroa betont dabei die Unverzichtbarkeit unabhängiger Projekte: »Staatlich betriebene Häuser sind immer vom Willen der amtierenden Regierung abhängig, die entscheidet, ob das Projekt aufrechterhalten wird oder nicht.«

Ohne öffentliche Gelder geht es aber nicht. Jahr für Jahr kämpfen die Häuser um einen angemessenen Platz in der Haushaltsplanung der mexikanischen Regierung. Anfang 2023 berichteten viele Einrichtungen von finanziellen Schwierigkeiten, da die beantragten Gelder über sechs Monate auf sich warten ließen. Die Häuser mussten sich verschulden, um ihren Betrieb aufrecht erhalten zu können. Das sei inakzeptabel, so die Feministin, »denn das ist das Ergebnis der Tatsache, dass die Regierung andere Belange zuungunsten der Agenda der Frauenrechte priorisiert«.

 

Feministisch wohnen

Die Refugios des RNR bieten Gewaltbetroffenen über mehrere Monate einen geschützten und selbstbestimmten Raum und begleiten sie auch über ihren Aufenthalt hinaus. Sie erhalten Rechtsberatung, psychologische Begleitung und Möglichkeiten zur Weiterbildung. In den Häusern gibt eine feste Tagesstruktur aus Aktivitäten und Beratungsangeboten. Die Putz- und Kocharbeit wird von den Bewohner*innen selbst erledigt – »als wäre es unser eigenes Haus«, sagt Daniela.

Dabei kommen auch feministische Ansätze zum Tragen: In Asambleas (Plena) wird über das Zusammenleben unter den Bewohner*innen und über Wünsche und Bedürfnisse gesprochen. Außerdem wird »die Hausarbeit in den Refugios neu definiert«, erzählt die Psychologin Figueroa: »Auf die Frage: ,Was machen sie beruflich?‘ antworten viele ankommende Frauen: ,Nichts, ich war nur zu Hause.‘ Wir begleiten sie dabei, die Last der Haus- und Betreuungsarbeit zu erkennen und sie als strukturellen Faktor der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern zu begreifen, der ihre Möglichkeiten und ihr Recht auf ein eigenes Einkommen, auf Zugang zu sozialer Sicherheit und auf volle Teilhabe an Politik und Gesellschaft einschränkt.«

In dieser Hinsicht können Refugios mehr sein als eine Notunterkunft. Es sind Räume, in denen Grundrechte wiederhergestellt, sowie Selbstbestimmung und Autonomie von Betroffenen gefördert werden. Wohnen und Widerstand gegen das Patriarchat sind dort eng verknüpft: Die Häuser sind Orte, an denen über patriarchale Gewaltverhältnisse gesprochen wird. So kommt es zu einer kritischen Auseinandersetzung, auf deren Grundlage auch politische Forderungen artikuliert werden können.