Alltäglich, aber geheim

Sudabeh Mortezai im Interview zu ihrem Film "Im Bazar der Geschlechter" über die Zeitehe im Iran

in (06.04.2010)

In ihrem neuesten Doku-Film "Im Bazar der Geschlechter" geht Sudabeh Mortezai dem Phänomen der schiitischen "Zeitehe" nach. Vina Yun befragte die iranisch-österreichische Regisseurin zu den aktuellen Geschlechter- und Sexualpolitiken im Iran.

an.schläge: Warum haben dich die Zeitehen interessiert? Hast du dieses Phänomen schon vor der Arbeit am Film gekannt?

Sudabeh Mortezai: Die schiitische Zeitehe ist eine 1.400 Jahre alte Tradition, die ursprünglich als eine Art legale „Triebabfuhr“ für Männer gedacht war, die auf Pilgerreise oder im Krieg und daher von ihren Ehefrauen getrennt waren, und zugleich als finanzielle Absicherung für alleinstehende Frauen – also letztendlich die religiös sanktionierte Prostitution. Im heutigen Iran ist sie weiterhin sehr verbreitet und wird auch als Schlupfloch für Paare benutzt, um außereheliche Beziehungen zu führen. Sie ist etwas Alltägliches, zugleich aber auch tabuisiert, weil sie mit Prostitution und Promiskuität assoziiert wird. Mich interessiert die Zeitehe als Symptom dafür, wie eine Gesellschaft Geschlechterbeziehungen und Sexualität definiert.

Bei der Zeitehe steht ja der materielle Aspekt explizit im Vordergrund: Sie ist ein finanzieller Vertrag zwischen einem Mann und einer Frau. Im Gegensatz dazu verschwindet dieses ökonomische Interesse in einer traditionellen heterosexuellen Ehe meistens hinter dem romantischen Bild der „Liebesheirat“ …

Die Ehe, auch die „normale“ Ehe, ist im Islam immer ein Vertrag. Der Frau steht das vereinbarte Brautgeld sowie Unterhalt zu. Im Gegenzug ist sie ihrem Mann gegenüber zu sexuellem und sonstigem Gehorsam verpflichtet. Eigenes Vermögen und Einnahmen verwaltet sie selbst. Darauf hat der Mann keinen Anspruch. Es geht also dezidiert um den Tauschhandel Sexualität gegen Geld.
Aber auch im Westen ist das romantische Ideal der Liebesheirat eine sehr neue Erscheinung. Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren auch in Europa Ehen arrangiert und vor allem Wirtschaftsgemeinschaften. Sexueller Gehorsam und Kinder zu kriegen galten auch hier als eheliche Pflichten der Frau. In Österreich wurde Vergewaltigung in der Ehe erst 1989 unter Strafe gestellt, in der Schweiz 1993, in Deutschland 1996. Bis zur Familienrechtsreform in den 70er Jahren war auch hierzulande der Mann gesetzlich das Oberhaupt der Familie und konnte seiner Frau verbieten, einen Beruf auszuüben. Auch im Westen ist heute noch der Grundtenor in Medien, Werbung etc.: Eine Frau muss vor allem schön sein, ein Mann Geld und Status besitzen.
Die Zeitehe mit ihrem explizit materiellen Charakter macht Mechanismen sichtbar, die für jede patriarchale Form von Beziehung gelten, auch wenn sie hier subtiler und daher weniger sichtbar sind.

Wie du schon erwähnt hast, wird die Zeitehe öffentlich tabuisiert – sie scheint so etwas wie ein „offenes Geheimnis“ in der iranischen Gesellschaft zu sein. Wie schwierig war es da, die Protagonist_innen für deinen Film zu finden?

Es war sehr schwierig und ein langer Kampf, Frauen zu finden, die bereit waren, vor die Kamera zu treten und offen von ihren Erfahrungen zu berichten. Denn die Zeitehe macht ja sichtbar, dass eine Frau eine aktive, nicht von einem einzigen Mann kontrollierte Sexualität ausübt. Das stigmatisiert Frauen, die Zeitehen eingehen. Viele Frauen, die aus finanziellen Gründen eine Zeitehe eingehen, halten sie auch vor der engsten Familie geheim. Es war also viel Überzeugungsarbeit nötig, um eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der sich die Frauen öffnen würden. Dann aber haben sie geradezu das Bedürfnis gehabt, über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung, Gewalt und Ausbeutung zu sprechen.
Was Geistliche betrifft, war es hingegen kein Problem. Die meisten Mullahs stehen dem Thema sehr offen und bejahend gegenüber. Sexualität ist allgemein kein Tabu-Thema im Islam. Es wird sehr offen und oft explizit darüber geredet. Und die schiitische Geistlichkeit sieht die Zeitehe als eine pragmatische Lösung, als Ventil für die sexuellen Bedürfnisse der Männer.

Was sagt denn die Zeitehe aus deiner Sicht über das Geschlechterverhältnis in der iranischen Gesellschaft aus?

Es herrscht, wie es für eine patriarchale Gesellschaft typisch ist, eine Doppelmoral, die Männern weit größere sexuelle Freiheiten zugesteht als Frauen. Nach iranischem Recht ist Polygamie erlaubt, auch wenn sie nur sehr selten praktiziert wird. Ein Mann darf bis zu vier „richtige“ Frauen haben und unbegrenzt viele Zeitehen gleichzeitig eingehen. Frauen hingegen müssen monogam sein. Und Frauen, die Zeitehen eingehen, gelten als unanständig, weil sie öfters ihren Partner wechseln und das mit der Zeitehe auch noch sichtbar machen.

Im Iran gibt es ja eine sehr aktive Frauenbewegung. Wie äußern sich iranische Feministinnen zur Zeitehe?

Die iranischen Feministinnen und Frauenrechtlerinnen lehnen die Zeitehe durchwegs ab, quer durch die unterschiedlichen Gruppierungen – es gibt ja neben säkularen Frauengruppen auch streng islamische Feministinnen, die sich um neue Lesarten des Koran bemühen. Sie sehen die Zeitehe als eine weitere Institution, die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern verfestigt. Dem stimme ich generell zu, allerdings sehe ich das etwas differenzierter: Das Problem ist nicht die Zeitehe, sondern die diskriminierende und repressive Ideologie, die dahintersteckt. Innerhalb dieses repressiven Systems kann die Zeitehe gerade auch Frauen bestimmte Freiräume eröffnen. Nach iranischem Recht braucht eine Jungfrau die Erlaubnis ihres Vaters für eine Heirat. Als Ehefrau muss sie ihrem Mann gehorchen. Erst als Witwe oder Geschiedene darf eine Frau erstmals selbst über ihre Sexualität entscheiden. Es gibt eine ganze Generation junger Frauen, die sich aus Ehen mit gewalttätigen, drogensüchtigen Männern befreit haben und sich nicht wieder in die Abhängigkeit von einem Mann begeben wollen. Für sie kann eine Zeitehe auch Freiheit bedeuten.

Der iranische Staat wacht mit zahlreichen Regelungen von „Do’s & Dont’s“ über die Sexualität seiner Bürger_innen. Könnte die Zeitehe als eine Art kritische Praxis zur Über-Regulierung im staatlichen islamischen Diskurs gesehen werden?

Ja, der Staat greift massiv ins Privatleben der Menschen ein: Kopftuchpflicht und Geschlechtertrennung werden von der Sittenpolizei überwacht. Im iranischen Strafrecht steht außerehelicher Sex unter Strafe. Unzucht wird mit 100 Peitschenhieben, Ehebruch mit dem Tod bestraft. Ein Paar, das gemeinsam verreisen möchte, kann nur mit einem Ehevertrag gemeinsam ein Hotelzimmer nehmen, allein reisende Frauen bekommen erst gar kein Zimmer. Die Zeitehe wird daher von vielen Paaren subversiv als Schlupfloch genutzt, z.B. um gemeinsam zu verreisen. Es ist also kein Wunder, dass die Zahl der Zeitehen stetig steigt, obwohl in der öffentlichen Meinung solche Ressentiments dagegen herrschen. Das ist symptomatisch für den tiefen Riss innerhalb der Gesellschaft, zwischen dem Regime mit seiner Ideologie und der Bevölkerung, die seit dreißig Jahren ein Doppelleben führt.

Der Titel deines Dokumentarfilms deutet ja an, dass Geschlechterverhältnisse ständigen Verhandlungen unterliegen. Unter welchen Bedingungen findet dieses Aushandeln denn derzeit statt?

Ich glaube, dass die Generation der unter 25-Jährigen eine sexuelle Revolution im Iran durchlebt, die die Gesellschaft auch in allen anderen Bereichen erschüttert. Der junge Blogger im Film steht für mich für diese Generation. Er fordert ganz selbstverständlich Gleichberechtigung von Frauen und Männern aus dem pragmatischen Wunsch heraus, auch selbst eine freiere Sexualität leben zu können: „Was den Frauen schadet, schadet auch den Männern.“ Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis für einen 20-jährigen Mann, der die Islamische Republik nie verlassen hat, und deutet auf einen inneren Wandel in der Gesellschaft hin. Auch die jungen Frauen sind viel selbstbewusster und geben sich mit den traditionellen Frauenrollen nicht mehr zufrieden. Inzwischen sind über sechzig Prozent der Uni-Absolvent_innen Frauen. Das durchschnittliche Heiratsalter ist auf 26 gestiegen.
Die Bilder der Proteste nach den Wahlen im Sommer gingen um die Welt, vor allem auch die vielen starken und mutigen Frauen haben sich eingeprägt. Das war das Sichtbarwerden einer Bewegung, die sich schon seit Jahren in der iranischen Gesellschaft entwickelt. Die massiven Proteste kamen nicht aus dem Nichts. Dahinter steckt vor allem auch eine sehr aktive Frauenbewegung und Zivilgesellschaft, die die Machtstrukturen immer mehr aufbricht.

„Im Bazar der Geschlechter“ läuft ab 16. April in den österreichischen Kinos.

www.imbazar-derfilm.at

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin, www.anschlaege.at