Frausein in Aserbaidschan

Eine soziokulturelle Analyse einer patriarchalischen Diktatur

In der letzten Silvesternacht sind bei einem Terroranschlag auf den Nachtclub „Reina“ in Istanbul 39 Menschen auf grausame Weise getötet worden. Darunter war eine Aserbaidschanerin, Nurana. Der Anschlag erschütterte die Welt, viele Menschen haben in sozialen Netzwerken auf unterschiedliche Art ihr Beileid kundgetan, Empathie gezeigt und den Terror verurteilt. Wegen den unschuldigen Opfern waren viele auf Anhieb fassungslos. Aber in Asberaidschan interessierten sich die meisten Aserbaidschaner*innen für eine ganz andere Angelegenheit, nämlich die Anwesenheit einer aserbaidschanischen Frau allein in einem Nachtclub.

Auch Nurana wollte sich, wie andere Menschen, in dieser Nacht amüsieren, mit dem Ziel des friedlichen Zusammenseins ist sie in diesen Club gegangen. Viele Aserbaidschaner*innen waren nicht empört, weil sie bei einem Terroranschlag ihr Leben verloren hatte, sondern weil sich eine aserbaidschanische Frau überhaupt allein in einem Nachtclub aufgehalten hat.

 

Hass auf eine freie Frau

 

Manche Kommentare waren noch heftiger: „Insofern sie in einem Nachtclub gestorben ist, muss sie gleich dort mit einem Glas Whisky in der Hand begraben werden.“ Oder: „Warum soll eine Frau in einen Club gehen? Damit sie am Ende stirbt. Das ist gut so.“ „Sie ist selber schuld. Wenn sie nicht dort gewesen wäre, wäre ihr das nicht geschehen.“

Die aserbaidschanische Gesellschaft ist in großem Maße durch patriarchale Normen geregelt. Eine Frau steht zunächst im Schatten ihres Vaters und Bruders und anschließend wird sie zu einem Leben im Schatten ihres Ehemannes verdonnert.

Die in dieselbe Familie hineingeborenen Töchter und Söhne werden ganz unterschiedlich sozialisiert. Den Söhnen wird erlaubt, relative Freiheit zu genießen, während die Töchter sich mit steigendem Alter in ein Modell der Ehre dieser Gesellschaft verwandeln. Auf ihren Schultern müssen sie die streng definierten sozialen Regeln tragen, sei es zu Hause oder im Bett, sei es auf der Straße oder bei einer Unterhaltung.

Das oben genannte Beispiel zeigt, wie die gesellschaftliche Haltung gegenüber Frauen mit abweichenden Werten aussieht. Victim Blaming (Täter-Opfer-Umkehr) ist ein sehr verbreitetes und tief verwurzeltes Phänomen bei der Erklärung von sozialen Problemen in unterschiedlichen Lebensbereichen der aserbaidschanischen Frauen. Aus diesem Grund sind ein Großteil der Frauen eingeschüchtert und entmutigt, sich gegen die Unterdrückung zu wehren.

 

Konservative Prägung

 

Die sozialen Normen in der Gesellschaft Aserbaidschans basieren auf den konservativen Prägungen durch Religion und eine traditionelle Grundeinstellung.

Die Fessel der konservativ-religiös geprägten sozialen Normen ist an den Händen der Frauen zu spüren. Um zu verstehen, was es heißt in Aserbaidschan eine Frau zu sein, betrachten wir kurz den Entwicklungslebenslauf des Frauseins in Aserbaidschan:

Falls der Embryo aufgrund seines weiblichen Geschlechts nicht abgetrieben wird und überlebt, heißt das, dass das Weibliche die erste Diskriminierungsphase erfolgreich überstanden hat.

 

Selektiver Schwangerschaftsabbruch

 

Infolge selektiver Schwangerschaftsabbrüche ist die Anzahl der neugeborenen Mädchen im Vergleich zu den neugeborenen Jungen geringer. Denn nur das weibliche Geschlecht gilt als abtreibungswert, während das männliche Geschlecht als Glück und Geschenk angesehen wird.

Oft müssen Mütter sechs oder sieben Töchter gebären, bis endlich der ersehnte Sohn zur Welt kommt. Die Verwendung von Verhütungsmitteln ist in Aserbaidschan nach wie vor verpönt.

Oft wurden die ungewollten Töchter von ihren Familie sogar symbolisch „Yetər“ (wortwörtlich übersetzt: Es reicht!), „Bəsti“(Basta oder Schluss damit!), „Kifayət“ (genug jetzt!), „Fəlakət“ (katastrophal) oder „Qızqayıt” (Mädchen, kehre zurück!) genannt, weil sie glauben, dadurch der Geburt von weiteren weiblichen Kindern vorbeugen zu können. Dank der technologischen Entwicklungen können die Frauen das ungewollte weibliche Kind problemlos vorzeitig erkennen und abtreiben, bis sie schließlich ein männliches Kind bekommen.

Diese Tendenz verändert sich besonders unter den jungen Generationen von den 1990ern an, anlässlich finanzieller Gründe und einem Wertewandel. Dieser Prozess erfolgt jedoch ganz schleichend. Also, in Aserbaidschan steht die Abtreibung nur im Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht, weil von Müttern ein Sohn zwingend erwartet wird. Die Mütter mit Söhnen haben einen höheren sozialen Status, als die Mütter mit Töchtern.

 

Pubertät und Heiratsdruck

 

Wenn ein Mädchen Teenager wird, werden von ihr mehrere Herausforderungen verlangt: Sich vermummend anzuziehen, wenig mit gleichaltrigen Jungen in Kontakt zu treten, sogar kosmetische Operationen vorzunehmen, um „schön“ zu werden (ohne zu wissen, dass genau das ein Selbstobjektivierungs-Prozess ist; eher wird dieser Schritt begangen, um soziale Akzeptanz zu erlangen), sich auf das zukünftige Frausein-Muttersein vorzubereiten. Wenn ein Mädchen Glück hat, kann es die Schule bis zum Ende besuchen. Aber ein Teil der Mädchen muss die schulische Ausbildung abbrechen und, auf Druck der Eltern, heiraten. Sonst müssen sie das universitäre Studium verfolgen, um den Elterndruck auf Heirat auf später zu verschieben. Je näher der 25ste Geburtstag rückt, desto höher wird der Druck auch von Verwandten.

Das Studium ermöglicht den Frauen, dass sie ihre sozialen Anschlüsse ausdehnen, aber das relativ amüsante Leben endet, sobald sich die Zeit 19 Uhr nähert. Generell wird das Spät-Außer-Haus-Sein einer Frau sehr negativ betrachtet. Eine Frau kann ihr Leben selbstständig leben, wenn sie allein außerhalb elterlicher Kontrolle ist, aber es ist unvorstellbar, dass sie aus dem Elternhaus auszieht, wenn sie nicht heiratet oder studiert.

Die Frauen, die diesen Stritt gewagt haben, müssen unter ständigem sozialen Druck leben. Wenn eine Frau lesbisch ist, muss sie ihr wahres Begehren geheim halten und sich für alternative Möglichkeiten entscheiden, um dem heterosexuellen Heirats-Druck zu entgehen.

Oft bleibt nur ein Ausweg übrig: Die lesbische Frau heiratet einen Bekannten, der schwul ist. Auf diese Weise können beide ihr Leben relativ „leicht“ und „bequem“ gestalten.

 

Jungfräulichkeit

 

Die andere und heiligste Herausforderung einer Frau ist der Schutz ihrer Jungfräulichkeit vor der Ehe. Es wird genau überprüft, ob eine Frau diese Aufgabe erfolgreich erledigt hat oder nicht. Während der Hochzeitszeremonie bekommt immer eine ältere Frau (Yengə) dafür die spezielle Aufgabe zugewiesen, dass sie nach der Hochzeitsnacht den Bettbezug überprüft, ob tatsächlich ein Blutfleck da ist. Dann wird der erwartete Fleck euphorisch gefeiert. Im anderen Fall wird unermüdlich ein erbitterter Druck auf die nicht jungfräuliche Frau ausgeübt. Da eine Frau ein Modell der Ehre einer Familie ist, gilt dieser Fall als Schande für die Familie. Aufgrund des unermüdlichen sozialen Drucks begehen viele Frauen Suizid. So geben die Familien, besonders Mütter, bei Gynäkolog*innen viel Geld aus, damit die „Schande“ beseitigt bzw. genäht wird. Genau diese soziale Norm bereitet den Nährboden für eine nutzenmaximierende Business-Branche. Das ist ein klares Beispiel für die kapitalistische Ausbeutung des Körpers der Frau.

 

Die Frau als Gebärmaschine

 

Im Endeffekt verwandeln sich die Frauen gleich nach der Hochzeitphase in Gebärmaschinen für ihre Nation. Mit dem Anfang der Familiengründung erfolgt die Metamorphose der Frauen zum ständig sesshaften Mitglied des Hauses. Auf diese Weise vergeht mit der Sorge um die Familie die Zeit für die Frauen.

In Aserbaidschan, wo es als Schimpfwort angesehen wird, wenn sich jemand als Feministin oder Feminist bezeichnet, kann von einer Frauenbewegung überhaupt nicht die Rede sein, weil es hier ganz einfach keine gibt. Ein Verein, der die Rechte der Frauen fördert, setzt das Frausein genau mit Mutter-Sein, Gebärmaschine-Sein gleich. Eine Frau ist im Kontext von Familie zu verstehen. Das Komische ist aber, fast niemand sieht da ein Problem, sondern alles eher als Normen, die unveränderbar und harmlos sind.

 

Gegen Sexismus, Rassismus und Klassismus

 

Ich wünsche mir, dass die Frauen eines Tages mutig auf die Straßen in Aserbaidschan gehen und dass sie das falsche Bewusstsein aufbrechen werden. Gemeinsam, solidarisch, miteinander. Ich wünsche mir, dass der 8. März nicht als ein Tag wahrgenommen wird, an dem den Frauen nur Parfüm und Kuschelbären geschenkt werden, sondern als Kampftag gegen Sexismus, Rassismus, Klassismus. Ein Tag, an dem der Hass gegenüber den alternativen Lebensformen und feministischer Entfaltung nachdrücklich in Erinnerung gerufen wird.

 

Rovshana

 

Anmerkung der GWR-Redaktion:

Rovshana und Sven berichteten im Februar 2017 in der GWR 416 mit ihrem Artikel „Zehn Jahre Knast für ein Graffiti“ über die Diktatur in Aserbaidschan und das brutale Vorgehen des Regimes gegen die Anarchisten Givas und Bayram.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 418, April 2017, www.graswurzel.net