Verstohlene Blicke

Dark Tourism, was ist das eigentlich?

Dark Tourism, was ist das eigentlich? Tourismus ist mehr als Erholung. ‚Authentisch‘ und lehrreich soll er heutzutage für manche Urlauber*innen sein oder exklusive Eindrücke vermitteln. Ein Segment dabei sind Reisen zu Orten, an denen sich Kriege, Menschenrechtsverbrechen oder Katastrophen ereignet haben. Unter dem Begriff Dark Tourism beschäftigt sich die Tourismusforschung damit. Eine Annäherung an verschiedene Perspektiven auf das Phänomen.

Vorneweg: Dark bezieht sich nicht auf die Motivation von Tourist*innen, sondern auf die Orte, die sie besuchen. Dark Tourism bezeichnet Reisen zu Orten, die auf die eine oder andere Weise mit Tod oder Katastrophen verbunden sind. Der Tourismusforscher Philip Stone ergänzt, dass es um Orte geht, »die Tod und Sterben repräsentieren und die ihrerseits ein schwieriges oder umstrittenes Erbe haben«.

Der Begriff wurde 1996 von den Tourismusforschern Malcolm Foley und John Lennon geprägt, der Zeitpunkt ist kaum Zufall. In den 1990er-Jahren verändert sich der Umgang mit Erinnerung und der Bezug zu Geschichte – es kam zum sogenannten Memory Boom (iz3w 373). Die dunkle Seite von Geschichte, gerade auch Nationalgeschichte, die zuvor gerne ignoriert wurde, gewann an Bedeutung. Damit einher geht ein steigendes Interesse an den Orten ‚dunkler‘ Geschichte. So verzeichnen KZ-Gedenkstätten kontinuierlich steigende Besucher*innenzahlen (Seite 24). Auch andere Dark Tourism-Orte werden als Reiseziele beliebter, etwa die Gefängnisinsel Robben Island, die seit 1997 ein Museum ist. Das hat zwei Gründe: Zum einen gehört es längst zum ‚richtigen‘ Reisen, auch die weniger schönen Seiten eines Urlaubsortes zu sehen. Zum anderen geht es um ein zentrales touristisches Motiv: die Suche nach dem Außergewöhnlichen. ‚Exotisch‘ markierte Orte versprechen reisenden Europäer*innen schon lange besondere Erlebnisse. Heutzutage kann das Außergewöhnliche auch in der emotionalen Grenzerfahrung liegen, die mit dem Besuch eines Dark Tourism-Ortes assoziiert wird.

Dunkle Postmoderne

Foley und Lennon grenzen den Dark Tourism noch weiter ein. Sie verstehen Tourismus als ein Phänomen der Moderne und Dark Tourism als ein postmodernes Phänomen. Zentral ist nun die mediale Verbreitung, die überhaupt erst Interesse am Reiseziel weckt. Das kann etwa die Live-Übertragung der Anschläge vom 11. September sein, aber auch der ikonografisch gewordene und millionenfach reproduzierte Schriftzug »Arbeit macht frei« in Auschwitz. Des Weiteren spielen Dark Tourism-Orte mit dem Unbehagen an der Moderne (und der Postmoderne) selbst. Das zeigt sich etwa an Stätten von Unglücken, die auf dem Versagen moderner Technik beruhen, wie etwa die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl in der Ukraine 1986. Zuletzt muss ein Element der Kommodifizierung gegeben sein – eine Kommerzialisierung, die den Ort als Tourismusprodukt ausgestaltet. Das heißt, dass auch etwas vor Ort ‚übrig‘ sein muss, das kommodifiziert werden kann. Eine grüne Wiese ist vielleicht ein Gedenkort, aber kein Dark Tourism-Ziel im engeren Sinne.

Im mittlerweile nicht mehr ganz kleinen Literaturkanon zu Dark Tourism wird der Moderne-Begriff großzügig ausgelegt. So werden fast einhellig Stätten mit Bezug zum Sklavenhandel und Kolonialismus dem Dark Tourism zugerechnet (Seite 31 und 33). Die Definition von Foley und Lennon impliziert auch, dass es sich bei den Zielen um authentische Orte handeln muss – also um Orte, an denen tatsächlich Gewalt geschehen ist. Deshalb fällt etwa nicht jedes Holocaustmuseum unter die Definition.

Im gängigen Sprachgebrauch wird der Begriff (wenn er denn verwendet wird) viel breiter ausgelegt. Häufig geht es dann doch um die Motivation (Tourist*innen wollen sich gruseln, etc.), und in der Netflix Serie »Dark Tourist« fällt sowieso alles durcheinander: Der Journalist David Farrier besucht unter anderem die Sperrzone von Fukushima, ein Zweiter Weltkriegs-Reenactment, verlassene Städte und angebliche Vampire. Hauptsache gruselig. Das hat mit der wissenschaftlichen Definition von Dark Tourism wenig zu tun.

Dark Tourism ist ein Begriff, unter dem sich offensichtlich vieles fassen lässt. Auf einen ganz anderen, aber wesentlichen Aspekt hinter dem Dark weist hingegen der Tourismusforscher Philip Stone hin. Demnach sei die Forschung zu Dark Tourism gar nicht so sehr an Orten des Todes selbst interessiert, sondern an der Rolle, die Dark Tourism in unserer Gesellschaft spielt. Daraus ergeben sich viele Fragen.

Authentisch Lernen?

In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo gab es für einige Jahre das »War Hostel«. Es war im Stile eines Kellers eingerichtet, in dem die Einwohner*innen Sarajevos während der vierjährigen Belagerung der Stadt im Bosnienkrieg Schutz suchten. Statt Betten gab es Schaumstoffmatratzen mit Armeedecken, der Strom kam aus einer Autobatterie und nachts liefen Explosionsgeräusche vom Band. Der junge Betreiber des Hostels hatte die Belagerung der Stadt als Kind miterlebt und verstand das Hostel als einen Lernort. Viele Besucher*innen zeigten sich begeistert, so sagte ein 21-jähriger amerikanischer Tourist gegenüber der Zeitung DIE WELT über das Hostel: »Die beste Art, etwas zu lernen, ist normalerweise die Erfahrung. Sie liefert die Gefühle hinter den Ereignissen mit.«

Doch diese mitgelieferten Gefühle können zum Problem werden. Denn sie ersetzen nicht die Auseinandersetzung damit, wer warum Opfer oder Täter geworden ist und welche Konsequenzen historische Ereignisse bis heute haben. Bleibt man bei der emotionalen Überwältigung stehen, begreift man wenig. Das »War Hostel« steht stellvertretend für die gesamte Stadt Sarajevo und die vielen Keller, in denen Menschen tatsächlich in Todesangst ausharrten. Das ist nicht vergleichbar mit einer Nacht im de facto behüteten Hostel.

Dieses mag ein exponiertes Beispiel sein, aber ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich beim Besuch von KZ-Gedenkstätten. Das Bedürfnis nachzufühlen kann (und darf) nicht erfüllt werden, dennoch ist es eine Erwartung, die viele Tourist*innen haben. Manchmal bringen Tourist*innen Vorstellungen mit, die von Filmen über den Zweiten Weltkrieg geprägt sind, aber mit der Realität wenig zu tun haben. Das kann zu Enttäuschungen führen, aber auch einen produktiven Abgleich bewirken. All das müssen Dark Tourism-Orte berücksichtigen, wenn sie Lernorte sein wollen, die auch Tourist*innen auf Kurzvisiten erreichen (Seite 24). Es ist zugleich auf Seiten der Tourist*innen die Bereitschaft nötig, sich jenseits des authentischen Erlebnisses mit der Geschichte zu befassen.

Per Voyeurismus lernen?

Die Höhlen von Shimoni liegen in einem kenianischen Fischerdorf nahe der Grenze zu Tansania. Im touristischen Jargon werden sie als die »Sklavenhalterställe« bezeichnet. Schon die Wortwahl ist voyeuristisch. Die Stätten könnten auch als Gedenkort oder ehemaliges Gefängnis bezeichnet werden1. Warum also diese Sprache aus der Tierhaltung? Will sie verurteilen oder das Barbarische hervorheben? Wieso wird dieser unscheinbare Ort in Reiseportalen und Werbeprospekten als Attraktion beworben? Die Strände in Shimoni sind weiß und weitläufig; Sonne, Sand und See sind in Vorzugsqualität vorhanden. Weshalb werden da die »Sklavenhalterställe« für internationale Tourist*innen zur Attraktion?

Der Moment im Verlies, die Dunkelheit, das tropfende Wasser in den Korallensteinhöhlen, die alten Fußfesseln, die feuchtkalte Luft: All das ist, steht man dort, sehr einprägsam. Ist man alleine in diesem Verlies, in dem jedes Räuspern einen Hall verursacht, bleibt dieser Ort nicht ohne Wirkung. Schon rein körperlich ist der Kontrast zum gleißenden Licht und dem warmen Meereswind draußen beträchtlich.

Auf der Suche nach einer Attraktion weckte der Erinnerungsort die Aufmerksamkeit von Tourismusbetreiber*innen der vorgelagerten Insel Wasini. Aus touristischer Perspektive selbst wird über die Höhlen von Shimoni oft in einer drastischen Sprache erzählt. Das hat mehrere Gründe. Distinktion und das Werben mit Superlativen spielen im Tourismus eine wichtige Rolle: Alles soll möglichst einzigartig sein und das eröffnet – so die Hoffnung – nur der Blick hinter die touristische Fassade. Der Reiz des Entdeckens – ein durchaus auch kolonial geprägtes Reisemotiv – ist mit dem Interesse für die dunkle Geschichte eines Ortes gut vereinbar.

Gebucht, besucht, besichtigt

Aber was kann man hier begreifen? Etwa die Gewalt, die den Eingekerkerten vor über hundert Jahren angetan wurde? Vielleicht ist die Faszination für das Gruselige stärker als die Empathie mit Opfern. Was macht das, wenn der Ort ehemaliger Gräueltaten zum Minutenfenster auf einer Sightseeingtour wird, gebucht-besucht-besichtigt, mit Selfie?

Es geht hier nicht um die Motive der einzelnen Besucher*innen, sondern um den Diskurs, der transportiert wird. Düstere Exotik spielt bei einer Besuchsreise im Rahmen eines kurzen All Inclusive-Tropenurlaubs durchaus eine Rolle. Bei der Deutung dieser Höhlengeschichte haftet den dicken Ketten, den brutalen Folterwerkzeugen und den nassen Mauern etwas Archaisches an. Dieses hat im Tourismus und beim Blick in die Länder des Globalen Südens eine Anziehungskraft, die sich auch in Shimoni aufdrängt.2 Zu beachten ist ferner, dass hier Schwarze Menschen von Schwarzen eingekerkert wurden. Das genannte Archaische wird generell als nicht-zivilisiert gedeutet. Und das Grausame dieser Sklavenorte steht für das Barbarische, die dunkle Seite der Exotik – und damit für eine abwertende Wahrnehmung des Anderen.

Doch was war hier barbarisch? Die Versklavung und Verschiffung der Menschen war es allemal. Nur ist das Barbarische beim kolonialen Blick eine diskursive Konstruktion, die eine Idee des Zivilisierten durch Abgrenzung schafft. Diese Perspektive ist auch für Tourist*innen anziehend und attraktiv. Dagegen spielt zwar, so mag man einwenden, gerade bei der Sklaverei die europäische und nordamerikanische Seite die prominente Rolle – und nicht nur die Täterschaft machtvoller lokaler Herrscher. Und vielleicht ist es gerade das, was den Reiz dieser Orte, den verstohlenen Blick in die Geschichte ausmacht: das Wissen der europäischen Besuchenden, dass es die eigenen Geschichtsanteile darin gibt. Darin, dieses Spannungsverhältnis offenzulegen, liegt auch ein Potenzial solcher Besuchsreisen.

Das Kapital der Erinnerung

Was das Verhältnis der Reisenden zu den Ortsansässigen ausmacht, lässt sich an der Frage erörtern, wer was an den Besichtigungen verdient. Die Höhlen in Shimoni werden im Namen der Gemeinde und mit technischer Unterstützung des National Museums of Kenya vom Shimoni Slave Cave Management Committee verwaltet. Die Einnahmen aus dem Ticketverkauf werden im Rahmen eines Gemeinschaftsprojekts verteilt. So fließen die Erlöse in die Gemeinde. Das ist vorbildlich; vielerorts läuft es ganz anders. In Ghana nimmt der Tourismus an Orte der Versklavung ebenfalls Fahrt auf, der Verdienst lokaler Guides ist allerdings nicht nennenswert (Seite 34). Besonders schwierig wird es, wenn die ehemaligen Unterdrücker*innen das Geschäft in der Hand haben. Tourismusinvestor*innen weltweit bewirtschaften Orte mit kolonialem Flair, meist ohne sich mit der Geschichte adäquat auseinanderzusetzen: alte Forts und Landsitze eignen sich als touristische Residenzen, denn sie versprechen, ein paar Tage ‚fürstlich‘ zu leben und imaginiert in eine Klasse aufzusteigen, die im Alltag unerreichbar bleibt.3

Die Einnahmen für die Menschen, die in touristischen Destinationen wie Shimoni leben, sind eher gering (denn es gibt nur wenige Besuche und eine Eintrittskarte kostet knapp vier Euro). Auch die Reiseveranstalter, die hierher einen Ausflug anbieten, werden davon nicht reich. Der Gewinn der Besuchenden stellt sich ohnehin eher als soziales Kapital dar: Wer reist, ist gebildet. Wer viele Orte auf der Welt erkundet und auch Orte gesehen hat, an denen Gräueltaten verübt wurden, wer der Geschichte ins Auge gesehen hat, häuft soziales Kapital an. Der Mehrwert für die Vielgereisten, die eine persönliche Top Ten Liste darktouristischer Orte aufsagen können, liegt in der vermeintlichen Weltoffenheit und einem kosmopolitischen Image.

Soweit, so gut. Nur: Die lokale Bevölkerung hat meist deutlich weniger die Aussicht, an diesem Image zu partizipieren. Als Nachkommen jener, die Gewalt erfahren haben, bleiben sie auf der anderen Seite der Geschichte verortet. Sie sind weniger wohlhabend, weniger mobil und ziehen aus dem touristischen Geschäft mit der Geschichte den geringeren Nutzen. Dark Tourism hat somit im beschriebenen Kontext etwas Exklusives und damit Ausgrenzendes.4 Die am Orte der Versklavung erzählte Geschichte von Leid wird dabei selten mit Erzählungen des Aufstandes, des Widerstandes, oder der Rebellion ergänzt (Seite 31). Der Fokus auf die Opfergeschichte reproduziert ebenfalls das Machtverhältnis, das nur von einem sensiblen und politisch bewussten Besuchskonzept durchbrochen werden kann.

Diese feinen und doch wirkmächtigen Konstellationen zu erkunden, ist ein lohnendes Unterfangen, das nicht ohne die Betroffenen gelingen kann. Umso mehr lohnt es sich, auf Strukturen, Stolperfallen und Potenziale im Dark Tourism zu schauen, die bei jedem Ort anders gelagert sein können. Heute hier, morgen fort: So realisiert sich vielfach der postmoderne Modus des Reisens auch an Erinnerungsorte. Was wäre zu tun, damit sich die strukturellen Ungleichheiten, die durch die Gewaltgeschichte geschaffen wurden, nicht im Tourismus wiederholen? Mit dieser Frage im Gepäck lohnt sich der Blick auf das mitunter kurzsichtige touristische Treiben um die Stätten dunkler Geschichtskapitel. Der gute Wille der Einzelnen, die einen solchen Ort bereisen, reicht da nicht aus.

 

Anmerkungen

1  1873 unterzeichnete Sultan Seyyid Barghash von Sansibar unter dem Druck Großbritanniens einen Vertrag, der den Sklavenhandel in seinen Herrschaftsgebieten für illegal erklärte. Aber erst 1909 wurde die Sklaverei in Ostafrika offiziell abgeschafft.

2  Im Handgepäck Rassismus. Beiträge zu Tourismus und Kultur, iz3w 2003. bit.ly/3p1oLO7

3  Hito Steyerl: Reise und Rasse. Tourismus als Motor globaler Klassenbildung. In: Im Handgepäck Rassismus

4  Eine fehlende Zugehörigkeit – in diesem Fall zum kosmopolitischen Habitus – ist auch eine Exklusion. Dadurch dient das soziale Kapital der Konservierung der Machtverhältnisse. Vergleiche Pierre Bourdieu (1983). bit.ly/3SwwgdA