Bis Mitte der neunziger Jahre befürwortete Russland Abrüstungsschritte im Bereich der taktischen Kernwaffen. Seither, so Andrei Zagorski von der russischen Akademie der Wissenschaften, „hat sich in Moskau der Trend gekehrt“. Russische Experten machen in diesem Zusammenhang keinen Hehl daraus, dass dieser Einstellungswandel zu einem erheblichen Teil aus der – nach russischer Lesart in eklatanter Verletzung gegenteiliger Zusagen erfolgten – Ausweitung der NATO in Richtung der russischen Grenzen resultiert.
Der Hauptgrund ist jedoch ein anderer: Im Gefolge des Verfalls der militärischen Macht der früheren Sowjetunion sieht sich Russland heute – mit Ausnahme der strategischen Waffen – in vielerlei Hinsicht gegenüber den USA, der NATO, aber auch gegenüber Nachbar China im Hintertreffen. Russland nimmt daher Zuflucht zu einem Verhaltensmuster, das aus den Zeiten des Kalten Krieges von der NATO (seinerzeit angesichts der befürchteten konventionellen Überlegenheit des Warschauer Vertrages) vertraut ist: Kompensation von tatsächlicher oder angenommener Unterlegenheit durch vergleichsweise wirkungsvolle und kostengünstige Atomwaffen. Oder mit den Worten von Zagorski: „Man möchte mit den Atomwaffen die Schwäche Russlands in anderen Bereichen ausgleichen. Und zwar nicht allein im konventionellen Bereich. Russland will die meisten seiner Schwächen, zum Beispiel bei den Präzisionswaffen und den Weltraumwaffen, möglichst mit Atomwaffen ausgleichen, und zwar in unterschiedliche Richtungen. Auf jeden Fall ganz deutlich gegenüber der NATO, wo man qualitativ und quantitativ unterlegen ist. Aber auch gegenüber China, wo Russland im konventionellen Bereich quantitativ den chinesischen Streitkräften unterlegen ist. […] Und da geht es in erster Linie um taktische Atomwaffen […].“ (Verschiedene Experten haben darauf aufmerksam gemacht, dass diese veränderte Moskauer Lesart von Abschreckung die Gefahr eines frühzeitigen Kernwaffeneinsatzes etwa bei militärische Konflikten an der russischen Peripherie erhöhen könnte, da sie letztlich auf der Bereitschaft beruhe, im Versagensfalle auf taktische Nuklearwaffen auch tatsächlich zurückzugreifen.)
Darüber hinaus stellt Moskau auch eine Verbindung zwischen dem weiteren Abbau der taktischen Kernwaffen und einer russische Sicherheitsinteressen hinreichend berücksichtigenden Entwicklung hinsichtlich der Raketenabwehrpläne der USA und der NATO her. Und nicht zuletzt erwartet Moskau den Abzug der noch verbliebenen etwa 200 US-Sprengköpfe aus Europa als Voraussetzung für jegliche Gespräche. In diesem Zusammenhang wird – berechtigter Weise – auf den Gleichbehandlungsgrundsatz verwiesen: Man habe selbst alle entsprechenden Waffen auf russisches Heimatterritorium zurückgezogen und bedrohe die USA seinerseits nicht mit Atomwaffen kurzer Reichweite.
Im Hinblick auf künftige russisch-amerikanische Vereinbarungen über taktische Kernwaffen läuft all dies letztlich auf ein Junktim hinaus: Entweder werden alle Probleme gelöst oder keines. Ein explizites Moskauer Nein zu russisch-amerikanischen Abrüstungsgesprächen über taktische Kernwaffen gibt es gleichwohl nicht. Allerdings wäre das angesichts der skizzierten komplizierten Ausgangslage, die als Blueprint für einen gordischen Knoten nicht ungeeignet scheint, auch gar nicht vonnöten.
Washington seinerseits nimmt nach über anderthalb Jahrzehnten sehr diskreten Umgangs mit der Materie (seit den PNIs von 1991; siehe Teil I dieses Beitrages im Blättchen Nr. 15 vom 25. Juli 2011) – mit dem Ergebnis des Abzugs von über 95 Prozent der ehemaligen amerikanischen Kernwaffenbestände aus Europa – heute Positionen ein, die weitere Fortschritte nicht befördern. So sollen die restlichen taktischen US-Kernwaffen nur im Zuge einer gegenseitigen Reduzierungsvereinbarung mit Russland abgezogen werden, wie Außenministerin Hillary Clinton wiederholt betont hat. Und auf der Hardware-Ebene ist ein Milliarden schweres Programm zur Verlängerung der Einsatzbereitschaft von vorhandenen Kernwaffensystemen angelaufen – laut US-Rechnungshof „die komplexeste Anstrengung zur Lebensverlängerung […], die je unternommen wurde“. Das Programm umfasst auch Fliegerbomben vom Typ B-61 und wird künftig deren Einsatz mittels des modernsten amerikanischen Mehrzweckkampfflugzeuges F-35 ermöglichen. (Die amerikanischen Restbestände an taktischen Kernwaffen in Europa bestehen ausschließlich aus B-61-Bomben.)
Innerhalb der NATO sind in den vergangenen Jahren die Bundesrepublik, Belgien und die Niederlande (alles Stationierungsländer von US-Kernwaffen) sowie weitere Paktstaaten wiederholt aktiv geworden, um einen vollständigen Abzug der letzten US-Kernwaffen aus Europa zu erreichen. (Von „drängen“ mag man angesichts der wenig nachdrücklichen Manier, in der das geschehen ist, allerdings nicht sprechen.) Das war auch im Vorfeld der Verabschiedung der neuen NATO-Strategie auf dem Pakt-Gipfel in Lissabon im November 2010 der Fall.
Ihrer ablehnenden Haltung gegenüber derartigen Initiativen haben die USA auf dem Außenministertreffen der NATO in Tallinn im April 2010 sehr wirksam Ausdruck verliehen – durch ein informelles Übereinkommen aller Teilnehmer, auch der Bundesrepublik, dem zufolge künftig keine Kernwaffen aus Europa mehr abgezogen werden sollen, wenn dem nicht alle 28 NATO-Mitgliedsstaaten zustimmt haben. Das wird Washington im Falle weiterer Abzugsvorstöße von Verbündeten ein harsches Nein ersparen, denn auf die russophoben neuen NATO-Mitglieder etwa aus dem Baltikum dürfte in dieser Hinsicht Verlass sein.
Obwohl selbst in der NATO praktisch Konsens darüber besteht, dass die verbliebenen taktischen US-Kernwaffen in Europa militärisch irrelevant sind, weil sie mit den vorhandenen Trägersystemen in keinem denkbaren Szenario zu sinnvollen Zielorten zu transportieren wären, argumentieren die Gegner eines restlosen Abzugs in diesem Zusammenhang geradezu gebetsmühlenartig mit dem Hinweis auf die so genannte erweiterte Abschreckung: Diese Waffen würden die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Engagements für die Sicherheit in Europa demonstrieren und potenzielle nukleare Angreifer von Attacken gegen die Stationierungsländer abschrecken. (Auch die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Thomas de Maizière vom 18. Mai lassen sich als Bekenntnis in diesem Sinne lesen.) Ein schwaches Argument wird jedoch durch Wiederholung nicht stärker. Über 20 europäische NATO-Staaten kommen – zum Teil seit Jahrzehnten – ohne die Stationierung von US-Kernwaffen aus, und die strategischen Systeme der USA, aber auch Großbritanniens und Frankreichs sind – nach Abschreckungskriterien – ein weit mächtigerer Schirm als 200 taktische Gefechtsköpfe ohne sinnvolle Zieloptionen.
Die Frage, ob der Westen insgesamt ein Interesse am nachhaltigen weiteren Abbau der taktischen Nuklearwaffen haben und entsprechend agieren sollte, ist eindeutig mit Ja zu beantworten – aus Gründen der Erhaltung und Stärkung des internationalen Nichtweiterverbreitungsregimes und für die europäischen NATO-Staaten allein wegen der geostrategischen Nachbarschaft zu Russland. Ansatzpunkte, um diesem Ziel näherzukommen, sind in mehrfacher Hinsicht gegeben:
– Russland sollte nicht mehr nur verbal sondern tatsächlich eine Sicherheitspartnerschaft angeboten werden, die der Erkenntnis Rechnung trägt, dass Sicherheit in und für Europa nicht ohne und schon gar nicht gegen Russland zu haben ist. Die russische Initiative für eine euro-atlantische Sicherheitsgemeinschaft (siehe Das Blättchen Nr. 18 vom 13. September 2010) sollte endlich substanziell ausgelotet werden.
– Wenn Russland die Perspektive einer NATO-Mitgliedschaft angeboten würde – diese Idee ist auch im Blättchen bereits wiederholt beleuchtet worden (siehe zum Beispiel Nr. 16 vom 3. August 2009) – würde das den gesamten Komplex der internationalen Sicherheit und der Abrüstung in eine neues Koordinatensystem stellen, das sich sehr förderlich auswirken könnte.
– Eine Wiederaufnahme der Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa ist dringend geboten, da die NATO in diesem Bereich inzwischen Russland qualitativ und quantitativ derart überlegen ist, dass ohne Bewegung auf diesem Gebiet ein grundlegender Durchbruch bei taktischen Kernwaffen kaum vorstellbar ist.
– Wer mit gezinkten Karten spielt, darf sich nicht wundern, wenn die andere Seite dicht macht. Das aktuelle Verhalten der USA und der NATO in Sachen Raketenabwehr birgt ein hohes Risiko in sich, genau eine solche Gegenreaktion zu provozieren. Erst beim NATO-Gipfel in Lissabon war Russland scheinbar erneut eine Kooperation beim Aufbau von Raketenabwehrsystemen angeboten worden. Nun aber häufen sich die Indizien, dass zu einer gleichberechtigten Zusammenarbeit gar keine Bereitschaft besteht und Russland bestenfalls in der Rolle eines nachgeordneten Juniorpartners, der sich in die amerikanischen Pläne einordnen soll, gesehen wird. Die Frage der Raketenabwehr wäre fast schon zum Stolperstein für den New START-Vertrag über die strategischen Waffen beider Seiten geworden. Sie wird es umso mehr für jegliche künftige Übereinkommen werden.
– Um Russland konkret zur Aufnahme von Verhandlungen über taktische Kernwaffen zu veranlassen, wäre der Abzug der letzten US-Systeme aus Europa ein wirkungsvoller Schritt, der ohne jegliche Sicherheitseinbußen für die NATO gegangen werden könnte. Ein solcher Abzug wäre zugleich die Voraussetzung dafür, Russland – als stabilisierenden Zwischenschritt – zu einer Verlagerung seiner Bestände in zentrale Depots im asiatischen Teil Russlands, hinter den Ural, aufzufordern.
– Wenn man sich darüber hinaus von der Erkenntnis leiten ließe, dass taktische Kernwaffen Muster ohne militärischen Wert sind und nicht ihre gegenseitige Ausbalancierung wirklichen sicherheitspolitischen Fortschritt brächte, sondern nur ihre Abschaffung, dann wäre sogar eine einseitige und bedingungslose vollständige Abrüstung dieser Systeme durch die USA vorstellbar. Selbst wenn Russland darauf nicht konstruktiv reagierte, würde das angesichts der Tatsache, dass die USA etwa 2.000 strategische Sprengköpfe mehr in Reserve halten als Russland, zu keiner Schwächung des Westens führen.
Fortschritte sind letztlich an die Voraussetzung geknüpft, dass auch Russland das Gefühl einer angemessenen Berücksichtigung seiner Sicherheitsinteressen hat, denn für Abrüstungsvereinbarungen gilt wie schon in der Vergangenheit: It takes two for a tango.