In Bewegung

Reiseräume in Zeiten von Flucht und Freizeit

Selten werden die Phänomene Tourismus, Flucht und Migration in einem Satz genannt. Dabei haben sie durchaus Berührungspunkte: Ihre Wege kreuzen sich an Grenzposten und auf Passagen. Diese Kontaktzonen sind prädestiniert für Konflikte. Doch ebenso können sich aus dem Aufeinandertreffen solidarische Perspektiven für das Recht auf Freizügigkeit ergeben.

Léopold-Sédar-Senghor International Airport (Dakar) im August 2013: Fluggäste aus Europa warten nach Mitternacht über zwei Stunden in einer Schlange vor der Passkontrolle. Es plagt sie die Unsicherheit, ob das zuvor online bestellte und per Kreditkarte bezahlte Visum auch wirklich auf dem Bildschirm des Zollbeamten abrufbar ist. Hinzu kommt die scheinbare Willkür, mit der ein Visa-Stempel laut in den Pass von nichteuropäischen Mitreisenden gehauen wird, während andere Fluggäste mit europäischem Reisepass sichtlich nervös werden. Die wenig gesprächigen SicherheitsbeamtInnen hinter der Glasscheibe erklären: Ohne Visum keine Einreise! Und das, während Staatsangehörige der Länder der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) flugs die Grenze passieren.

Damals waren die oft tödlich endenden Überfahrten über das Mittelmeer als Folge des europäischen Grenzkontrollregimes bereits seit Monaten ein Thema in den Medien. In Europa wurde ausführlich über hohe Flüchtlingszahlen aus Westafrika berichtet. So auch in jenem Sommer 2013, als der Senegal die Visumspflicht für alle EU-BürgerInnen einführte. Als einfache Retourkutsche konnte diese aber kaum gelten: Die Privilegien der Freizügigkeit blieben auch anschließend ungleich verteilt. Während europäische TouristInnen ein Visum für den Senegal für kaum schmerzliche 60 Euro erwerben konnten, bleibt denjenigen, die sich vom Senegal aus auf den Weg nach Europa gemacht haben, die Hightech-Grenzzäune in Melilla und Ceuta überwanden oder in einem Boot eine europäische Insel erreichten, ein entwürdigendes, Jahre dauerndes und oft erfolgloses Ringen um einen legalen Aufenthalt.1

Die klassische Urlaubsreise in die häufig als fremd und exotisch markierte, als erholsam oder abenteuerlich erwünschte Ferne, von Hans Magnus Enzensberger als »Flucht aus dem Alltag« bezeichnet, kann als eine von dem gewerkschaftlich hart erkämpften Recht auf Urlaub gerahmte Bewegungsweise bezeichnet werden. Diese verläuft hin zu einem Ort, der eine Kompensation für das Leben zu Hause bieten soll, ein geregelter Ausbruch aus der strengen Taktung des Arbeitslebens. Hin in einen »Raum der Illusion für eine begrenzte Zeit« (Foucault), zumeist abgesichert mit Reiseversicherung und Rückflugticket. Diese Form des privilegierten Reisens, das fast immer unter dem Freizeit-statt-Arbeit Nexus steht, hat mit der Bewegung von Menschen auf der Flucht oder der Suche nach einer neuen Existenzgrundlage auf den ersten Blick nichts gemein. Wenngleich auch sie – bei aller Unterschiedlichkeit der Gründe für migrantische Bewegung – meist auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Die einen wollen der Routine entkommen, die anderen suchen darin Sicherheit. Das Betreten der Sehnsuchtsräume ist an diverse Eintrittsbedingungen geknüpft. Dabei sind die Deutschen 2016 nach dem Visa Restrictions Index im Besitz des »mächtigsten Reisepasses der Welt«, der das Privileg zur visafreien Einreise in 176 Länder garantiert. Ein somalischer Reisepass hingegen erlaubt eine visafreie Grenzpassage für nur 29 Länder, der senegalesische Pass liegt mit Platz 83 im Mittelfeld.2

Für die einen ist der Weg begleitet von der Gefahr todbringender Bootsreisen oder mehrjähriger Gefängnisstrafen, für die anderen stehen »die besten Tage im Jahr« für Luxus und Sorgenfreiheit. Wenn die Bedingungen der Passage so diametral entgegengesetzt sind, warum sollte man sich mit den Paralleluniversen dieser gesellschaftlichen Bewegungen beschäftigen? Zumindest ist die Sicherheit der UrlaubstouristInnen trügerisch. Davon zeugen Anschläge auf Hotels auf dem Sinai oder in Tunesien, aber auch auf U-Bahnen und Züge (London, Madrid), Moscheen (Istanbul) und Nachtclubs (Paris, Istanbul). Der islamistische Terroranschlag in Bali 2002 war eindeutig gegen die australischen TouristInnen gerichtet. Eine SelbstmordattentäterIn wählt einen symbolischen Ort für die Tat des Grauens, letztlich macht er oder sie aber keinen Unterschied zwischen syrischen Geflüchteten, pilgernd Reisenden und Städtetourenden, die das Nachtleben suchen (siehe Seite 32).

Wenn Wege sich kreuzen

Die Welt ist so sehr in Bewegung, dass immer mehr Orte mit der touristischen, migrantischen und flüchtenden Gesellschaft gleichzeitig konfrontiert sind. Teilweise bewegen sich die Flüchtenden, MigrantInnen und TouristInnen entlang ähnlicher Routen, sie benutzen die gleiche Infrastruktur wie Züge, Busse und Unterkünfte. Sie treffen sich an Häfen, Bahnhöfen und Grenzübergängen. Laut und heftig fallen die Konflikte aus, wenn die Fluchtbewegung in einer Tourismusdestination erstarrt, wenn Flüchtende an touristischen Sehnsuchtsorten stranden und die »Illusion vom Paradies« – und die aus ihr erzielten finanziellen Gewinne – »stören«. Über das Aufeinandertreffen von TouristInnen und Geflüchteten wird oft mit moralischem Unterton berichtet. Das zeitliche und räumliche Nebeneinander der Urlaubs- und Freizeitwelten auf der einen und die provisorischen Existenzbedingungen der Geflüchteten auf der anderen Seite verspricht Stoff für mediale Aufmerksamkeit. Und tatsächlich frönen viele Internet-Portale dem Bedürfnis nach Voyeurismus mit Bildern von gaffenden Badegästen vor den nackten Existenzen der Geflüchteten.

Das Tourismusmanagement beklagt Gewinneinbrüche. So fürchtet die europäische Reisebranche, einer der weltweit größten und beschäftigungsintensivsten Wirtschaftszweige überhaupt, spätestens seit der »Flüchtlingskrise im Sommer 2015« herbe Verluste. Aufgrund der »weltweiten Berichterstattung über die Flüchtlingsströme«, so der Fernsehsender N24, »verliere Europa an Attraktivität bei internationalen Reisenden«. Gerade in Griechenland, wo der Tourismus rund 25 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beiträgt, kann die Flüchtlingskrise das wirtschaftlich angeschlagene Land schwächen, so der Tenor in den Debatten 2015/16. Implizit wird hier die Not verarmter GriechInnen gegen die Not von Flüchtenden gesetzt. Die Inseln Lesbos und Lampedusa stehen stellvertretend für die zahlreichen Orte, an denen sich der Streit »Tourismus versus humanitäre Hilfe für Geflüchtete« zugespitzt hat (siehe Seite 24-28). Auch andernorts werden diese Konflikte ausgetragen, etwa an den Stränden der indischen Inselgruppe der Andamanden. Dort bangt die Tourismusindustrie, dass die Leichen burmesischer Bootsflüchtlinge dem Geschäft schaden. In den Überseegebieten Frankreichs spielt der Tourismus auch im Sicherheitssektor seinen Part: Das Verspechen von Marine le Pen im Wahlkampf 2016, die Sicherheitskontrollen auf dem Meer zwischen Madagaskar und Réunion, Mosambik und Mayotte zu verstärken, hatte nicht nur den Hintergrund, die französischen Überseegebiete vor nichteuropäischer Einwanderung abzuschotten. Mit den Kontrollen sollte auch der Tourismus vor »Fremden« geschont werden. Die Tourismusindustrie hat mit der Skepsis gegenüber Geflüchteten ihre Geschäftsinteressen im Blick. Zugleich wird die Branche von der Politik für nationalistische Abschottung vorgeschoben.

Der auf Hauswände in Barcelona oder Athen gesprayte Tag »Tourists go home – Refugees welcome« zeugt von einem anderen Dilemma. Er steht für eine Haltung, die in der Figur der TouristIn das Kondensat der herrschenden Ungerechtigkeit sieht. So selbstverständlich es sein sollte, touristische Infrastruktur in Anbetracht der humanitären Notlage für die Versorgung von Geflüchteten bereitzustellen, so undifferenziert ist doch der Aufruf, der eben auch fremdenfeindlich klingt. Derlei Slogans markieren leichtfertig die TouristInnen als Wurzel des Übels. Dabei werden strukturelle Ungleichheiten der globalen Gesellschaft, die so gegensätzliche Phänomene wie Flucht und Tourismus hervorbringt, auf individuelles vorgebliches Fehlverhalten projiziert.

Zweifellos ist es geschmacklos, wenn sich Urlaubssuchende als FotografInnen des anstrandenden Elends betätigen oder vor erschöpften Existenzen einen Sundowner an der Bar einnehmen. Die oft schrägen Begegnungen, die sich in der Kontaktzone zwischen Urlaubsreisenden und Geflüchteten ereignen, sind jedoch primär Ausdruck der Ungleichheit an Chancen, an Bewegungsfreiheit, an der unterschiedlichen Handhabung des Rechtes auf Freizügigkeit, das Menschen in Bewegung je nach Herkunft einschränkt oder privilegiert. Touristisches Erleben wäre allen zu wünschen, die Flucht niemandem.

Beweggründe transnationaler Mobilität

Wer aus welchen Gründen unterwegs ist, lässt sich nicht immer in touristische oder migrantische Motive auseinanderdividieren. So reisen zahlreiche MigrantInnen als (billige) Arbeitskräfte in die Urlaubsorte (siehe Seite 23) und sorgen im Backstage-Bereich der Hotelburgen als Küchen- oder Reinigungskräfte für einen reibungslosen Ablauf. Sobald sie aus dem unsichtbaren Bereich heraustreten, können gesellschaftliche Konflikte folgen: TouristInnen fühlen sich von StraßenhändlerInnen belästigt, Sicherheitskräfte vertreiben ‚Beach-Boys‘ und SouvenirverkäuferInnen. Eine andere Art von Sichtbarkeit sind etwa folkloristische Musik- und Tanzvorführungen am Abend auf dem Kreuzfahrtschiff. Sie sind zwar unterhaltsam für die Zuschauenden, ernten jedoch auch – nur andere – Kritik. Die Darbietungen entsprechen dem Bedürfnis der UrlauberInnen nach Exotik, spiegeln aber nicht die multiplen Identitätsentwürfe und schon gar nicht den Alltag der Menschen wider, die in den Tourismusdestinationen arbeiten. Vielmehr reproduzieren sie rassistische Blicke auf die Anderen und bedienen postkoloniale Bilderwelten (vgl. iz3w 291). Für eine Begegnung auf Augenhöhe stehen auch sie nicht.                                                                                   t

Kontaktzonen des Austauschs gibt es dennoch. Das Unterwegssein ist nicht entweder auf das Genießen der Freizeit im touristischen Setting, oder in der Migration allein auf die Arbeit beschränkt. Wenngleich der eigentliche Sehnsuchtsort von Geflüchteten und MigrantInnen oft außerhalb der touristischen Hotspots liegt, treffen die Menschen aufeinander und kommen ins Gespräch. Syrische Flüchtlingsfamilien besuchen die Akropolis, Kinder der früheren Gastarbeitergeneration reisen in das Geburtsland ihrer Eltern, der Rückkehrtourismus wächst angesichts der vielfältigen Herkunftsgeschichten der EuropäerInnen (siehe Seite 35). Die Posts und »Ich-war-da«-Fotos von Geflüchteten und TouristInnen auf Facebook und Instagram an die Daheimgebliebenen sind oftmals verblüffend ähnlich inszeniert.

Tourismus kann auch Abwanderung auslösen: Migrantische Arbeitskräfte – zum Beispiel die aus Myanmar kommenden Servicekräfte im thailändischen Badetourismus oder SexarbeiterInnen aus Kambodscha – beschließen, in ein Herkunftsland der TouristInnen nach Europa zu migrieren. Pflegebedürftige alte Menschen aus Europa verbringen ihren Lebensabend in Thailand, da hier die Pflege billiger ist als zu Hause. TouristInnen eignen sich ihr Bild über die »Anderen«, ihr Wissen über MigrantInnen, oft auf Reisen an. Die JobberInnen aus Übersee, die im Hotelgewerbe in Europa arbeiten, rasten und weiterziehen, sind kein neues Phänomen. Vom Unterwegssein handelt schon die Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts« von Joseph von Eichendorff (1822). Freiwillige reisen für ein Jahr in ein Land des Globalen Südens, in solidarischer Absicht oder um eine Arbeitserfahrung mehr im Lebenslauf auflisten zu können. Diese Form des Solidaritätstourismus hat inzwischen ein Pendant entwickelt: Freiwillige aus dem Süden kommen für ein Jahr nach Europa, um Vögel zu schützen, Kinder zu betreuen oder Kulturprojekte mitzugestalten. Die »Work-and-Travel« Visa erlauben neue Formen des Unterwegsseins. Alle diese »Reisen« fallen, insofern sie nicht länger als ein Jahr dauern, in die Kategorie des internationalen Tourismus mit 1,23 Milliarden grenzüberschreitenden Reiseankünften weltweit im Jahr 2016 (Welttourismusorganisation WTO). Transnationale Erfahrungen, so unterschiedlich sie sein mögen, werden nicht weniger. Der kritische Punkt ist die Verteilung von Privilegien und Rechten in diesen transnationalen Erfahrungswelten, wer mit welchem Aufwand und unter welchen Prämissen Zugang hat, ob freiwillig oder gezwungen.

Potential für solidarisches Handeln

Paradoxerweise findet, wenn sich die Wege von Tourismus, Flucht und Migration kreuzen, selten eine Begegnung statt. Oft verstärkt das Aufeinandertreffen die vorgeprägten Blicke auf die jeweils anderen. So haben die großen Medien beharrlich den dominanten Opferblick der westlichen Gemeinschaft auf die von Not und Gewalt Getriebenen bedient – etwa in Bildern mit flehenden Augen, bettelnden Gesten und frierenden Kinderleibern. Handelnde, protestierende, fordernde oder anpackende Geflüchtete sind viel seltener Gegenstand von Fotoreportagen. Die schiere Masse an Fotos von BittstellerInnen trägt dazu bei, das Selbstbild der überlegenen EuropäerIn zu festigen. Die fotografischen Begleitreisen entlang der Migrationsrouten auf dem Balkan, durch die Sahara oder der Zugverbindung in Mexiko Richtung US-Grenze, sind hingegen in empathischer Absicht angetreten worden. Im Vergleich zu den Bildern von Nachtsichtgeräten und Wärmekameras, die Flüchtende im Moment der Grenzpassage ablichten, dem oft heikelsten Moment ihrer »Reise«, stehen diese Fotoserien im Kontext ihrer medialen Rahmung ästhetisch eher dem Reisegenre nahe.

Das eurozentrische Selbstbild der Überlegenheit kann auch mitschwingen, wenn TouristInnen ihre »wertvollsten Tage« in der Flüchtlingshilfe verbringen – etwa auf Lesbos hinter der Spüle einer Suppenküche für Geflüchtete, oder als Freiwillige im inzwischen geräumten »Jungle« in Calais (siehe Seite 29). Oder wenn sie in ihren Segeljachten Flüchtende in europäische Gewässer bringen oder die von manchen Fluggesellschaften erlaubten zehn Kilogramm Extragepäck mit Kleidung und Spielzeug für Flüchtlingskinder mitführen. Der Missstand, dass eine straffreie Mobilität unter den Menschen so ungleich verteilt ist, lässt wenigstens ein Potential für solidarisches Handeln übrig. Trotz der Tatsache, dass das »Einschleusen von Ausländern« nach §96 des Aufenthaltsgesetzes strafbar ist, hat die Initiative »Werde Fluchthelfer.in« 3 die Parallelität der Welten von Flucht, Migration und Tourismus ein wenig aufgebrochen: EU-BürgerInnen nehmen als Reisende in ihren privaten PKWs Flüchtende mit über die Grenzen. Als Kampagne angelegt, deklariert die Initiative die Fluchthilfe zum politischen Statement für Bewegungsfreiheit und als Aktion zivilen Ungehorsams.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, warum sich der Blick auf die Gesellschaft in Bewegung lohnt. Eine Erkundung der vielfältigen sozialen und kulturellen Reise(t)räume, die sich manchmal ungewollt überschneiden oder berühren, reiben oder auch solidarische Aktionen erlauben, war der Ausgangspunkt dieses Themenschwerpunktes.

 

Anmerkungen

1             Die Zahl der Einreisenden in den Senegal nahm innerhalb eines Jahres um 230.000 ab – was den Tourismus empfindlich getroffen hat. Im Mai 2015 wurde die Visumspflicht für EU-BürgerInnen wieder aufgehoben.

2             www.visaindex.com

3             www.fluchthelfer.in

Literatur

Tom Holert / Mark Terkessides: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen. KiWi Paperback, 2006

 

Martina Backes ist Mitarbeiterin im iz3w.