„Nichts als die Wirklichkeit“

Interview mit Jean-Marie Etter über Radios in Konfliktregionen

In Zeiten kriegerischer Konflikte spielt das Radio insbesondere in abgelegenen Regionen eine oft wichtige Rolle - sowohl bei gewaltsamen Auseinandersetzungen als auch angesichts autoritärer Herrschaft. Aber auch die Arbeit mit dem Medium Radio in friedensfördernder Absicht hat ihre Fallstricke. Die Fondation Hirondelle unterstützt seit 1995 in dieser Absicht zahlreiche Radioprogramme sowie Sender in 15 Ländern. Sie beruft sich auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte - auf das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Informationsrecht. Wir sprachen mit Jean-Marie Etter, dem Gründer, über die Aufgaben und Risiken eines Radiosenders inmitten kriegerischer Atmosphäre.

 

iz3w: Was bedeutet es konkret, ein Radio – oder einen mobilen Piratensender - in einer Konfliktregion aufzubauen?

Jean-Marie Etter: Die größte Herausforderung ist es, zu überprüfen, ob die Arbeit wirklich für die Bevölkerung vorteilhaft ist. Wir würden aus diesem Grunde auf keinen Fall ein Piratenradio unterstützen. Denn in einem Konflikt ist entscheidend, dass alle über die Identität des Senders aufgeklärt sind und keine Zweifel hegen, weder die Regierung, die Konfliktparteien noch die Bevölkerung. Um es zugespitzt zu formulieren: Eine gute JournalistIn muss leicht zu verhaften sein. Sonst bist du als ReporterIn für diese Situation nicht geeignet. Denn auch die ZuhörerInnen können leicht verhaftet werden, und wenn du mit ihnen sprechen willst, dann musst du ihren Lebensalltag teilen und ihre Lage mitempfinden. Das ist die Basis deiner Glaubwürdigkeit – und gleichzeitig das Hauptproblem.

Partner vor Ort zu finden ist hingegen nicht schwer, schwieriger ist es, überhaupt Fördergelder für Radioarbeit in Konfliktregionen aufzutreiben. Oft muss ein neues Studio aufgebaut werden, oder man kooperiert mit einem bereits existierenden Sender, wobei dann sicherzustellen gilt, dass die eigenen Produkte auch unverändert ausgestrahlt und nicht manipuliert werden.

Wie entscheiden Sie darüber, ob Sie lieber mit einem Community Radio, einem öffentlichen Sender oder einem UN-Radio zusammenarbeiten? Warum haben Sie in Burkina Faso zur Zeit der Wahlvorbereitung mit einem öffentlichen Sender kooperiert?

Eigentlich unterstützen wir keine öffentlichen Sender, weil die Beziehungen zu den Medien in einem Land in der Regel nicht getrennt von den politischen Realitäten funktionieren. Schon gar nicht in einem Land im Kriegszustand. Hier trifft man bisweilen auf sehr enge Verbindungen zwischen den Behörden und den Medien. Wollte man das ändern, müsste man eine Regierung dazu veranlassen, ein neues Mediengesetz zu erlassen – und das ist eigentlich unmöglich. In den meisten Konfliktregionen unterhalten die Sender eine sehr direkte Verbindung zur Regierung, insbesondere wenn letztere autoritär ist. In Tunesien und Burkina Faso haben wir dennoch mit öffentlichen Sendern zusammengearbeitet. In beiden Ländern kam es zu tiefgreifenden politischen Veränderungen, die von einer starken sozialen Bewegung auf der Straße getragen wurden.

In Burkina Faso spielte sich ein bewundernswerter Wandel ab, die Bevölkerung ging in die TV-Anstalten und beschlagnahmte Sender. Sie warf den Redaktionen vor, sie seien Marionetten der autoritären Regierung. Heute sehen die dort arbeitenden JournalistInnen ihre Aufgabe in einer deutlich distanzierteren Berichterstattung, und dies war entscheidend dafür, dass wir hier eine Ausnahme gemacht haben. Das Land steht vor großen Herausforderungen, die ökonomische Lage ist prekär und die politisch Verantwortlichen sind es gewohnt, auf autoritäre Weise zu regieren. Doch viele Medien ziehen hierbei nicht mehr mit.

Wie garantieren Sie die Sicherheit der RadiomitarbeiterInnen in Konfliktregionen?

Die erste Regel im Sinne der Sicherheit ist die Glaubwürdigkeit des Radios. Was JournalistInnen sagen, darf nicht als voreingenommen oder parteiisch gelten. Sie dürfen den ZuhörerInnen nicht das Gefühl vermitteln, dass sie es sind, die die Wahrheit arrangieren oder gar Lügen präsentieren. Wenn sie wirklich glaubwürdig sind und nichts als die Wahrheit berichten, wird auch die Anhängerschaft einer bewaffneten Gruppe oder das Militär größere Schwierigkeiten haben, sie zu beseitigen.

Allerdings sind Prioritäten und Perspektiven in der Regel sehr unterschiedlich, jede Seite vertritt ihre eigene Wahrheit. Wie kann ein Radio in einer Krisensituation mit diesen Widersprüchen umgehen?

Nun, es gibt nur eine faktische Wahrheit. Aber es gibt viele Dinge, die verschwiegen werden sollen. Das ist ein Problem, dennoch ist die faktenbasierte Information der beste Weg. Präsident Kabila in der DR Kongo zum Beispiel beklagte, er möge Radio Okapi nicht, das sei ein „fremder“ Sender. Doch als es dann ein Problem mit seinem persönlichen Sicherheitspersonal gab und das Gerücht kursierte, es habe eine blutige Schießerei im Präsidialbüro gegeben, nahmen wir uns die Zeit, herauszufinden, was eigentlich genau passiert war. Tatsache war, dass die Soldaten nur Schüsse in die Luft abgegeben hatten und es keinen Anschlag gab. Kabila hörte genau zu, was das Radio zu sagen hatte, und seither verstand auch er, dass wir gut recherchierte, wahrheitsgemäße Informationen veröffentlichen. Wenn die Leute sicher sind, dass ein Sender nach der Wahrheit sucht, ist das der beste Schutz überhaupt.

Selbst wenn man sich an die Fakten hält und gut recherchiert, bleibt immer die Frage, wie diese interpretiert werden. Wie geht ein Friedensradio mit Meinungen und Kommentaren unterschiedlicher AkteurInnen um, mit denen es in einer Konfliktsituation konfrontiert wird?

Eine erste Regel ist, dass Kommentare von unserer Seite strikt verboten sind. Wir halten uns an die Ereignisse und verbieten uns, sie zu kommentieren. Die Fakten müssen so genau und unmissverständlich wie möglich kommuniziert werden, dann erläutern wir noch den Kontext, was an sich schon eine empfindliche Angelegenheit sein kann. Natürlich gibt es unterschiedliche Seiten, Meinungen, Betrachtungsweisen, deshalb machen wir ja Radio in Konfliktländern.  Wenn ich persönlich davon überzeugt bin, dass eine bestimmte Verhaltensweise schädlich ist, muss ich das aber nicht öffentlich über den Äther verurteilen. Stattdessen kann ich diese Meinung mit der eines anderen Akteurs konfrontieren, indem ich eine Debatte initiiere.

Ein Beispiel: In Mali stellte sich uns erst kürzlich die Frage, wie man angemessen über islamistischen Terror  berichten kann. Eine Möglichkeit wäre, die Position der Regierung mit der einer islamistischen Gruppe zu konfrontieren. Die andere – und für die Zuhörerschaft viel interessantere – ist die Gegenüberstellung von zwei islamischen Positionen: Eine, die extremistisch und der Gewalt nicht abgeneigt ist, und eine moderate, die Gewalt ablehnt. Heraus kommt eine Debatte, die sich um soziale und religiöse Belange dreht, und dies trifft das Bedürfnis der Bevölkerung, die direkt in den Konflikt involviert ist, viel eher als die persönliche Meinung einer ReporterIn. Und auch für die anderen Regionen im Land ist diese Debatte bedeutsam, denn so wird erkennbar, dass es auch innerhalb der muslimischen Bevölkerung Meinungsverschiedenheiten gibt und nicht alle der Gewalt das Wort reden. Es macht also Sinn, zum Beispiel die Bedeutung des Begriffs Dschihad zu diskutieren, um zu verstehen, warum manche Menschen gewaltsam kämpfen und andere nicht.

Und wie gehen sie mit der Propaganda und den Forderungen von Konfliktparteien um, deren Positionen ihnen zu weit gehen, die sie aber zwingen, ihre Parolen auszustrahlen?

Das kommt nicht oft vor. Dazu ein Beispiel aus Liberia aus der Zeit der Diktatur unter Charles Taylor, der seine eigene Ideologie und Propaganda hatte und keine andere Meinung neben ihm akzeptierte. Das von uns unterstützte, unabhängige Radio Star sendete ab 1997 vorwiegend Nachrichtenformate, also Fakten. Ich kann nicht behaupten, diese seinen gänzlich objektiv, denn Objektivität als solche gibt es nicht, aber sie waren so wahrheitsgetreu an den realen Ereignissen orientiert wie nur möglich. Taylor versuchte, das Radio zu schließen und hatte schließlich 2002 auch Erfolg, aber er versuchte nie, uns zu nötigen, dies oder jenes zu sagen oder zu verschweigen. Er war sich darüber bewusst, dass das nahezu unmöglich sein würde.

In einem anderen Fall wurden wir vom Militär überrascht: Beim Radio Agatashya, dem ersten Sender in Bukavu im damaligen Zaire, wollte die Präsidentengarde den Direktor dazu bewegen, eine offizielle Verlautbarung zu veröffentlichen. Eine Gruppe von schwer bewaffneten Soldaten marschierte direkt ins Studio und wollte den Direktor des Senders zwingen, das Kommuniqué zu verlesen. Der Direktor reagierte klug, er schaute auf den Text und meinte, er sei sprachlich nicht treffend formuliert, das könne so niemand verstehen. Sein Vorschlag: Haben Sie vielleicht ein paar Minuten Zeit, dann setzen wir uns zusammen und überarbeiten die Sprache. Der Gruppenführer war erst erstaunt, willigte aber ein. Es folgte eine lange Diskussion, oder besser, eine Lektion in Französisch, der Offizier verließ irgendwann die Räume, das Kommuniqué wurde nie verlesen.

Terroristische Gruppen wie Boko Haram würden doch nie auf eine solche Taktik eingehen, wenn sie ihre Propaganda verkünden lassen wollen.

Ja, Boko Haram würde Ihnen nichts vorschlagen oder sich vorschlagen lassen, sondern direkt auf Sie schießen, ohne jegliche Erklärung. Man kann nie wissen oder vorhersagen, wann eine Gruppe wie Boko Haram einen Anschlag gegen einen Sender verübt und wann nicht. Es gibt kein sicheres Entrinnen vor gewaltsamer Willkür. Doch es steht uns nicht an, in der Rolle als JournalistInnen die Welt in Gut und Böse einzuteilen, wir müssen in Konfliktregionen zu allen sprechen. Der Schlüssel dazu ist, der Wahrheit treu zu bleiben. Nur so bleiben Sie glaubwürdig, und dann müssen Gruppen wie Boko Haram sich fragen, ob sie es riskieren, ein Radio unter Beschuss zu nehmen, das unter der Bevölkerung Ansehen genießt. Man kann nicht wissen, wie sie reagieren, aber aus meiner Erfahrung muss ich sagen, dass überall dort, wo JournalistInnen verhaftet und später wieder freigelassen wurden, sie großen Respekt genießen.

In den vergangenen zwanzig Jahren sind rund die Hälfte aller JournalistInnen, mit denen wir zusammenarbeiten, bedroht worden, oftmals über Telefonate. Auch ihre Angehörigen wurden bedroht. In der Zentralafrikanischen Republik wurden RadiojournalistInnen jüngst geschlagen, in Sierra Leone wurden sie als Geiseln genommen. Es gibt also extrem gewaltsame Konfrontationen. Im Kongo wurden zwei Mitarbeiter erschossen: Serge Maheshe  im Juni 2007 und Didace Namujimbo im November 2008. Ihre Situation im Konflikt ist extrem schwierig, wenn sie die Gewalt und die Risiken der Arbeit berücksichtigen, doch sie genießen großen Respekt und Ansehen. Klar, die Reporter sind Bedrohungen ausgesetzt, aber in der Regel können sie dennoch ihre Arbeit weiter tun. Radio Okapi, der von der MONUSC finanzierte Sender in der DR Kongo, wurde von der Fondation Hirondelle entworfen, aufgebaut und redaktionell betreut, er sendet seit 2002 Nachrichtenformate und erreicht 14 Millionen ZuhörerInnen, hier arbeiten 150 JournalistInnen.

Ein anderes Problem der so genannten Medienentwicklungszusammenarbeit ist die Ablehnung, auf die AkteurInnen aus dem Westen oft stoßen. Oft kommt die finanzielle Unterstützung aus dem Westen, ebenso das technische Know How, und auch die Sendeformate wurden oft in den Ländern der ehemaligen Kolonisatoren geprägt. Was bedeutet es für einen Sender mit friedensstiftendem Auftrag, in diese postkoloniale Beziehung eingebettet zu sein? Wie begegnen Sie dem Vorwurf des Paternalismus?

Diese Frage hat mehrere Dimensionen. Aus meiner Sicht ist der wichtigste Punkt, dass alle RadiosprecherInnen und alle, die im Gelände recherchieren, aus dem betreffenden Land oder sogar der Region sind. Das ist unser Konzept: Die ReporterInnen sprechen die lokalen Sprachen und berichten über die lokale Realität, sie leben unter den gleichen Bedingungen wie die Menschen, mit denen sie sprechen und über die sie berichten. Die Beziehung zwischen MedienmacherInnen und Publikum ist entscheidend für die Glaubwürdigkeit, beim Hörfunk wie auch beim Print. Allerdings ist die Intensität beim Radio größer. Gelingt das, dann werden JournalistInnen aus dem jeweiligen Land nicht als Fremde empfunden, selbst wenn das Geld für ein Radio aus dem Ausland kommt – was ohnehin alle wissen. Aber solange das Produkt, die Sendung, im lokalen Kontext verortet ist, kommt der Vorwurf des Kolonialismus oder Paternalismus nicht auf.

Vorsicht ist eher auf der anderen Seite geboten: Diejenigen, die einen Sender in einer Konfliktsituation finanzieren, verstehen nur sehr selten, dass ein rein an Fakten orientierter Journalismus ein Wert für sich ist. Viele Stiftungen und Organisationen finanzieren Radioprogramme aus durchaus guten Gründen. Sie wollen zum Beispiel für Gendergerechtigkeit eintreten, sie bekämpfen Umweltskandale oder HIV-Aids und wollen Bildung über das Radio fördern. Sprich, sie haben oft gute Ideen, die für sich genommen richtig sind. Doch wenn man mit dieser Absicht im Kopf recherchiert und AkteurInnen befragt, verstehen die Befragten sofort, für welches Thema und für welche Idee hier Geld geflossen ist. Die lokale Bevölkerung empfindet derlei Programme als Propaganda aus dem Westen, und genau dann kommt das Gefühl von Kolonialismus auf.

Ein Beispiel aus Guinea zur Zeit der Ebola-Epidemie: Viele internationale Organisationen wollten Informationskampagnen starten und verlautbaren, was zu tun und zu lassen sei. In Guinea hat die Bevölkerung weitgehend so reagiert: Die Weißen kommen und lügen und wollen uns in eine Richtung pushen – der Verdacht, sie seien selber für die Epidemie verantwortlich, erhärtete sich. Die Hilfsaktionen aus dem Westen haben die kulturellen und sozialen Hintergründe der Gesellschaft in keiner Weise beachtet. Der Präsident Guineas hat unser Trainingsstudio Hirondelle, das Nachrichten über Sendeanstalten im ganzen Land ausstrahlt, gefragt, ob wir eine Idee hätten, was man in dieser Situation des Misstrauens tun könne. Wir befragen dann lokale Dorfvorsteher nach ihrer Meinung und Erfahrung mit der Krankheit, zum Beispiel, wie sie die daran Gestorbenen bestatten. Relativ schnell konnten wir Fußballstars, SchauspielerInnen oder Personen gewinnen, die genesen waren und ihre Erlebnisse während der Krankheit berichteten. Zu Wort kamen zudem Leute, die das Verhalten internationaler Organisationen als regelrechte Intervention empfunden haben. Das Programm wurde nach und nach angenommen, eben weil es nicht nach einer Verlautbarung klang, sondern eine journalistische Recherche war und die Sichtweisen und Erfahrungen direkt Betroffener im Vordergrund standen. Das funktionierte.

Die Liste der Radios, die von der Fondation Hirondelle unterstützt werden, verweist auf gewaltsamsten Konflikte der Welt: Osttimor, Mali, Zentralafrikanische Republik, Kosovo, Tunesien… Radio Miraya arbeitet in Sudan und Südsudan, zwei Ländern also, in denen das Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit heftig verletzt wird. Wie kann man dort arbeiten und was kann ein Sender in einer solchen Lage, in der die Atmosphäre regelrecht vergiftet ist, noch bewirken?

Als wir für Radio Miraya zuständig waren – also bis 2014 drei Jahre nach der Unabhängigkeit des Südsudan, gab es hohe Einschaltquoten, es war das landesweite UN-Radio und operierte als öffentliches Radio. Wir hatten eine eigene Charta und Redaktionsvereinbarung. Die Grundsätze beinhalteten, nur Fakten zu berichten, so ausführlich wie möglich und unparteiisch. Eine wichtige Regel war, mit Gemeinden im ganzen Land zu sprechen, und im Redaktionsteam mussten Personen aus allen Regionen und allen politischen sowie ethnischen und religiösen Lagern vertreten sein. Dieses gemischte Team ist der erste Realitätscheck. Hier konnten wir testen, ob das, was man sagen will, in einer Sprache, die einem selber völlig neutral oder belanglos erscheint, auch wirklich neutral ankommt. Ein bestimmtes Wort kann von einer anderen Gruppierung ganz anders wahrgenommen werden, eine andere Bedeutung haben als das, was man selber darunter versteht. So gab es auf den Redaktionssitzungen immer wieder Einsprüche und wir suchten dann gemeinsam nach einer Formulierung, die von allen akzeptiert wurde. So kommt man Schritt für Schritt dahin, eine gemeinsame Sprache zu entwickeln und über Dinge so zu sprechen, dass sie für alle in gleicher Weise nachvollziehbar sind und auch angenommen werden. Das ist absolut zentral in dieser Situation des Misstrauens.

Ohne transnationale Gerechtigkeit, ohne internationale Strafverfolgung und Aufklärung kann ein Konflikt möglicherweise nie gelöst werden. Wie können Radios transnationale Gerechtigkeit unterstützen?

In einem Land, in dem Genozide verübt wurden, haben die Menschen oft weithin das Gefühl, dass ihnen niemand zuhört, dass sie keine Stimme haben. Sie haben gelitten, und niemand nahm Anteil. Es ist erschütternd zu sehen, dass die Betroffenen – etwa in der Republik Kongo –  oftmals nicht sprechen. Es fällt ihnen schwer, sich auszudrücken, sie verfallen in eine Art Sprachlosigkeit. Was ein Radio hier tun kann, ist ihnen Gehör zu verschaffen, ihnen die Gelegenheit zum Sprechen zu bieten. Über das, was sie erlebt haben, wie sie heute damit leben und wie sie persönlich internationale Gerechtigkeit empfinden. Der Internationale Strafgerichtshof in Denn Haag ist für diese Menschen oft weit weg, er macht seine Arbeit, aber die Verbindung zu den Lebensrealitäten der Menschen in den Konfliktregionen und dem, was dort heute passiert, wird oft nicht hergestellt, von keiner Seite. Die Aufgabe eines Senders ist es, hier Berührungspunkte zu schaffen und spürbar zu machen, warum das eine für das andere wichtig ist. In diesem Sinne ist transnationale Gerechtigkeit schon eine Aufgabe für die Sender.

Wo sehen Sie angesichts der vielen Flüchtenden und MigrantInnen aus Krisengebieten die Aufgabe von Community Radios – sowohl in ihren Herkunftsländern als auch den Zielländern?

Wir sollten primär die menschlichen Beziehungen in den Vordergrund stellen und nicht einfach nur mit Vokabeln wie Flüchtling oder Migrant herumspielen. Denn damit vertuscht man leicht die humanitäre Dimension, die immer komplexer ist. Community Radios haben nicht nur die Aufgabe, über Menschen auf der Flucht oder über MigrantInnen zu sprechen, sondern auch für sie da zu sein und ihnen Sprechräume zu eröffnen, in vielen Sprachen. Zudem bräuchte es Programme, die in den Herkunftsländern über Europa berichten, beispielsweise in Mali über die komplexe Realität für malische MigrantInnen in der Schweiz. Auch wir JournalistInnen sind darauf nicht vorbereitet, es fehlt an Ressourcen für die Recherche. Man müsste viel mehr Zeit mit den Menschen verbringen, sie begleiten, stattdessen bleiben uns immer weniger Zeit und Geld. Das ist ein verheerender Widerspruch zu der immer komplexer werdenden Realität.

Jean-Marie Etter lebt in Bex, in der Nähe von Lausanne. Er hat seit 1973 bei Radio Suisse Romande gearbeitet und die Fondation Hirondelle von 2006 bis Ende 2016 geleitet.

Interview und Übersetzung aus dem Englischen: Martina Backes