Care statt Profit!

Warum eine Care Revolution nötig ist

Während der Pandemie sind nicht nur die chronischen Missstände im Gesundheitswesen und anderen bezahlten Care-Bereichen unübersehbar geworden. Auch die Belastung durch unbezahlte Sorgearbeit, die vor allem von Frauen geleistet wird, hat massiv zugenommen. In ihrem Beitrag für die Graswurzelrevolution analysiert Gabriele Winker die aktuelle Situation und stellt die Care Revolution als Alternative vor. (GWR-Red.)

 

Die Corona-Pandemie zeigt in aller Deutlichkeit, wie wichtig Sorgearbeit für unser gesellschaftliches Zusammenleben, aber auch für jeden einzelnen Menschen ist. Unübersehbar wird der Pflegenotstand in den Krankenhäusern und den Pflegeheimen, der sich durch die Pandemie weiter zuspitzt. Aber auch die mangelhafte Personalausstattung in Kitas und Schulen oder im Sozialdienst erhält mehr kritische Aufmerksamkeit. Ferner wird in der Pandemie besonders deutlich, welch enorme Leistungen Eltern, insbesondere Mütter, erbringen, die das Konzept der Kontaktbeschränkung überhaupt erst ermöglichen, indem sie in Notfällen als Tröster*innen und Betreuer*innen zur Verfügung stehen. Dabei geraten sie wie die Care-Beschäftigten häufig an die Grenzen ihrer Kräfte.

So wird gerade derzeit besonders klar: Ohne all die vielen, die sich tagtäglich um Kinder und Erwachsene kümmern, sie pflegen, versorgen, beraten, heilen und ihnen in Notsituationen helfen, würde unsere Gesellschaft sofort zusammenbrechen. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass diese Sorgearbeit sowohl unentlohnt in Familien als auch entlohnt in Care-Berufen, etwa durch Pflegekräfte oder Erzieher*innen, geleistet wird, weit überproportional von Frauen. Diese unentlohnten und entlohnten Sorgearbeitenden erbringen in Deutschland knapp zwei Drittel aller insgesamt geleisteten Arbeitsstunden.

Gleichzeitig haben gerade Menschen mit umfangreichen Sorgeaufgaben, nicht erst seit der Pandemie, immer größere Schwierigkeiten, den Balanceakt zwischen Lohnarbeit und unentlohnter Sorgearbeit für sich und andere individuell zu meistern. Insbesondere Frauen leben mit einem Übermaß an Anforderungen. Sie sind in ihrer Erwerbsarbeit mit zunehmenden Flexibilitätsansprüchen der Unternehmen, steigendem Leistungsdruck, unbezahlten Überstunden sowie unzureichenden Löhnen konfrontiert. Gleichzeitig sollen sie diese beruflichen Anforderungen mit zunehmenden Aufgaben des Selbstmanagements in der familiären Sorgearbeit vereinbaren. Verschärfend kommt hinzu, dass zum Zweck der Kostensenkung Einrichtungen der sozialen Infrastruktur, beispielsweise im Gesundheits- oder Bildungssystem, ab- statt ausgebaut werden.

Arbeit ohne Ende wird damit zur alltäglichen Realität. In der Folge kommt die Sorge für sich selbst zu kurz. Muße ist zum Fremdwort geworden. Die andauernde Überlastung führt zu Erschöpfung bis hin zu psychischen Erkrankungen. Ebenso bleiben wichtige Bedürfnisse von Kindern oder kranken Menschen, die auf Sorge angewiesen sind, unerfüllt.

 

Zur Krise sozialer Reproduktion

 

Diese Erfahrung von Mangel, Überforderung und sozialem Leid ist Folge der Krise sozialer Reproduktion. Mit diesem Begriff bezeichne ich die Zuspitzung des Widerspruchs zwischen Profitmaximierung einerseits und der Reproduktion der Arbeitskraft andererseits, wie sie derzeit im Neoliberalismus besonders deutlich wird: Mit dem Wegfall des Familienernährerlohns sind mittlerweile alle Menschen im erwerbsfähigen Alter aufgefordert, durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Gleichzeitig wird die Aufgabe, sich beschäftigungsfähig zu halten, verstärkt an sie selbst als unbezahlte Reproduktionsarbeit zurückgegeben. Das heißt, sie sind jenseits der Lohnarbeit verantwortlich für ihre Gesundheit, ihre Weiterbildung und ihre Resilienz sowie für die Entwicklung ihrer Kinder und die Unterstützung älterer Familienmitglieder. Durch den Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge nimmt der Teil gesellschaftlich notwendiger Arbeit immer weiter zu, der unentlohnt und abgewertet insbesondere von Frauen in Familien verrichtet wird. Allerdings ist das Gelingen dieser Politik längst nicht gesichert, denn viele Lohnabhängige schränken ihre Erwerbsarbeitszeit nach Möglichkeit ein, um die gestiegenen Anforderungen der unentlohnten Arbeit bewältigen zu können. In der Folge fehlen in vielen Branchen qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte.

Trotz dieser negativen Auswirkungen der eigenen Strategie hält das Kapital grundlegend an der weiteren Reduktion der Reproduktionskosten fest, und der Staat reagiert nur an wenigen Stellen wie etwa beim Ausbau der Kitas zur Betreuung von Kleinkindern. Andernfalls stünden die benötigten Arbeitskräfte, in diesem Fall qualifizierte Frauen, nicht mehr in ausreichendem Maß zur Verfügung. Aber selbst beim Ausbau der Kitas und des dafür notwendigen Personals werden die Kosten so gedrückt, dass grundlegende Qualitätsansprüche nicht eingehalten werden. Auch werden die im Bereich von Gesundheit und Altenpflege nicht erst seit der Pandemie deutlich hervortretenden Mängel und Notstände von der Regierung ausgesessen, statt mit Milliardenbeträgen zügig zumindest die Arbeitsbedingungen der Care-Beschäftigten zu verbessern.

In dieser Krisensituation sind Maßnahmen, die Menschen mehr finanzielle und zeitliche Ressourcen für die Sorgearbeit für sich selbst und andere zur Verfügung stellen, schwer zu erreichen. Notwendig ist eine starke Care-Bewegung, die einzelne Verbesserungen durchsetzt, permanent Veränderungen weitertreibt und für eine echte Revolutionierung aller Bedingungen streitet, unter denen Menschen derzeit leben und häufig auch leiden.

 

Care Revolution als Perspektive

 

Zur Realisierung auch der kleinsten Schritte in diese Richtung bedarf es einer gesellschaftlichen Mobilisierung, eines Zusammenschlusses Aktiver über Care-Bereiche und über Positionen im Sorgeverhältnis hinweg. Deswegen arbeiten seit 2014 ca. 80 Gruppen und Initiativen sowie zahlreiche Einzelpersonen aus dem deutschsprachigen Raum im Netzwerk Care Revolution (www.care-revolution.org) zusammen. Wir setzen uns für ein gutes Leben ein, in dem alle Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen können – und zwar umfassend, ohne jemanden auszuschließen und nicht auf dem Rücken anderer; auch nicht unter Inkaufnahme der Zerstörung ökologischer Systeme.

Care Revolution stellt durch diese Bedürfnisorientierung auf den Gebrauchswert von Arbeitsergebnissen ab und tritt der kapitalistischen Verwertungslogik entgegen. Indem die – in den meisten politischen, auch linken Entwürfen unsichtbare – Sorgearbeit als Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung gewählt wird und dabei Geschlechterkonstruktionen und geschlechtliche Arbeitsteilung grundlegend in Frage gestellt werden, ist diese Konzeption feministisch.

Wir stellen folgende erste Transformationsschritte ins Zentrum unseres politischen Handelns: Zunächst geht es darum, die Vollzeit-Erwerbsarbeit auf nicht mehr als 30 Wochenstunden ohne Erhöhung der Arbeitsintensität und mit vollem Lohnausgleich für schlechter verdienende Beschäftigtengruppen zu begrenzen. Dies ermöglicht allen Menschen mehr Zeit für Sorgearbeit sowie zivilgesellschaftliche und politische Arbeit und verringert in dem Maß, in dem dies zu einer Verringerung der Güterproduktion führt, auch die CO2-Emissionen.

Weiter gilt es, eine existenzielle Absicherung für alle auch jenseits der Lohnarbeit durchzusetzen, beispielsweise durch die Realisierung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ferner ist es wichtig, die öffentlichen Care-Dienstleistungen in Bildung und Erziehung, in Gesundheit und Pflege auszubauen, sie gebührenfrei zu gestalten und ihre Qualität durch Ausbildung und Einstellung von mehr Fachpersonal zu steigern. Selbstverständlich müssen auch die Arbeitsbedingungen und Löhne der meist weiblichen Care-Beschäftigten, beispielsweise von Erzieher*innen oder Altenpflegekräften, deutlich verbessert werden. Letzteres gilt auch für die häufig migrantischen Beschäftigten in den Privathaushalten.

Dabei ist der Ausbau der staatlichen Infrastruktur demokratisch zu gestalten, da Menschen am besten selbst beurteilen können, was sie benötigen. Notwendig sind Organe der Selbstverwaltung wie Vollversammlungen und Räte sowie zur Veränderung grundlegender Rahmenbedingungen auch Plebiszite mit Gestaltungsmacht. Voraussetzung einer solchen Demokratisierung ist zudem, den bisher vorherrschenden Trend zu Privatisierungen im Care-Bereich zu stoppen und darüber hinaus die Vergesellschaftung der Privatunternehmen, aber auch derjenigen Wohlfahrtsverbände, die keine umfassende Mitsprache der Nutzer*innen und der Beschäftigten erlauben, voranzutreiben.

Werden die hier skizzierten Schritte durchgesetzt, lassen sich schon innerhalb der bestehenden kapitalistischen Produktionsweise wesentliche Verbesserungen der Rahmenbedingungen für Sorgebeziehungen erreichen. Menschen könnten frei von Existenzangst ihr Leben gestalten und das Ganze der Arbeit auch zwischen den Geschlechtern umverteilen. Allerdings wird es auch nach diesen Veränderungen zur Abwertung familiärer und ehrenamtlicher Arbeit und der Personen, die sie leisten, kommen.

Um diese Abwertung zu durchbrechen, gilt es, die für den Kapitalismus funktionale Sphärentrennung zwischen entlohnter und nicht entlohnter Arbeit aufzuheben. Das bedeutet nicht, dass die bisher unentlohnte Sorgearbeit entlohnt und damit auch dieser Bereich der Leistungskontrolle unterworfen werden soll. Vielmehr geht es darum, die Lohnarbeit zu überwinden und Arbeit in ihrer unentlohnten, direkt auf die Befriedigung 
nnvon nBedürfnissen gerichteten Form zu verallgemeinern. Diese Utopie ist im Kapitalismus nicht zu verwirklichen, da Kapitalverwertung Lohnarbeit voraussetzt; sie stellt allerdings einen Orientierungsrahmen für den Aufbau einer solidarischen Gesellschaft dar. In einer solchen Gesellschaft steht nicht mehr Konkurrenz im Fokus, sondern ihr zentrales Gestaltungsprinzip ist Solidarität.

 

Gabriele Winker

 

Zur Autorin: Dr. Gabriele Winker ist Sozialwissenschaftlerin und Care-Aktivistin. Sie war bis 2019 als Professorin für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg tätig und ist Mitbegründerin des Netzwerks Care Revolution. Ihr aktuelles Buch trägt den Titel „Solidarische Care-Ökonomie. Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima“ und ist 2021 im transcript-Verlag erschienen

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 467, März 2022, www.graswurzel.net