„Das ist nicht mehr menschenwürdig“

Ein Gespräch mit Monika Sonnenberg, Ulrich Sigrist, Sven Vollmer und Ingo Schomburg über den Pflegenotstand und die Kommerzialisierung der Krankenhäuser

Der Pflegenotstand in Deutschland hat dramatische Züge angenommen. Die Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung des Gesundheitswesens hat u.a. zur Schließung von Krankenhäusern geführt. Gegen den neoliberal-kapitalistischen Ausverkauf des Gesundheitssystems haben sich Bürgerinitiativen organisiert, die den Kampf um den Erhalt der Krankenhäuser und gegen die Zentralisierung organisieren. Sie kämpfen gegen eine profitorientierte und für eine menschenfreundliche Krankenversorgung, für eine bedarfsgerechte, gemeinwohlorientierte Pflege, für Krankenhäuser statt Krankenfabriken.

Monika Sonnenberg, Ulrich Sigrist, Sven Vollmer und Ingo Schomburg sind aktiv in den Pflegebündnissen Münsterland und Ost-Westfalen-Lippe (OWL). Mit ihnen sprach GWR-Redakteur Bernd Drücke im Studio des medienforums münster über die Arbeitsbedingungen in der Pflege und Alternativen zur Kommerzialisierung der Krankenhäuser. Die neue Radio Graswurzelrevolution-Sendung kann jetzt auch online gehört werden. (1) Wir haben sie transkribiert und veröffentlichen einen Auszug. (GWR-Red.)

 

GWR: Stellt euch bitte vor.

 

Monika Sonnenberg: Ich habe 34 Jahre als ausgebildete Pflegekraft in verschiedenen Krankenhäusern gearbeitet, war mit viel Spaß dabei. Vor anderthalb Jahren habe ich aber meinen Job aufgegeben und arbeite jetzt woanders.

 

Sven Vollmer: Ich bin Gesundheits- und Krankenpfleger für die Notfallpflege, 43 Jahre alt. Ich arbeite aktiv in der Notfallambulanz.

 

Ulrich Sigrist: Ich bin 61 Jahre alt, arbeite seit über 40 Jahren überwiegend im Intensivpflegebereich und erlebe die Situation der Pflege als sehr bedenklich.

 

Ingo Schomburg: Seit 1970 arbeite ich in der Krankenpflege, vorher hatte ich einen anderen Beruf, bis 2012 war ich aktiv und seitdem bin ich immer noch in der Pflege, weil ich nicht loslassen kann.

 

GWR: Monika, wie sieht der Arbeitsalltag im Krankenhaus aus? Warum hast du gekündigt?

 

Monika: Für mich war ausschlaggebend, dass ich immer unzufriedener nach Hause gegangen bin, weil ich den Bedürfnissen der Patient:innen und auch von mir selber, nicht mehr gerecht werden konnte. Zuhause habe ich mir immer mehr Gedanken gemacht, dass die Patient:innen nicht vernünftig versorgt worden sind. Das ist nach der Zentralisierung passiert, also der Schließung von drei Krankenhäusern. Übriggeblieben sind zwei. Ich habe in einem der verbliebenen Krankenhäuser im Münsterland gearbeitet und festgestellt, dass die Zentralisierung zu weiterer Arbeitsverdichtung geführt hat und es immer schwieriger wurde, weil nicht genug Personal da war. Die Anzahl der Patient:innen ist aber gestiegen, weil viele aus den geschlossenen Krankenhäusern dazugekommen sind.

 

GWR: Sven, wie erlebst du das?

 

Sven: Bei uns in der Notaufnahme ist es genau so. Wir werden auch von dort angefahren, wo andere Krankenhäuser geschlossen wurden. Die Bewohner:innen des Nachbarortes sind immer noch empört über die Schließung. Wir kriegen diesen Druck ab in der Notaufnahme, was traurig ist, weil wir Pflegekräfte am wenigsten dafür können, dass das Krankenhaus geschlossen hat.

 

GWR: Ingo, du hast die meiste Erfahrung. Wie nimmst du die Situation wahr?

 

Ingo: Da es um die Arbeitsverdichtung geht, bekomme ich das aus Sicht der Auszubildenden besonders hart mit. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Die Schule mit der Theorie will den Azubis vermitteln, wie wir auf die Bedürfnisse der Patient:innen einzugehen haben. Dann erlebe ich, dass sich Gelächter in den Klassen breit macht: „Wovon träumst du denn in deinen Ansprüchen, die du an die Pflege hast? Hast du erlebt wie der Alltag ist?“ Natürlich habe ich den Alltag erlebt, weil ich von 1970 bis 2012 selber in der Pflege tätig war. Das ist das Spannungsfeld, was sich immer mehr aufbaut: Arbeitsverdichtung, Anspruch, Wirklichkeit.

 

GWR: Ulrich?

 

Ulrich: Ich kann etwas erzählen aus dem Intensivpflegebreich. Wir haben genug Zeit, um Leben zu retten und zu erhalten, aber was übersehen wird, sind die Menschen, die auf den Intensivstationen liegen. Sie haben viele Ängste und Nöte. Viele sind durcheinander und bräuchten direkte, intensivere Betreuung. Dem kann man seit Jahren nicht mehr gerecht werden.

 

GWR: Durch die enge Taktung ist man gar nicht mehr in der Lage, allen Patient:innen gerecht zu werden?

 

Monika: Eine Situation kann ich gerne schildern, ein Schlüsselerlebnis, das mich wirklich zum Weinen gebracht hat. Ich habe einen Patienten eine ganze Schicht lang nicht gesehen, weil immer Notfallsituationen dazwischenkamen. Das ist etwas, da geht man mit nach Hause. Das ist mittlerweile keine Ausnahmesituation mehr, sondern die Regel. Ich bin die, die vor Ort ist, das erlebt und mit dem Gedanken nach Hause geht. Auf dem Papier entscheidet man über die Zentralisierung und welche Krankenhäuser weg können. Aber für die, die vor Ort sind und für die Patient:innen und Bewohner:innen ist das ein Resultat, was nicht mehr menschenwürdig ist. Pflegekräfte werden dadurch auch aus der Pflege getrieben.

 

Sven: Ich nehme in letzter Zeit diese Erfahrungsberichte immer mehr entgegen, sowohl im Unterricht als auch in den Einrichtungen. Auch wenn ich nicht mehr aktiv bin, bin ich freiberuflich unterwegs, mit dem Anspruch, eine menschenwürdige Pflege zu unterstützen. Dann bekomme ich diese Rückmeldungen. Ich habe vor Jahren angefangen, mir diese Situationsberichte aufzuschreiben, anonymisiert, aber authentisch von Betroffenen, sowohl Patient:innen als auch Pflegekräften. Wir haben überlegt, wie wir damit umgehen können, haben Mitstreiter:innen gefunden und einen Initiativkreis in Bielefeld gegründet. Wir wollen im Mai dazu eine Aufschrei-Aktion machen, wo wir diese Situationsberichte vorlesen, keine Sonntagsreden, keine Gedenkstunden, sondern wirklich sagen: „Das ist die Situation vor Ort. Es brennt und läuft aus dem Ruder!“ Das wollen wir zum Anlass nehmen, um die Berichte einer breiteren Öffentlichkeit kund zu tun.

 

Ingo: Noch ein Wort dazu, was ich im Krankenhaus erlebe. Wir erleben eine Flucht aus dem Altersheim des Personals ins Krankenhaus, weil sie die Situation dort nicht mehr ertragen können. Alleine fünfzig Patient:innen in einer Nacht betreuen, das hält man nicht lange durch.

 

GWR: Monika, was genau bedeutet denn Zentralisierung und Kommerzialisierung der Krankenhäuser? Was hat das für eine Geschichte? Was steckt dahinter?

 

Monika: Ich habe angefangen, mich damit auseinanderzusetzen, als das Krankenhaus bei uns geschlossen wurde. 524 Krankenhäuser sind deutschlandweit von 1991 bis 2021 geschlossen worden! Das bedeutet gleichzeitig, dass überall die Notaufnahmen fehlen. Dann ist es logisch, dass die Patient:innen sich auch zentralisieren, aber leider zentralisiert sich das Pflegepersonal automatisch mit. So ist das ja auch nicht gewünscht, da es sonst zu teuer ist. Angefangen hat das schon vor meiner Zeit. Ein großer Punkt war die Fallpauschaleneinführung. Das bedeutet, man hat z.B. für einen Blinddarm immer das gleiche Geld bekommen, egal ob das ein alter oder junger Mensch war. Dazu muss man klar sagen, dass die Arbeit mit so einem Patienten, den auch mit seinen Ressourcen wieder zu mobilisieren, das ist bei einem älteren oder vorerkrankten Menschen ganz anders als bei einem jungen. Das wird überhaupt nicht gesehen. Die Personalsituation ist klar und alle wissen, dass 50.000 Pflegekräfte eingespart worden sind, weil die Gelder über die Fallpauschalen eingespart worden sind, oder eben auch die Länder ihrer Pflicht der Investitionszahlung für die Krankenhäuser nicht nachgekommen sind. Damit sind die Krankenhäuser quasi gezwungen worden, Personal einzusparen. Das ist Pflegequalität, die dann fehlt.

 

Ingo: Ich erinnere mich an eine Situation 1989, da fuhren wir von einem Kongress von Mannheim nach Bielefeld zurück und da saß mir gegenüber im Zug Herr Golombeck von der deutschen Krankenhausgesellschaft. Wir haben berechnet, wie viel Personal wir denn eigentlich benötigen würden, wenn wir mit der Personalbedarfsberechnung und dem LEP (Leistungserfassung in der Pflege) mal vorankommen wollen. Da haben wir eine Summe von 90 Milliarden D-Mark berechnet. Er sagte: „Okay, ist in Ordnung, aber liebe Leute, wisst ihr, welches Jahr wir haben?“ Das war 1989. Und die Pflege kam wieder zu spät. Jetzt sind wir im Jahr 2023 und erleben die gleiche Situation wie in der 1980ern. Die Pflege ist nicht in der Lage, sich an dieser Stelle adäquat durchzusetzen mit den entsprechenden Forderungen. Damals war es die Politik und heute stehen auch wieder andere Entscheidungen im Vordergrund. Das ist ein Manko. Mir fehlen die Worte dazu, um sagen, wie traurig das ist, dass die Pflege zweimal zu spät kommt.

 

Monika: Das ist das große Problem der Pflege. Wenn man sich anguckt, wo überall Geld reingesteckt wird, nur für Sachen, die die Menschenwürde betreffen, wird kein Geld ausgegeben. Das liegt daran, dass man in der Pflege nicht nachweisen kann, was es bedeutet, wenn keine Pflege stattfindet. Das wird nicht untersucht. Ich habe schon ewig gesucht, was es monetär bedeutet, was es für einen volkswirtschaftlichen Schaden anrichtet, wenn man nicht richtig pflegt. Ich glaube da sollte man, vielleicht auch selber als Pflegekraft, nachweisen wie wertvoll und wichtig diese Arbeit ist.

 

Ingo: Es ist auch eine Arbeit, wo es wichtig ist, wie richtig sie getan wird. Da fängt das auch mit der generalistischen Ausbildung an. Wie sieht die Ausbildungssituation vor Ort aus? Die ist katastrophal.

 

GWR: Monika, du hast dich auch mit der Zentralisierung der Krankenhäuser in Dänemark beschäftigt. Was ist die Krankenhausreform? Was kommt da auf uns zu? Welche Auswirkungen hatte die letzte Krankenhausreform, die ja zur Zentralisierung und Kommerzialisierung beigetragen hat?

 

Monika: Im Rahmen dessen, dass bei uns das Krankenhaus geschlossen wurde, habe ich mich mit den länderpolitischen und bundespolitischen Ebenen auseinandergesetzt. Wir haben das „Bündnis pro Krankenhäuser wohnortnah“ (2) gegründet. Da sind viele Informationen zusammengeflossen und es war sehr spannend, hinter die Kulissen zu blicken. Da gibt es viele Presseberichte. Ungefähr vor einem Jahr hat der Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach gesagt, dass die Privatisierung vielleicht ein Fehler war, aber das könne man jetzt nicht mehr ändern. Ich bin da anderer Meinung, und auch in der Gruppe sind wir anderer Meinung. Wir können das ändern. In Deutschland wurde ja immer nach Dänemark geblickt, weil in Dänemark alles zentralisiert worden ist, da sind ganz große Krankenhäuser errichtet worden und man hat die Hoffnung gehabt, dass die Patientenversorgung qualitativ hochwertiger und besser wird. Aber wenn man aktuelle Berichte liest, ist zu erkennen, dass Dänemark auch wieder Schritte zurückgeht, weil die Anfahrtswege zu lang sind und Patient:innen unterwegs nicht adäquat versorgt werden können, als Beispiel der Herzpatient. In Dänemark wird gesagt, dass weniger Patient:innen im Krankenhaus an einem Herzinfarkt sterben. Ja, ist klar, wenn der Weg da hin so lang ist, hat man nicht untersucht, wie viele Leute auf dem Weg ins Krankenhaus sterben; dazu gibt es keine Zahlen! Deswegen bin ich schockiert, dass man in Deutschland diese fragwürdigen Studien heranzieht. Das ist einmal die Leopoldina-Studie, die besagt, dass 330 Krankenhäuser für ganz Deutschland reichen. Zudem gibt es eine Bertelsmann-Studie, die besagt, dass 600 Krankenhäuser reichen. Ich habe ausgerechnet, was das für ein Krankenhaus bedeutet, wenn man die Zentralisierung durchführt. Laut der Leopoldina-Studie würde das bedeuten: 310 stationäre Patient:innen pro Krankenhaus, pro Tag. Und 171 Patient:innen, wenn die Bertelsmann-Studie zugrunde liegt. Das ist einfach nicht zu stemmen. Ich komme selber aus der Notaufnahme und bei der Schlagzahl, wir haben jetzt schon Fließbandarbeit und die Zahlen wären einfach nicht zu machen. Jetzt wird gesagt, man muss mehr ambulant leisten, damit das noch gestemmt werden kann, aber auch da fehlen die Strukturen. Man kann ja nicht mit dem Flugzeug starten, obwohl man keine Landebahn hat. Wir müssen unbedingt erst Strukturen etablieren, wo Patient:innen und Angehörige eine wohnortnahe Anlaufstelle haben und dann gucken, wo können Krankenhäuser geschlossen werden? Momentan werden Krankenhäuser einfach so geschlossen, das ist eine kalte Strukturbereinigung. Man guckt nur zu, und man wird weiter zugucken. Lauterbach hat zwar eine neue Reform eingeleitet, das ist auch richtig, dass man drüber nachdenkt, aber das wird mindestens noch fünf Jahre dauern, und davor muss es noch zum Gesetz werden. Das kann also zwischen acht bis zehn Jahre dauern und bis dahin werden viele Krankenhäuser noch geschlossen. Man hat keinen Einfluss darauf, welches Krankenhaus schließt, das wird nur nach markttechnischen Strukturen entschieden. Das bedeutet für die Leute vor Ort: keine adäquate medizinische Versorgung. Es müsste also zuerst eine wohnortnahe Anlaufstelle für Patient:innen etabliert werden, damit sie da vernünftig versorgt werden, und von da aus dann dorthin weitergeleitet werden, wo sie hinmüssen und wo der Patient Antworten findet auf seine Fragen.

 

Ingo: Zu der wohnortnahen Versorgung und ambulanten Versorgung würde ich gerne auf Dänemark zurückkommen und auf die Sendung verweisen, die in der ARD lief zur Frage „Wie funktioniert gute Pflege?“. (3) Dort wurde ein Modellprojekt gezeigt, wie dort die kommunale Versorgung aussieht, dass wohnortnah, ambulant auch schwerste Pflegefälle versorgt werden, statt sie in die Kliniken zu bringen. Und gerade aus den nordischen Ländern schlägt uns eine ganz starke Kritik gegenüber der Privatisierung hier in Deutschland entgegen. Den Herrn Lauterbach möchte ich nochmal zitieren, er hat erkannt, dass die Privatisierung der falsche Weg gewesen ist. Das ließe sich nicht mehr rückgängig machen. Mir hat mal ein Professor gesagt, eine Fehldiagnose zu erstellen, ist nicht an sich verwerflich. Verwerflich ist, wenn man anschließend nichts dagegen tut.

 

GWR: Ulrich, du wolltest etwas über die Situation in Kinderkrankenhäusern erzählen.

 

Ulrich: Ich möchte kurz auf das Thema Blutentnahme bei Kindern eingehen, das macht einen Erlös von drei bis vier Euro. Was aber nicht bedacht wird, ist, dass da teilweise drei bis vier Personen benötigt werden und, dass das Ganze 20 Minuten dauert. Kinderkrankenhäuser haben ein großes Problem, ihre Leistung refinanziert zu bekommen, es gibt viel zu wenig Geld. Lauterbach hat angekündigt, dass er es verbessern will, da müssen wir abwarten. Die Konsequenzen sind jetzt aber schon, dass Kinderkrankenhäuser schließen müssen. Das ist ein großes Drama, wir haben es jetzt auch bei Virenerkrankungen von Kindern gesehen. Intensivpflegebedürftige Kinder mussten teilweise auf Normalstationen liegen. Das ist hochgradig gefährlich.

 

Ingo: Diese Situation, dass immer mehr Kinderkrankenhäuser schließen, spiegelt sich in der generalistischen Ausbildungssituation wider. Es ist unmöglich, was ich kurz erwähnte, wie die Praxis aussieht. Generalistische Auszubildende sollen in ihrer dreijährigen Ausbildung auch die Kinderkrankenpflege erleben und nachvollziehen können, theoretisch und praktisch. Wenn jetzt immer mehr Kinderkrankenhäuser schließen, wo machen die eigentlich ihre Ausbildung? Es gibt nicht mehr genügend Ausbildungsstationen in der näheren Umgebung. Sie müssen entweder weit wegfahren, nach Hannover oder in irgendwelche Kliniken, die noch Kinderkrankenpflege betreiben. Jetzt kommt der Irrsinn der generalistischen Ausbildung: die Azubis müssen untergebracht werden und machen ihre Ausbildung in Kindergärten. Das nennt sich dann Versorgung der akuten Kinderkrankenpflege. Da werden dann Puppen angeschafft, an denen wird das Waschen geübt. So sieht die generalistische Ausbildung in der Kinderkrankenpflege aus. Dabei fühlen sich die Auszubildenden fehl am Platz.

 

Monika: Zu Generalistik würde ich auch noch etwas sagen wollen; das erleben wir im Krankenhaus auch. Wir haben immer mehr Altenpflegekräfte, noch nach der alten Ausbildung, weil sie die Situation in den Altenpflegeheimen nicht mehr aushalten können, weil es da noch viel schlimmer ist als im Krankenhaus. Die arbeiten jetzt im Krankenhaus. Heute gibt es die generalistische Ausbildung, das heißt, dass Altenpflege, Kinderkrankenpflege und Erwachsenenpflege gleichzeitig gelehrt wird. Das wird für einen grandiosen Schachzug gehalten. Doch in Wirklichkeit kann man sich doch nur fragen, warum in jedem anderem Bereich fachkraftspezifisch ausgebildet wird, selbst ein Zeichner ist kein Zeichner mehr, sondern ein Produktdesigner, eine Ausbildung ist in drei unterschiedliche Ausbildungen aufgeteilt, nur in der Pflege gibt es eine Generalisierung, obwohl man drei gut ausgebildete Berufe gehabt hat, die eine Daseinsberechtigung hatten.

 

Ingo: Das ist Gemischtwarenhandel. Die Spezialisierung findet erst nach den drei Jahren statt. Da kommt viel Arbeit auf die Kliniken zu, wenn die ihr Personal spezialisieren müssen. Gemischtwarenhandel heißt: ein großes Spektrum an Oberflächlichkeiten. Ich habe in das Klassenbuch einer Krankenpflegeschule geschaut: Da befinden sich über 60 Rubriken, sogenannte curriculare Einheiten, also Rubrik 1.0, dann 1.1. , die so weiter fortlaufend aufgelistet sind. Da können weder die Dozent:innen, noch die Auszubildenden durchblicken, was da abläuft.

 

Ulrich: Ich möchte noch etwas zur Versorgungslage in Altenheimen sagen. Ein Bekannter von mir, der seinen Vater mit Pflegestufe 4 pflegt, also ein hoher Aufwand. Er hat jetzt selbst Covid bekommen und er sagt, es ist nicht möglich, einen Pflegeplatz zu finden, weil es keinen gibt. Die Altersheime können jetzt schon keinen mehr aufnehmen. Und wenn der Zulauf auf die Krankenhäuser von den Pflegeheimen weiter zunimmt, womit wir auch rechnen, müssen Altersheime als Projekte neu gedacht werden.

 

Monika: Da muss man sich nichts vormachen, wenn man die politischen Handlungen in den letzten Jahren gesehen hat, dann ist das denen durchaus bewusst, dass die alten Menschen nicht mehr versorgt werden können. Genau deswegen gehen die Altenpflegekräfte ins Krankenhaus, das ist meiner Meinung nach eingeplant, dass die Akutversorgung noch irgendwie gewährleistet werden kann, und die Pflege geht in die Familien zurück. Das ist so gewollt und dementsprechend werden politische Rahmenbedingungen geschaffen, wie jetzt ja die Familien zeigen, in denen die erwachsenen Kinder zu Hause bleiben müssen, um ihre pflegebedürftigen Eltern zu betreuen. Es spricht aber kein Mensch davon, dass sie in der Zeit trotzdem nichts machen für ihre Rentenversorgung. Später stehen die da und haben große Löcher. Die leisten eine richtige Arbeit, was eigentlich nicht sein kann. Der Staat muss es doch schaffen, dass unsere Leute, wenn sie alt und krank sind, pflegebedürftig sind, medizinisch und auch pflegetechnisch adäquat versorgt werden. Und da kann es nicht drum gehen, wie viel Gewinn erwirtschaftet werden kann. Diese Versorgung muss es einfach geben und da muss das Geld für bereitgestellt werden.

 

Ulrich: Das sehe ich auch so, aber ich möchte auch noch darauf hinweisen; Pflegestufe 4 bedeutet für den Angehörigen 780 Euro, für den Pflegedienst 1600 bis 1700 Euro. Ich denke mal, da stehen auch finanzielle Interessen im Mittelpunkt.

 

Ingo: Da stellt sich die Frage, was ist langfristig eine Alternative, die uns im Ausland auch vorgemacht wird. Ich fange mit dem niederländischen Begriff „buurtzorg“ an. Das ist eine gemeindenahe Versorgung, wo die ambulante – erinnern wir uns doch bitte an die 50er und 60er Jahre, wo es die Gemeindekrankenpflege noch gab, statt die Ambulante Pflege, die im Hauruckverfahren mit vielen Autos und mit Pflegenoten 1,0 an ihren Türen geschrieben durch die Stadt flitzten. Und dann erinnere ich an die Ge
meindekrankenschwester und die Gemeindekrankenpflege, die die Menschen in ihrer Region bürgernah versorgt hat. Diese Konzepte gibt es, aber wo ist der politische Wille, dass so etwas auch in Deutschland gemacht wird? Die Anfänge sind da, ich weiß im Emsland, in der Euroregion gibt es solche Projekte, aber es fehlt der klare politische Wille.

 

GWR: Was wünscht ihr euch? Wie soll die Krankenpflege und wie sollen Krankenhäuser in der Zukunft aussehen, wenn es gut läuft?

 

Monika: Wenn eine Reform stattfindet, sollten erst Strukturen aufgebaut werden, bevor Strukturen abgebaut werden. Die Vor-Ort Strukturen müssen da sein, und zwar nicht nur die akut medizinischen Strukturen, sondern auch die langfristigen Pflegesituationen müssen kommunal organisiert werden, weil man vor Ort viel besser Bescheid weiß, was gebraucht wird. Von daher dürfte da mehr Verantwortung reingelegt werden. Für mich selber als Krankenschwester würde ich mir wünschen, dass ich Bedingungen erlebe, unter denen es mir wieder Spaß macht, zu arbeiten, wo ich wieder das tun kann, was ich gelernt habe. Ursprünglich bin ich ja aus dem Beruf gegangen, weil ich das Gefühl hatte, ich muss Verantwortung tragen für Dinge, die ich nicht zu verantworten habe. In Zukunft würde ich gerne wieder meine Arbeit machen, die ich gelernt habe, damit ich mit einem guten Gefühl nach Hause gehen kann. Bis jetzt zieht mich nichts zurück und mir geht es deutlich besser, als es mir davor gegangen ist.

 

Sven: Ich denke, dass Zeit ein großer Faktor bei uns in den Krankenhäusern ist. Die Pflegekraft braucht wieder mehr Zeit, um wieder näher am Patienten zu sein, Smalltalk zu halten und nicht mehr dieses Husch Husch Husch. Zudem wünsche ich, dass die Kolleg:innen nicht mehr abspringen. Bessere Versorgung durch uns und mehr Personal, das wäre ein Traum.

 

Ingo: Mein Wunsch wäre, dass der wahre Geist der Pflege auch tatsächlich erlebbar wird im Alltag, dass dieser Grundsatz, der im Grundgesetz verankert ist – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – gelebt werden kann. Dafür wünsche ich mir eine Reform der generalistischen Ausbildung

 

Ulrich: Ich wünsche mir, dass das Gesundheitssystem so umgestaltet wird, dass es wieder zu einer bedarfsgerechten Versorgung des Menschen kommt. Wir haben auch das Problem der Überversorgung, gerade mit multimobilen Menschen, die beatmet werden usw., was ethisch zu kritisieren ist. Des Weiteren wünsche ich mir, dass Pflege mehr Mitbestimmungsrechte bekommt. Ich bin keineswegs zufrieden, dass jetzt durch die Pflegekammer Mitspracherecht suggeriert wird. Das reicht nicht aus.

 

GWR: Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

Anmerkungen:

1) Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung wurde am 27. März 2023 im Bürgerfunk auf Antenne Münster erstausgestrahlt und ist dauerhaft abrufbar in der Mediathek von NRWision:

https://www.nrwision.de/mediathek/
sendungen/radio-graswurzelrevolution

2) https://www.facebook.com/groups/
BuendnisproKrankenhaus/?locale=de_DE

3) Wie funktioniert gute Pflege?, ARD Audiothek, https://www.ardaudiothek.de/sammlung/wie-funktioniert-gute-pflege/
70361803/

 

Interview von Bernd Drücke, aus: Graswurzelrevolution Nr. 479, Mai 2023, www.graswurzel.net