Cuba konnte wie kaum ein anderes Land, über einen Zeitraum von nunmehr fast 50 Jahren seine Stadtentwicklungspolitik an den Prinzipien einer sozialistischen Gesellschaftsform ausrichten und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiet akkumulieren. Dieser Beitrag versucht, zentrale und zu der Praxis kapitalistischer Länder kontrastierende Merkmale dieser Erfahrung herauszuarbeiten. Konkret werden dabei die folgenden Kernfragen untersucht:
• Überwindung der Stadt-Land Diskrepanzen
• Wohnen als Grundrecht und die Rolle des Staates als Wohnungsproduzent
• Kollektiver Grundbesitz
• Städtische Mobilität
• Bewohnerbeteiligung in der Quartiersentwicklung
Überwindung der
Stadt-Land Diskrepanzen
Seit dem Beginn der rapiden Verstädterung, wie sie in England des 19. Jahrhunderts als Folge kapitalistischer Produktionsformen eintrat, beklagen sozialkritische Schriftsteller die Akkumulation von Macht und Reichtum in den Städten und die Ausbeutung der ländlichen Bevölkerung im Dienste der Industrialisierung und der Versorgung der städtischen Bevölkerung. In den modernen globalisierten Ökonomien setzt sich dieser Prozess akzentuiert fort, wobei sich der Reichtum heute in einigen wenigen Weltstädten konzentriert, während Klein- und Mittelstädte ökonomisch obsolet erscheinen und die ländliche Bevölkerung angesichts ihrer Ohnmachtsstellung gegenüber den Konkurrenten im internationalen Warentausch von absoluter Armut bedroht ist.
Viele realsozialistische Länder, insbesondere die UdSSR und ihre Verbündeten in Osteuropa, folgten dem gleichen Muster und räumten dem industriellen Aufbau absolute Priorität ein, um später dank der erwarteten Produktionssteigerung einen relativen Wohlstand für die gesamte Bevölkerung garantieren zu können. Trotz der Parole vom Arbeiter- und Bauernstaat blieb das Land relativ unterversorgt. Andere, insbesondere Asiatische Nationen (einschließlich Kambodscha und China in der Epoche der Kulturrevolution) fielen dagegen ins andere Extrem und propagierten eine Entwicklung, die sich zu nahezu 100% auf die Landwirtschaft stützte.
In Cuba sind in der Zeit vor der Revolution 1959 nahezu 100 Prozent der staatlichen Investitionen in die Hauptstadt geflossen. Aus diesem Grund wurden in den ersten zwei Jahrzehnten der Revolution1 gezielt Investitionen in den Provinzstädten und auf dem Land getätigt, während Havanna weitestgehend vernachlässigt wurde, was u. a. zu dem bekannten Verfall der Bausubstanz führte. Als Ergebnis dieser Politik dürfte Havanna die einzige Hauptstadt der Welt sein, deren Bevölkerung langsamer wuchs als der Landesdurchschnitt.
Eine inzwischen als Fehler erkannte Tendenz beim Aufbau der ländlichen Regionen war der Import städtischer Geschoss-Wohnungsbautypen, die der Lebensweise der Nutzer in keinster Weise entsprachen und auf verständliche Akzeptanzprobleme stieß. Hintergrund war die Ablehnung der traditionell und klimatisch angepassten Bauweise aus Stroh und Lehm: Diese Hütten, als „Bohios“ bekannt, wurden mit Ausbeutung und Sklaventum assoziiert und ihre Ausrottung war eines der ersten deklarierten Ziele der revolutionären Regierung.
Die erste größere Investition in der Hauptstadt erfolgte erst 15 Jahre später mit dem Bau der Trabantenstadt Alamar sowie einiger kleinerer Neubausiedlungen am Stadtrand im Zuge der ersten Microbrigada-Programme – die auch als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nach Beginn der von der USA verhängten Blockade interpretiert werden können. Schon nach ca. 5 Jahren lief das Programm aus, wurde aber Mitte der 1980er Jahre als Antwort auf die spontanen Bau-Intiativen der Bevölkerung wieder belebt. In diesem Zuge entstand auch eine neue Trabantenstadt anlässlich der Panamerikanischen Spiele 1991.
Nach dem Zusammenbruch des Comecon- Wirtschaftsbündnisses und der beteiligten Regierungen in Mittel- und Osteuropa startete das bekannte Notprogamm „Periodo Especial“ in Cuba. Die Wirtschaft wurde Stück für Stück umstrukturiert – teils mit dem Ziel einer besseren Eigenversorgung und geringerer Abhängigkeit von Importen,2 teils um den Bedürfnissen des internationalen Tourismus und der Integration in den Weltmarkt gerecht zu werden – beides wurde in Kauf genommen als geringeres Übel gegenüber dem drohenden politischen Zusammenbruch. In diesem Prozess wurde wieder vorrangig in der Hauptstadt investiert und die bevorzugte Investition in ländliche Regionen definitiv aufgegeben.
Wohnen als Grundrecht
und die Rolle des Staates als Wohnungsproduzent
Wohnen wird heutzutage allgemein, ähnlich wie Ernährung, Schulbildung oder medizinische Versorgung als Grundbedürfnis – wenn nicht als Grundrecht anerkannt. Da die Bedienung der Grundversorgung durch den Markt alleine nicht gewährleistet werden kann, haben die meisten Staaten – kapitalistische wie sozialistische – eine Verantwortung des Staates in diesem Sektor zumindest zeitweise anerkannt. Dabei gilt der vom Staat organisierte soziale Wohnungsbau als klassisch bevorzugte Lösung – wie in England bis 1980 oder im Wiener Gemeinde-Wohnungsbau seit den 1920er Jahren bis heute.
Cuba hat sofort nach der Revolution mit einer rigorosen Mietpreis-Regulierung in den Wohnungsmarkt eingegriffen – ohne jedoch, wie andere sozialistische Staaten, selbst genutzten Wohnraum zu verstaatlichen.3 Wie später auch beim staatlichen Wohnungsbau wurde die Miete auf 10 Prozent des Einkommens begrenzt, oder im Fall von mangelhafter Ausstattung sogar auf Null gesetzt. Nach 20 Jahren Mietzahlungen wurden die Baukosten der Wohnung als amortisiert betrachtet und die Wohnung dem Nutzer übereignet.
Binnen weniger Jahre hat auch der kubanische Staat damit begonnen, dem eklatanten Wohnungsdefizit durch staatlichen Neubau von Wohnraum zu begegnen – anfänglich mit innovativen Projekten wie z. B. in Habana del Este – später durch viergeschossige Zweispännertypen nach europäischen Vorbild. Die handwerkliche Mischbauweise wurde gegen Ende der 1970er Jahre durch industrialisierte Methoden – z. T. unter Zuhilfenahme gespendeter jugoslawischer oder russischer Systeme – ersetzt. Der Systemwandel wurde durch wesentlich höhere Produktivität begründet – welcher in der Praxis freilich niemals eintrat, da die unvermeidlichen Ausfälle bei der Zulieferung, im Maschinenpark oder der Organisation bei geschlossenen Systemen immer zu einem Totalausfall führen. Daneben hatten die importierten Systeme auch mit klimatischen und akustischen Inkompatibiläten zu kämpfen. Mit Beginn der Periodo Especial und der damit verbundenen Energiekrise war auch der industrialisierte Wohnungsbau obsolet geworden und man begann vorübergehend, mit stabilisiertem Lehmbau zu experimentierten ('construcción de bajo consumo de energía). Die notwendigerweise dickeren Wände und geringeren Geschosszahlen führten aber unter dem Strich zu keinen Einsparungen.
Festzuhalten wäre, dass der staatliche Wohnungsbau niemals in der Lage war, einen wesentlichen Beitrag zur Lösung des Wohnungsbaus zu leisten. Diese Erkenntnis trifft übrigens auch für andere sozialistische Entwicklungsländer in den 1980er Jahren zu, da die Wohnungsfrage in diesen Ländern nicht als Teil des Produktionssektors verstanden wurde (wie bei den Werksiedlungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts in England, Frankreich oder dem Ruhrgebiet) und deshalb aufgeschoben wurde, bis die Wirtschaft in einer ungewissen Zukunft einmal aufgebaut und voll produktiv sein würde.4
Wie immer, wenn ein Grundbedürfnis weder von dem Staat noch von dem Markt befriedigt werden kann, flüchten die Bedürftigen in die Subsistenzproduktion – in diesem Fall in den Selbsthilfe-Wohnungsbau. Dieser wurde in Cuba besonders in den kleineren Städten vom Staat toleriert, punktuell sogar gezielt gefördert (wie in den ersten Jahren der Revolution). Der Sektor boomte regelrecht: Die Wohnungszählung von 1981 belegte, dass in der vergangenen Dekade offensichtlich mehr Wohnungen privat als vom Staat gebaut wurden – obwohl die unter staatlichem Monopol stehende Baustoffproduktion keinerlei Baumaterialien hierfür bereitgestellt hatte. Die Reaktion der Politik war flexibel und einsichtig, indem die Not zur Tugend erklärt wurde und das Wohnungsgesetz von 1984 eine umfassende Förderlinie für Eigen- und Gruppen-Selbsthilfe einrichtete, einschließlich staatlicher Bereitstellung von Baumaterialien und fachlicher Beratung.
Wie der Begriff „Selbsthilfe“ suggeriert, sind soziale Rücksichten kein typisches Merkmal dieser Produktionsform: jeder kümmert sich um seine eigenen Belange und jene, die dazu nicht oder schlechter in Lage sind – wie Alte, Kranke, allein erziehende Mütter etc – haben schlechte Karten. Dieser Nachteil wird durch die Microbrigaden, eine Art der kollektiven Selbsthilfe und einzigartige kubanische Erfindung aus den 1970er Jahren, überwunden.5 Damals stand die Produktion aufgrund des zuvor von der USA verhängten Embargos still und die (im Sozialismus unkündbaren Arbeiter) hatten nichts zu tun während gleichzeitig der Wohnungsmangel eklatant blieb. Nichts lag näher, als die unterbeschäftigten Arbeiter in den arbeitsintensiven und Import-unabhängigen Bausektor zu schicken und so den dringend benötigten Wohnraum erstellen zu lassen. Jede Fabrik, Behörde oder andere Arbeitsstätte mit Arbeitskräfte-Überschuss stellte eine oder mehrere jeweils 33 Personen starke Baubrigaden zusammen, die unter Anleitung des Bauministeriums Apartment-Blöcke teils für die Belegschaft, teils für den allgemeinen Bedarf bauten. Die fertigen betriebseigenen Wohnungen wurden anschließend in einer Betriebsversammlung an die bedürftigsten Kollegen und Kolleginnen verteilt. Innerhalb von 8 Jahren wurden auf diese Weise 82 000 Wohnungen fertig gestellt – die meisten davon in Havanna, wo wegen des oben beschriebenen Investitionsstopp in den Jahren zuvor die Wohnungsnot am größten war.
Der Arbeitskräfte-Überschuss war nach Eingliederung Cubas in den Comecon Wirtschaftsverband Ende der 1970er Jahre abgebaut und die Wohnungsproduktion wurde wieder in die Hände der staatlichen Baubrigaden gelegt, die sich jedoch trotz – oder gerade wegen – der industrialisierten Baumethoden unfähig erwiesen, die gesetzten Planziele zu erfüllen. Gleichzeitig hatten die Kinder des Baby-Booms von 1960 das Alter erreicht, in dem sie selbst Familien gründeten und zusätzlichen Wohnraum benötigten.6 So ist es keine Überraschung, dass der Anstoß für eine Wende in der Wohnungspolitik wieder von der Basis erfolgte. Einige Bewohner hatten sich in Havanna zusammengeschlossen und die immer noch gültigen Regelungen der Microbrigaden für ein Gruppenselbsthilfe-Projekt instrumentalisiert. Die Initiative kam Fidel Castro zu Ohren und animierte ihn, bei seiner nächsten öffentlichen Rede eine Revitalisierung des Microbrigaden Systems zu propagieren. Diesmal lag die Logik in der Rekrutierung zusätzlicher, noch unbeschäftigter Arbeitskräfte – denn die Betriebe benötigten inzwischen ja wieder ihre eigenen Arbeitskräfte zur Erfüllung jener Aufgaben, für die sie qualifiziert und ursprünglich eingestellt worden waren.7 Zusätzliche Arbeitskräfte waren in der Peripherie von Havanna zu finden, wo viele Hausfrauen den langen Weg in das Stadtzentrum für einen nicht sonderlich gut bezahlten Job mieden, aber ihre prekäre Wohnsituation verbessern wollten. Ein zweiter geographischer Fokus des Programms war das Stadtzentrum selbst, wo sich im Laufe der Jahre viele Baulücken aufgetan hatten und die bestehende Infrastruktur ohne zusätzlichen Aufwand mit genutzt werden konnte.
Diese zweite Epoche der Microbrigaden wuchs schnell auf eine wesentlich höhere Anzahl von Brigadisten denn je zuvor an, und die Anzahl der jährlich fertig gestellten Wohnungen sollte 20 000 Einheiten erreichen – wenn 1990 nicht mit dem politischen Zusammenbruch Osteuropas die große Krise eingetreten wäre und alle Bautätigkeit jäh stoppte.8
Kollektiver Haus- und
Grundbesitz – ja oder nein?
Die exklusive Kontrolle über Grund und Boden wurde seit jeher als Mittel zur Ausbeutung zwischen Menschen missbraucht und die Vermietung von und Spekulation mit, Wohnraum ebenso. Deswegen haben die meisten sozialistischen Staaten versucht, beide Praktiken zu unterbinden. Die Nationalisierung von Grund und Boden ist das häufigste und auch in Cuba angewendete Instrument hierfür; andere Optionen wie Mietpreiskontrolle und die Produktion von Wohnungen durch den Staat wurden bereits weiter oben erwähnt.
Der Privatbesitz von Wohnungen wurde jedoch in Cuba nie infrage gestellt und würde zudem der lateinamerikanischen Tradition widersprechen. Stattdessen wurden sogar mit dem Wohnungsgesetz von 1984 die staatlichen Mietwohnungen des sozialen Wohnungsbaus privatisiert und den Mietern übertragen – eine ökonomisch verständliche Maßnahme, da die Instandhaltung der Wohnungen durch die Baubrigaden des Staates mit den bescheidenen Mieteinnahmen nicht zu finanzieren waren. Der Spekulation mit Wohnraum wurde in Cuba dadurch weitgehend ein Riegel vorgeschoben, dass jede Familie nur eine Wohnung und ein Ferienhaus besitzen darf, und so die Akkumulation von Wohnungen, Leerstand und gewerblicher Vertrieb behindert ist.
In der Frage des Landbesitzes liegt die Situation anders. Zwar steht auch in der Landwirtschaft eine Bodenreform auf der Tagesordnung, um die Produktion zu erhöhen, doch in den Städten gehört nach wie vor aller Boden dem Staat, was sich z. B. im Fall der Altstadtsanierung von Havanna als Vorteil erwiesen hat. Die dort praktizierte Quersubventionierung von sozialen Projekten zum Nutzen der im Quartier ansässigen Bevölkerung durch Tourismusprojekte bei gleichzeitiger Sanierung der Baustruktur wäre mit hunderten privater Parzellenbesitzer nicht möglich gewesen.9
Städtische Mobilität
Mit Eintritt der „Periodo Especial“ brach der auf billigen Sowjet-Ölimporten und aus dem Ostblock importierten Kraftfahrzeugen beruhende Individualverkehr schnell schnell zusammen. Bereits vor der Wende in der UdSSR wurde Cuba anlässlich eines Staatsbesuch von Chrushew von dem bevorstehenden Ende der begünstigten Ölimporte informiert, worauf die Regierung von einem auf den anderen Tag beschloss, 700 000 Fahrräder aus China und Indien zu importieren. Diese wurden an die Angestellten der Betriebe und Studierenden verteilt, damit diese auch weiterhin regelmäßig zum Arbeitsplatz bzw. zur Schule kommen konnten. In einem Land mit einer Bevölkerung von 10 Millionen Einwohnern, in dem zuvor kaum ein Fahrrad auf der Straße zu sehen war stellte diese Aktion eine wahrhaft radikale Änderung dar.
Während zuvor der Import von Neuwagen für den Individualverkehr aus devisenpolitischen Gründen nahezu unmöglich war, wurde angesichts des hohen Benzinverbrauchs der allerorts benutzten Oldtimer ab sofort der Import von sparsameren Neuwagen gefördert, denn die Importkosten durch Einsparung an Brennstoff sollten sich auch volkswirtschaftlich schnell amortisieren.
In den Bemühungen, eine Basisversorgung im Öffentlichen Nahverkehr aufrecht zu erhalten, zeigte sich Cuba besonders innovativ. Die große Anzahl wegen Motorschaden stillgelegter Busse und Taxen stellten eine besondere Herausforderung dar. Die angesichts der Notlage entwickelte Lösung lag bei den Taxen darin, mehrere Chassis aneinander zu schweißen und mit einem einzigen Motor zu betreiben – das Ergebnis waren komfortable Großraumtaxen. Die Lösung für Busse sah ähnlich aus: drei Aufbauten ausrangierter Busse wurden zu einem großem Busanhänger verbunden und mit neuen Sattelschlepper-Triebfahrzeugen als „Schnellbusse“ mit ausgedünntem Haltestellen-Abstand in der Stadt und Umgebung benutzt. Unter der Bevölkerung bürgerte sich schnell der Begriff camello (Kamel) für diese stets überfüllten und daher wenig beliebten Vehikel ein.
Bewohnerbeteiligung in
der Quartiersentwicklung
Das dramatisch geschrumpfte Vermögen des kubanischen Staates zur Bereitstellung von städtischer Infrastruktur führte auch zur Verlagerung von Verantwortlichkeiten vom Zentralstaat und den Gemeinden hin zur Basis. 1990 wurden flächendeckend die Consejos Populares als unterste politische Institution auf Quartiersebene eingeführt, und zwar mit direkt gewählten (und z. B. bei Ineffizienz wieder abwählbaren) Vertretern.10 In Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf wurden sie ergänzt durch die Talleres de Transformación Integral del Barrio, die wiederum zahlreiche Bürgerinitiativen in der Stadtteilentwicklung berieten und auf vielerlei Weise förderten. Beispiele für die Aktivitäten solcher Bürgerinitiativen sind die Anlage von Grünflächen und Parks, die Förderung von städtischer Landwirtschaft, die Dekoration von Hausfassaden, die Betreuung von Kindern mit Lernstörungen, die Pflege afrocubanischer Kultur (insbesondere Tanz), die Organisation zyklischer Stadtteilfeste (z. B. Karnevals-Umzüge), etc. In einem deutsch-kubanischen Forschungsprojekt wurde anhand von 50 Fallstudien solcher Stadtteilinitiativen die Frage untersucht, welche Faktoren zum Gedeihen oder Absterben solcher Initiativen in Cuba beigetragen haben.11 Dabei wurden als stabilisierende Faktoren an erster Stelle das kontinuierliche Engagement eines Initiators und – weniger vorhersehbar – die Inkorporation von religiösen oder kulturellen Inhalten als gemeinsames Identifikationsmittel identifiziert. Danach rangierte die Unterstützung durch das erwähnte lokale Taller de Transformación Integral eine zentrale förderliche Rolle und die Legitimierung der Aktivität durch ein staatliches Rahmenprogramm. Wenig oder widersprüchlichen Einfluss spielte die Förderung durch die Stadtverwaltung oder die für Cuba typischen Massenorganisationen. Als hoher Risikofaktor stellte sich die Finanzierung durch ausländische Geber heraus, da diese die eigenen Anstrengungen der Initiative schwächen, aber naturgemäß zeitlich begrenzt sind und nach ihrem Abschluss mangels Finanzierung keine Folgeprojekte nach sich ziehen.
Der kleine Unterschied
Vor dem Hintergrund der geschilderten Beobachtungen und Erfahrungen stellt sich die Frage, in wieweit ein direkter Zusammenhang mit dem in Cuba praktizierten Sozialismus hergestellt werden kann – oder ob diese genauso gut in einem anderen Land oder unter einer politisch anders orientierten Regierung in Cuba möglich gewesen wären. Obwohl eine empirisch-wissenschaftliche Beantwortung der Frage unmöglich ist, lassen sich dennoch eine Reihe von Augenfälligkeiten feststellen.
1. Durch gezielte Investition außerhalb der Metropole Havanna ist es gelungen, den Bewölkungszuwachs in der Metropole niedriger zu halten als der nationale Durchschnitt.12 Dies wurde zwar auch in anderen Ländern versucht, aber nicht erreicht.
2. Während der konventionelle staatliche Massenwohungsbau auch in Cuba wenig zur Beseitigung der Wohnungsnot beizutragen vermochte, verzeichnete die Gruppenselbsthilfe-Variante in Form der Microbrigaden während der zwei kurzen Phasen ihrer gezielten Umsetzung beachtenswerte Erfolge mit dem Ergebnis, dass heute ca. 20 Prozent der Bevölkerung in Microbrigada-Häusern wohnen. Zumindest das in der ersten Phase angewendete Prinzip der Mobilisierung unterbeschäftigter Arbeiter durch die Betriebe wäre in einem kapitalistischen Land undenkbar, da die betriebswirtschaftliche Buchführung der einzelnen Betriebe in einer solchen Situation Massenentlassungen unvermeidbar macht. Die sozialen Microbrigaden der zweiten Phase ließen sich theoretisch, da zu 100 Prozent staatlich gefördert, auch in jedem anderen Land einrichten – obwohl eine intensive Opposition seitens der privaten Bauwirtschaft zu erwarten wäre.
3. Die Microbrigaden nach dem Prinzip der Gruppenselbsthilfe vermögen den naturgemäß unsozialen Charakter des Selbsthilfe-Wohnungsbaus überwinden. Die Betonung des Kollektivgedankens und die direkt sichtbare Quersubventionierung benachteiligter Mitbürger mit absolut gleichwertigem Wohnraum widersprechen jedoch den ideologischen Grundsätzen der Marktwirtschaft und machen eine mögliche Übertragung dorthin unwahrscheinlich.
4. Die sozialverträgliche Sanierung der Altstadt von Havanna wurde durch den durchgängigen staatlichen Grundbesitz möglich gemacht – auch wenn sich das Eigeninteresse unterschiedlicher staatlicher Institutionen als Immobilienbesitzer gelegentlich noch als Hindernis e rwies. Mir ist dagegen kein Beispiel erfolgreicher Altstadtsanierung in einem nicht-sozialistischen Land bekannt, das nicht mit Gentrifizierung, d.h. der Verdrängung der zuvor ansässigen Bevölkerung einhergegangen wäre.
5. Ein derart massenhafter Import von Fahrrädern, die Montage derselben in Schulen und Universitäten und die fast kostenlose Verteilung derselben an Empfänger mit dem größten Mobilitätsbedarf lassen sich so nur in einem sozialistischen Wirtschaftssystem organisieren. Das schließt natürlich nicht die Möglichkeit ähnlich effizienter und marktkonformer Lösungen mit anderen Mitteln in anderen sozialen Formationen aus – wie z. B. die massive Einführung von Leihfahrrädern in Paris im Jahre 2007 oder das Transmilienio-Schnellbus-System in Bogotà. Beides waren allerdings keine ad-hoc Lösungen, sondern bedurften jahrelanger Vor-Verhandlungen.
6. Während Bürgerinitiativen eher ein Phänomen marktwirtschaftlich organisierter Staaten sind, ist ihre Förderung in Cuba eher im Gegensatz zu anderen sozialistischen Ländern osteuropäischer oder asiatischer Ausprägung hervorzuheben. Die dezentrale Verwaltung durch die direkt gewählten Consejos Populares ohne den Ballast der Parteien-Wirtschaft ist vermutlich ein Unikum des kubanischen Tropikal-Sozialismus, dessen relativer Flexibilität unter Anderem das Überleben des Systems seit 1990 zu verdanken ist. Wie weit der Entscheidungsspielraum der Consejos Populares in der Praxis geht, wäre eine eigene Untersuchung wert.
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1 Der Begriff Revolution bezeichnet in Cuba einen fortwährenden Prozess, kein plötzliches Ereignis.
2 Wie z. B. zunächst die städtische Landwirtschaft, später die Umstrukturierung des Agrarsektors allgemein.
3 Für eine ausführliche Beschreibung der cubanischen Wohnungspolitik siehe Hamberg, Jill, 1990: Cuba, in: Mathéy, Kosta (ed.), Housing Policies in the Socialist Third World, London und München, S. 35-70.
4 Mathéy, Kosta, 1990: Socialist Housing. Some Key Issues, in: Mathéy a.a.o., S. 13-18.
5 Die Microbrigaden wurden 1970 das erste Mal im Rahmen einer der öffentlichen Reden des Staatschefs Fidel Castro vorgestellt und zur massenhaften Einführung empfohlen. Für eine ausführliche Analyse der verschiedenen Formen von Selbsthilfe-Wohnungsbau in Cuba siehe Mathéy, Kosta (ed.) 1992: Beyond Self-Help Housing, London München, S. 181 – 218.
6 Zwischen 1958 und 1988 hatte die cubanische Bevölkerungszahl um 58 % zugenommen.
7 Im Gegensatz zu den betriebsgebundenen Brigaden wurde diese neue Variante als „soziale Microbrigaden“ bezeichnet.
8 Über die neuere Entwicklung in Cuba gibt es nur wenige zuverlässige Informationen. Als Ausnahme hervorzuheben wäre Drekonja-Kornat, Gerhard (Hg) 2007: Havanna: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, Wien.
9 Selbstverständlich waren in diesem Fall auch die meisten Gebäude in staatlicher Hand, doch selbst wenn dies nicht der Fall gewesen wäre, erlaubt die staatliche Kontrolle über den Boden eine Einflussnahme auf die Gebäudeentwicklung und –Nutzung.
10 Grundlage hierzu war das Gesetz 56 vom 4 de Julio de 1986.
11 Mathéy, Kosta, 2004: Factors affecting success or failure of community initiatives. Experiences from la Habana, Cuba, in: TRIALOG 81, S. 4-8.
12 Relativierend muß eingestanden werden, dass der Massenexodus der Balseros Anfang der 1980er Jahre und restriktive Zuzugsgenehmigungen auch einen gewissen Anteil an dem Ergebnis hatten.