Ambivalenter Umgang

Bemerkungen zum Verhältnis von Konservatismus und Populismus

Seit Jahren wird vermehrt die Frage nach einem zeitgemäßen Konservatismus diskutiert. Hintergrund dafür ist die gesellschaftspolitische Modernisierung der CDU in der Ära Merkel, von der sich WerteUnion und (Teile der) AfD unter Berufung auf reaktionäre Traditionen abzugrenzen suchen. Drückt sich Konservatismus also durch die Betonung eines völkischen Nationalismus und eines patriarchalen Familienbildes aus? Martin G. Maier analysiert die jüngsten konservativen Bemühungen um Selbsterneuerung und den ambivalenten Umgang mit den neuen rechten Formationen in Deutschland.

Vor etwa fünf Jahren wies die kürzlich verstorbene Karin Priester auf die Ähnlichkeit von Konservativen und Populisten bezüglich deren Stellung zu den gesellschaftlichen "Modernisierungsschübe[n]" hin: Angesichts "von oben induzierten gesellschaftlichen Wandels sowie Statusverlust[s] und kulturelle[r] Entwertung" könne möglicherweise auch der Konservatismus eines Tages wieder radikal werden und die zu erhaltenden "Strukturen und Institutionen" außerhalb des verfassungsmäßig Möglichen suchen.1 Zumindest der Populismus in Deutschland ist, wenn man die AfD darunter subsumieren möchte, längst dabei, sich von den liberalen Grundlagen der Bundesrepublik zu verabschieden. Seine ExponentInnen (nicht nur der mittlerweile aufgelöste "Flügel" der AfD) drängen darauf, all das zu überwinden, was die "politische Klasse"2 der Bundesrepublik an Werteverfall und insbesondere an Verlust "deutsche[r] kulturelle[r] Identität als Leitkultur" zugelassen habe.3 Zu ihrem Erhalt müsse Deutschland und seine verfassungsmäßige Ordnung grundlegend verändert werden.

Ähnlich wie die AfD rechnet auch die WerteUnion, ein Zusammenschluss von CDU- und CSU-Mitgliedern am rechten Rand ihrer Parteien, in ihrem Konservativen Manifest mit der "ungesteuerte[n] Zuwanderung" seit 2015 ab.4 Unter Verwendung eines geopolitischen Arguments wird behauptet: "Als dicht besiedeltes Industrieland ist Deutschland ungeeignet zur Aufnahme von Asylbewerbern und Flüchtlingen."5 Vor-Ort-Hilfe für Verfolgte sei darum einer Asylgewährung in Deutschland vorzuziehen und, in Abkehr vom Grundrecht auf Asyl, die jährliche Aufnahmekapazität auf 50.000 Menschen zu beschränken. Die Durchsetzung einer "europäisch-deutschen Leitkultur" erfordere im Übrigen insbesondere von den Muslimen ihre "Assimilation" an die "Mehrheitsgesellschaft", denn nur so könnten "Konfliktfreiheit und Sicherheit" gewährleistet und "unsere Werte und unsere Kultur" gesichert werden.6

Andere Kursbestimmungen eines sich erneuernden Konservatismus, für den in meinem Beitrag vor allem der Mainzer Geschichtsprofessor Andreas Rödder, CDU-Mitglied, und der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Winfried Kretschmann, Belege liefern, halten allerdings erheblichen Abstand zur AfD und etwas weniger deutlich auch zu den Positionen der WerteUnion. Sie nehmen für sich in Anspruch, programmatisch den gesellschaftlichen Mainstream zu vertreten und suchen, wie es stellvertretend für eine solche Tendenz Rödder in seiner Konservativ 21.0 überschriebenen Agenda für Deutschland formuliert, nach "Maß und Mitte zwischen feministischer Unbedingtheit und paternalistischer Ignoranz."7 Derlei Anrufungen der ›kleinen Leute‹, den in ihren (vermeintlichen) Interessen gegenüber den Etablierten zu kurz kommenden ›Normalbürgern‹ sozusagen, gehören schon seit circa 50 Jahren zum Standardrepertoire konservativer Interventionen.8 Hinzu kommt, dass seit einiger Zeit auch in Teilen der mehr oder weniger populismuskritischen Forschung die Träger des ›Alltagsverstandes‹ anhand diffuser gesäßgeographischer Verortungen als "Somewheres" den weltgewandten und wenig heimatverbundenen "Anywheres" gegenübergestellt werden.9

Gezeigt werden soll, dass nicht zuletzt im Rückgriff auf dieses und ähnliche Deutungsraster wirkmächtige konservative Publizisten kulturelle Aufwertungen der Lebenswelt der ›einfachen, hart arbeitenden Leute‹ vornehmen, wenngleich sie im Gegensatz zu den neuen rechten Formationen keine klar umrissenen Feindbilder aufrufen. Die Texte Rödders und Kretschmanns stehen sowohl für eine ›antiextremistische‹ als auch um ›volksnahe‹ Erneuerung konservativen Denkens bemühte Reaktion auf den systemoppositionellen Populismus der extremen Rechten. Inwiefern sich anlässlich der jüngsten rechten Herausforderungen ein tatsächlicher Wandel im konservativen Denken, insbesondere ein Bekenntnis zum Pluralismus und zum Abbau von Diskriminierungen finden lässt, bleibt dabei zu hinterfragen.

Kretschmann: Häusle bauen und Klima schützen

Winfried Kretschmann versteht in seinem kleinen Brevier mit dem Titel Worauf wir uns verlassen können den Konservatismus als "Klammer jenseits des überkommenen Links-rechts-Schemas, die Menschen mit ganz unterschiedlichen Geschichten und kulturellen Orientierungen zusammenbringt"10 . Er betrachtet konservatives Denken als Tugendkatalog, gruppiert um Aristoteles’ "Prinzip von Maß und Mitte" (ebd.). Im Gegensatz zu den "Strukturkonservativen" von einst gehe es heute darum, gesellschaftlichen Wandel vernünftig zu steuern und den bereits erfolgreich eingeleiteten ökologischen Umbau von Industrie und Alltag fortzusetzen. Häusle bauen [i]und[/i] Klima schützen: beides geht für Kretschmann zusammen, zumindest solange weiterhin "so viel in energetische Gebäudesanierung investiert [wird] wie bei uns", d.h. im ›Ländle‹.11 Autofahren und gleichzeitig CO2 vermeiden scheint für ihn das Gebot - nur so könne vermieden werden, dass die eigene Wettbewerbsregion gegenüber Tesla und Co. den Kürzeren ziehe: In Baden-Württemberg herrsche darüber Einigkeit, denn Kapital, Arbeit und Politik hätten dort aufgrund des "Strategiedialog[s] zur Transformation", der von Kretschmann höchstpersönlich gestartet wurde, "ein gemeinsames Ziel: Das emissionsfreie Auto der Zukunft soll in Untertürkheim und nicht in Fremont oder Wuhan vom Band rollen."12

Populistische und fundamentalistische Haltungen hingegen stellen für Kretschmann keine Problemlösungen dar, sondern verschärften die aktuellen Polarisierungen in der Gesellschaft nur. Die Illiberalen leugneten die Wichtigkeit der vorhandenen vielfältigen Lebensentwürfe in einer pluralistischen Gesellschaft. "Pluralismus und Individualisierung" gelte es auszuhalten.13 Es sei aber bei aller zu begrüßenden Modernisierung, etwa bei den Geschlechterverhältnissen, vor dem Umschlagen des "Individualismus zum Egoismus der Vereinzelten" zu warnen.14 Hier müsse ein erneuerter Konservatismus, den Kretschmann weniger in Verbindung mit dem Liberalismus als mit dem Kommunitarismus versteht, eingreifen. Dazu müssten die Menschen wieder mehr in ihren regionalen und lokalen Verwurzelungen wahrgenommen und unterstützt werden. Auch in der modernen Gesellschaft sei das Konzept des "abstrakte[n] Staatsbürger[s]" nicht alles.15 Die Einbindungen seiner Bürger*innen in die Vereine, Initiativen oder Verbände machten erst den Staat aus, eine staatliche Förderung solchen Zusammenhalts verhindere egoistisches Anspruchsdenken. Hier bringt Kretschmann den Heimatbegriff ins Spiel: "Wenn es uns gelingt, unsere Gesellschaft der vielen Einzelnen zumindest ein Stück weit im Sinne einer offenen ›Gemeinschaft von Gemeinschaften‹ zu organisieren, dann haben wir mehr als nur eine Anhäufung von Individuen, dann haben wir mehr Zusammenhalt, dann entsteht Heimat."16

"Respekt und Klarheit"

Polarisierungen gingen aktuell aber nicht nur vom rechten Populismus aus, sondern entstünden auch durch "eine überspannte und [i]verquaste politische Korrektheit[/i], die bei manchen Menschen für ein Gefühl der Entfremdung sorgt."17 Eine Politik der Mitte zwischen verbaler Radikalität und linker Sprachkritik stellt sich hingegen für Kretschmann nicht nur als Redefreiheit dar, mit der die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen verbürgt werden soll. Sie erfordert für ihn zusätzlich die Integrität und eine die Aufnahmefähigkeit der Massen berücksichtigende Strategie der Eliten bei ihrer Kommunikation mit den ›einfachen Leuten‹: "Es geht also um Respekt und Klarheit. Und das heißt auch: Wir Politiker müssen so sprechen, dass jeder uns versteht - gerade auch die Menschen, die sich neben ihrem anstrengenden Alltag nur nebenbei mit Politik beschäftigen. Denn im Nicht-Verstehen entsteht schon die erste Entfremdung zwischen ›denen da oben‹ und ›uns hier unten‹."18

Mit seiner Entfremdungskritik lässt Kretschmann ein sowohl konservatives als auch populistisches Motiv anklingen, das Alex Demirovic im Hinblick auf den Populismus als Fesselung der "sozialen Gruppen und Individuen an einen Traditionalismus und bizarren Alltagsverstand" beschrieben hat.19 Gleichzeitig werden durch dieses Verfahren Bildungseffekte verweigert bzw. geleugnet: Kretschmann verteidigt den Raum des Sagbaren gegen die Intellektuellen und anderen angeblichen Tabuwächter - wenn auch keineswegs, wie dies bei der extremen Rechten, einschließlich der AfD, der Fall ist, deshalb, weil er die nach 1945 eingeführten Diskurstabus über Bord werfen wollte. - Kretschmann beharrt vielmehr auf dem "konsensualen Bedeutungskern" und dem vorgegebenen Orientierungshorizont politischer Sprache.20 Diese überkommene konservative Rolle des "Hüters der Begriffe" (Martina Steber) wird allerdings dadurch umbesetzt, weil Kretschmann vom Wertefundament einer pluralistischen, freiheitlichen Gesellschaft ausgeht und er dabei den staatlichen Einfluss auf die Integrationskapazität ›unserer Werte‹ (unter die er auch den Islam fasst) weitgehend ausklammert. Oder wie Kretschmann es eingängig mit Ernst-Wolfgang Böckenförde formuliert: "Der freiheitliche Staat benötigt also Wertfundamente, auf deren Grundlage er überhaupt erst existieren kann."21

Rödder: Gegen die "Echokammern" von rechts und links

Auch Rödder spricht sich in seinem Bändchen Konservativ 21.0 deutlich gegen die "populistischen Bewegungen" aus: Er stößt sich insbesondere an ihrem Anspruch, "das ›wahre Volk‹ gegen das ›Establishment‹ zu vertreten" und an ihrem Hang "zu Verschwörungstheorien wie zum Beispiel der Annahme, Angela Merkel verfolge ein Programm der ›Umvolkung Deutschlands‹."22 Auf den Populismusanalysen von Goodhart und Koppetsch beruht seine Erkenntnis vom Auseinanderdriften akademischer und nichtakademischer Milieus als Ursache für eine "sprachlose Mitte", deren Protagonisten nicht nur spürten, wie sie in ihren "Zukunftsaussichten angesichts von Digitalisierung und Globalisierung mit ihren sich schnell wandelnden Anforderungen unsicherer wurden."23 Denn die neuen, kosmopolitisch orientierten Eliten verträten zudem einen davongaloppierenden "Globalismus der Grenzüberschreitung, der Öffnung und der kulturellen Hybridbildungen, der sich sowohl in einem neoliberalen Finanzmarktkapitalismus als auch in der Kultur von Diversität, Antidiskriminierung, gender mainstreaming und Inklusion niederschlägt."24 Zwar seien die "überfällige[n] Emanzipationsgewinne für vormals Benachteiligte und Marginalisierte" begrüßenswert, doch neige die Linke in ihrer Kritik an allgegenwärtiger Abwertung und Stereotypisierung von Menschen selbst dazu, Abgrenzungsmechanismen zu verwenden.25 Sie tendiere nämlich ebenso zum moralisierenden Ausschluss von gegnerischen, in diesem Falle ›rechten‹, Positionen aus dem Diskurs. Beide Extreme schaukelten sich damit "gegenseitig auf", denn beide Diffamierungsformen, d.h. "Kulturalismus von links und Populismus von rechts" seien nicht nur "gleichermaßen antipluralistisch", sondern lösten den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch die Etablierung gegeneinander gerichteter Teilöffentlichkeiten ("Echokammern") auf.26

Der in Demokratien notwendige politische Konflikt drohe sich an die Extreme des Meinungsspektrums zu verlagern, anstatt etwa in den etablierten Volksparteien, deren Rückhalt schwinde, ausgetragen zu werden. Insbesondere beklagt Rödder den Verlust eines liberalen Konservatismus des Ausgleichs und Dialogs in Gestalt einer "Volkspartei der rechten Mitte"27. Die entsprechende, vormalige Position der CDU sieht er nicht zuletzt aufgrund ihrer Wende in der Flüchtlingspolitik seit 2015 preisgegeben. Die AfD vermöge hingegen keineswegs diese Rolle auszufüllen, stehe sie doch mittlerweile für eine Verbindung "mit einer neuen Rechten, die sich an Carl Schmitt orientiert und an die illiberalen, nationalistischen Traditionen des deutschen Konservatismus anknüpft."28. Die neue rechte Partei im Bundestag akzeptiere nicht den notwendigen Wandel moderner Gesellschaften, sondern setze nur auf die "Moralisierung des Eigenen."29

Die Bewahrung der ›Mitte‹

Die Mitte hingegen, so formuliert Rödder, ebenso wie Kretschmann, im Rückgriff auf Aristoteles’ Mesotes-Lehre, sei nicht durch "abstrakte Theorie und Modelle, sondern durch Erfahrung und Alltagsvernunft [zu] bestimmen."30 Was als konservativ gelten möge, habe sich an der Realität zu bewähren, sei nicht in den Blaupausen einer erst zu errichtenden, neuen Gesellschaftsordnung verzeichnet. Sozialer Wandel sei vielmehr so zu gestalten, wie Rödder seinen zehn Thesen seiner "Agenda für Deutschland" programmatisch vorausschickt, "dass die Menschen in Deutschland ihn mitvollziehen können […]."31 Exemplarisch soll hierzu auf die Themenbereiche ›Gleichstellung‹ sowie ›Klimawandel‹ bei Rödder eingegangen werden:

Heißt es etwa im Manifest der WerteUnion über die Familie, ihr entspreche "das Leitbild ›Vater, Mutter, Kinder‹", und deshalb sei die "staatliche Förderung der ideologisch motivierten sogenannten Genderforschung" einzustellen32, argumentiert Rödder scheinbar differenzierter: Indem er vor allem auf geglückte, d.h. zumindest nach Meinung der breiten Öffentlichkeit erfolgreich umgesetzte Maßnahmen, wie dem Ausbau von Kindertagesstätten und auf die veränderte berufliche Situation von Frauen verweist, fasst er die Geschlechterpolitik im Wesentlichen als Gleichstellung auf. Als ihrem (vermeintlichem) Pendant widmet er sich in seinem "Männer und Frauen" übertitelten Abschnitt vor allem dem family mainstreaming, wobei er zwar auch dort durchaus "familiengerechte Berufswege" einfordert, doch letztlich für "einen Perspektivwechsel hin zum Vorrang für Familiengerechtigkeit" vor der Geschlechtergerechtigkeit plädiert.33 Ein solcher "Kulturwandel", der darin bestünde, "Kinder und Familien als Wert und Ziel an sich zu begreifen" (ebd.) - und damit nicht primär unter dem Gesichtspunkt von Care-Arbeit und Beruf -, führt für Rödder weg von einem emanzipatorischen Individualismus und hin zu "sozial gerechter und gemeinwohlorientierter Vielfalt."34

Auch bei seinen Ausführungen zur Klimapolitik mahnt Rödder zur Beachtung von Maß und Mitte. Er sieht in der aktuellen Debatte die Gefahr der Verabsolutierung von in Zukunft vielleicht widerlegter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu gesinnungsethischen Handlungsmaximen, moniert aber auch ihre Leugnung: Problematisch sei sowohl der geforderte Ausstieg aus der Industriegesellschaft als auch die Verbreitung verschwörungstheoretischer Narrative. Hingegen sei es Aufgabe einer "konservativen Umweltpolitik, die sich gegen Ideologie und Ignoranz wendet"35, nicht - wie es etwa 2011 beim Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie geschehen sei - vorzupreschen, sondern auf die "marktwirtschaftlich machbaren Lösungen" zu vertrauen, "die auf qualitatives statt quantitatives Wachstum zielen."36

Fazit

Rödder und Kretschmann stehen als konservative Verteidiger der Volksparteien (zu denen im Südwesten der Republik längst auch die Grünen zu zählen sind) gegen die populistische Herausforderung in einer langen Tradition. Schon kurz nach 1968 erschien die Berufung auf die "Moral Majority" (Richard Nixon) in repräsentativen Demokratien den Konservativen als ein Muss, sollte die moralische Überlegenheit des ›Volkes‹ gegenüber der "Priesterherrschaft"37 linker Intellektueller sich in Wählerstimmen ausmünzen. Erst durch die Mobilisierung der Unzufriedenen und Demokratieverdrossenen als organisierter Masse erschienen für einen erneuerten Konservatismus überhaupt Geländegewinne möglich. So ist nicht nur, wie Karin Priester feststellt, der dezidiert nationale Konservatismus längst im Wandel begriffen, weil er sich schon lange von elitären Konzepten verabschiedete und stattdessen "Massenmobilisierung" bis hin zur Forderung nach einer neuen "Volkssouveränität"38, etwa durch die Einführung von Plebisziten nach Schweizer Vorbild, zu seinem Kalkül machte.39 Auch ein liberaler und pluralistischer Konservatismus rekurriert bis heute auf die alltägliche Lebenswelt und das Orientierungswissen der ›kleinen, hart arbeitenden Leute‹. Keineswegs ist heute das seit den siebziger Jahren gepflegte Feindbild einer ›kulturellen Linken‹, die gekennzeichnet sei durch Orwell’schen ›Neusprech‹ und scheeläugigen Blick auf traditionelle Werte und Autorität, verschwunden - mag es auch mittlerweile vom Vorwurf der Systemüberwindung stark entlastet worden sein. Insbesondere die von Rödder vorgebrachte Kritik an einer "Moralisierung des Regenbogens" formuliert weiterhin den Vorwurf einer Überforderung der Duldsamkeit der gesellschaftlichen ›Mitte‹ durch angebliche Diskurstabus.40 Ihr folgt aber kein Plädoyer für eine um des inneren Friedens willen gebotene Rückkehr zu einem homogenen Staatsvolk.

Kretschmann, ohnehin stark zum ›Verfassungspatriotismus‹ tendierend, möchte nationale Vergemeinschaftung in einer nicht mehr nach ethnischen Kriterien strukturierten Zukunftsgesellschaft verwirklichen, während der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, in seinem Anfang 2018 in der Welt erschienenem Plädoyer für "eine konservative Revolution der Bürger"41 Heimat nicht nur gegen die anationalen Anfechtungen der Linken, sondern auch gegen eine ungesteuerte Zuwanderung aus anderen Kulturen verteidigen wollte. Diesen Kurs Dobrindts und auch der WerteUnion gegen Muslime und Asylsuchende in Deutschland teilt Kretschmann nicht. Er fordert zwar den Integrationswillen auch auf Seiten der Neuangekommenen ein, macht aber auch die Verweigerung von vollen Bürgerrechten für Einwanderer in der Vergangenheit zum Thema. Rödder hingegen zielt mehr auf das Motiv der Leitkultur, das für ihn eine Öffnung der Debatte über die Integrationsdefizite muslimischer Einwanderer einbegreift. Eine offene Diskussion darüber könne auch "Orientierung für Integration" geben und zugleich "Heimat für die Somewheres" vermitteln, "die sich in der gesellschaftlich-kulturellen Ordnung wiederfinden und respektiert fühlen können, anstatt den Eindruck zu haben, dass ihnen der multikulturelle Kosmopolitismus der Anywheres eine neue Ordnung aufzwingt."42

Dobrindts irritierende Vokabel von der "konservativen Revolution" wurde indes auch in einer Publikation der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung mit dem Hinweis moniert, sie stehe, abgesehen von ihrer antidemokratischen "Vorbelastung", geradezu "dem konservativen Grundprinzip von Evolution und Kontinuität diametral entgegen"43. Ebenso müsse, wie es ebenfalls gegen Dobrindt gemünzt heißt, der "Differenzierungsgrad des aktuellen CSU-Grundsatzprogramms auch beim schwierigen Thema Islam" eingehalten werden: "Wer sich als Mensch muslimischen Glaubens in unsere Werte- und Rechtsordnung einfügt […], der ist willkommen. Die CSU ist […] eine religionsfreundliche und keine islamfeindliche Partei. Das unterscheidet sie in gr oßer Deutlichkeit von den islamophoben Populisten einer AfD."44 Kretschmanns und Rödders Gedankengänge können geradezu als argumentative Ausgestaltung dieser von einem christlich-sozialen Think Tank erhobenen Forderung nach einem evolutionären Wandel des konservativen Denkens, nach "Kontinuität statt Rechtsruck"45 gedeutet werden. Sie stehen für die Abgrenzung von einem radikalen, weil Brüche in der Gesellschaft erheischenden, Populismus, doch ohne deshalb auf dessen Rückgriff auf einen durchaus von Ressentiment bestimmten Common sense verzichten zu wollen.

Anmerkungen

1) Karin Priester 2015: "›Erkenne die Lage!‹ Über die rechtspopulistische Versuchung des bundesdeutschen Konservatismus", in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, 4. Jg., Nr. 3: 84-92; hier: 84.

2) AfD 2016: Programm für Deutschland. Das Grundsatzprogramm der Alternative für Deutschland, Broschüre: 6.

3) Ebd.: 47.

4) WerteUnion 2018: Konservatives Manifest der WerteUnion Deutschland: Zukunft gestalten - Werte erhalten, Schwetzingen, abrufbar unter: https://werteunion.net/wp-content/uploads/2018/04/WerteUnion-Manifest.pdf (letzter Aufruf 25.03.20): 1.

5) Ebd.

6) Ebd.: 2.

7) Andreas Rödder 2019: Konservativ 21.0. Eine Agenda für Deutschland, München: 103.

8) Vgl. Martin G. Maier 2019: Der herausgeforderte Konservatismus. Von 1968 bis zur Berliner Republik, Marburg: 727ff.

9) David Goodhart 2017: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics, London; vgl. Cornelia Koppetsch 2019: Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld.

10) Winfried Kretschmann 2018: Worauf wir uns verlassen wollen. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main: 11.

11) Ebd.: 42.

12) Ebd.: 117

13) Ebd.: 50.

14) Ebd.: 51.

15) Ebd.: 57.

16) Ebd.: 59.

17) Ebd.: 69 - meine Hervorhebung; MGM.

18) Ebd.: 70 - Kursivierung i.O.

19) Alex Demirovic 2018: "Autoritärer Populismus als neoliberale Krisenbewältigungsstrategie", in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 48. Jg., Nr. 1: 27-42; hier: 37.

20) Martina Steber 2017: Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Berlin/ Boston: 223.

21) Winfried Kretschmann 2018 (siehe Anm. 10): 88.

22) Andreas Rödder 2019 (siehe Anm. 7): 11.

23) Ebd.: 12.

24) Ebd.: 13 - Kursivierung i.O.

25) Ebd.: 15.

26) Ebd.: 16.

27) Ebd.: 21.

28) Ebd.: 36.

29) Ebd.: 50.

30) Ebd.: 45.

31) Ebd.: 51.

32) WerteUnion 2018 (siehe Anm. 4): 3.

33) Andreas Rödder 2019 (siehe Anm. 7): 107.

34) Ebd.: 108 - meine Hervorhebung; MGM.

35) Ebd.: 87.

36) Ebd.: 89.

37) Helmut Schelsky 1975: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen.

38) Karin Priester 2015 (siehe Anm. 1): 88.

39) Vgl. AfD 2016 (siehe Anm. 2): 9.

40) Andreas Rödder 2019 (siehe Anm. 7): 15.

41) Alexander Dobrindt 2018: "Für eine bürgerliche Wende", in: Die Welt vom 4. Januar: 2.

42) Andreas Rödder 2019 (siehe Anm. 7): 119 - Kursivierungen i.O.

43) Philipp W. Hildmann 2018: Konservativ - aber richtig. Ein Plädoyer für Maß und Mitte, München: Hanns-Seidel-Stiftung: 8.

44) Ebd.: 10.

45) Ebd.: 12.

Martin G. Maier ist Politologe und wurde an der Universität Marburg promoviert. Seine Dissertation ist vor kurzem unter dem Titel Der herausgeforderte Konservatismus. Von 1968 bis zur Berliner Republik im Verlag des BdWi erschienen.