»Ich kann nicht atmen«

Hefteditorial iz3w 379 (Juli/August 2020)

George Floyd starb am 25. Mai 2020 in Minneapolis, erdrosselt von einem Polizisten. Er wurde 46 Jahre alt.

Es ist eine grausame Tatsache, dass George Floyd nicht der erste Afroamerikaner war, der in den letzten Jahren in den USA tödlicher Polizeigewalt zum Opfer fiel. Er ist auch nicht der erste, dessen grausamer Tod auf Video festgehalten wurde. Doch etwas scheint diesmal anders zu sein. Die Proteste unter dem Schlagwort »Black Lives Matter« entfalteten eine ungeahnte Wucht.

Vielleicht hat sich zu lange nichts geändert. Die Black Lives Matter-Bewegung entstand 2013 als Reaktion auf den Freispruch George Zimmermans, der den schwarzen Teenager Trayvon Martin erschossen hatte. Seitdem wurden immer wieder Schwarze Menschen von der Polizei getötet. Zuletzt starben Breonna Taylor im März dieses Jahres und Sean Reed im Mai. Beide Fälle erhielten zu Hochzeiten der Corona-Pandemie wenig Aufmerksamkeit. Nach George Floyds Tod wurden sie aber sofort aufgegriffen.

Seit 2017 ist mit Donald Trump ein Präsident im Amt, der nicht einmal mehr leere Beileidsfloskeln ausspricht, sondern Öl ins Feuer gießt und die Proteste diskreditiert. Und dies nun mitten in der Corona-Krise, von der Afroamerikaner*innen überdurchschnittlich betroffen sind. Das Risiko an Corona zu sterben ist in Chicago für Schwarze sieben Mal höher als für Weiße. Die strukturelle Diskriminierung ist derzeit besonders offensichtlich.

Das alles hat zu einem Ausbruch der Wut geführt. Vielleicht stellt George Floyds Tod einen Wendepunkt dar: Die aktuellen Proteste sind demographisch diverser geworden. Zudem fanden von Pendleton, Oregon, bis Bar Harbour, Maine, Black Lives Matter-Proteste auch in kleineren Städten statt. Es scheint, dass Rassismus tatsächlich als gesamtgesellschaftliches Problem begriffen wird.

Gleichzeitig bekamen die Proteste weltweit Anknüpfungspunkte: In Paris war es der Fall Adama Traoré, in Mexiko-Stadt die anhaltende Polizeigewalt, in London die rassistischen Polizeikontrollen während des Corona-Lockdowns, in Sydney die fast 400 Aborigines, die seit 1991 in Polizeigewahrsam starben. Zehntausende Menschen gedachten George Floyds und klagten gleichzeitig die rassistischen Zustände in ihren Ländern an. Das ging bis zum Abriss von Kolonialismus-verherrlichenden Statuen wie im britischen Bristol.

Auch in Deutschland gingen im Juni zehntausende Menschen gegen Rassismus auf die Straße. Zumindest für einen Moment erzwangen sie Gehör für die Rassismuserfahrungen der People of Color in Deutschland. Erst der Umweg über die USA ermöglichte den Aufschrei gegen Rassismus. Zuvor brachte der rassistische Terroranschlag von Hanau deutlich weniger Menschen auf die Straße. In den USA sind die Proteste ein Aufstand gegen Trumps Amerika, und das zu Recht. Im deutschen Kontext könnte ein gewisser Antiamerikanismus mitschwingen. Und mit dem Finger auf andere zu zeigen ist immer einfacher.

Die derzeit variiert vorgetragene Erzählung, dass »so etwas« in Deutschland nicht möglich sei, ist ein Märchen. Die Polizei ist hier anders strukturiert, aber nicht weniger rassistisch. Wer von George Floyd spricht, darf in Deutschland von Oury Jalloh nicht schweigen. Der Asylbewerber aus Sierra Leone verbrannte vor 15 Jahren in einer Polizeizelle in Dessau (siehe zuletzt iz3w 376), eine wirkliche Aufklärung des Falls wird bis heute behindert. Gerade wurde ein rechtsextremes Netzwerk innerhalb der hessischen Polizei aufgedeckt, außerdem flogen bewaffnete rechte Preppergruppen auf, in denen Beamte verschiedener Sicherheitsbehörden aktiv waren.

Auch jenseits von rassistischer Polizeigewalt bleibt Rassismus ein massives deutsches Problem. Auf einer Mahnwache in Gedenken an Georg Floyd in Freiburg fragte ein Redner: »Wo sollen wir anfangen, wenn wir heute über Rassismus sprechen?« und schlug einen Bogen von George Floyd über Oury Jalloh, Alltagsdiskriminierung, Racial Profiling und die mangelnde Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte hin zu dem eigenen, oft unbewussten Rassismus der anwesenden Weißen, der viel zu wenig thematisiert wird. Beim »Offenen Mikrofon« berichteten einige Schwarze Mitbürger*innen, wie ihnen alltäglich die Luft zum Atmen abgeschnürt wird.

Ja, wo sollen wir anfangen? Rassismus hat in Deutschland andere Ausgangsbedingungen als in den USA, das macht ihn nicht minder gefährlich. Noch immer sind PoC hierzulande benachteiligt. Noch immer sterben Menschen an den europäischen Außengrenzen. Noch immer werden nicht-weiße Menschen exotisiert. Noch immer gilt Kolonialismus als ein Problem anderer Länder. Noch immer wird Asylsuchenden aus fadenscheinigen Gründen Schutz verwehrt und sie werden brutal abgeschoben. Noch immer gibt es keine wirkliche Anerkennung des Genozids an den Herero und Nama. Noch immer ist das deutsche Parlament, das deutsche Fernsehen, die Vorstellung der idealen Nachbarn: weiß. Noch immer tötet Rassismus. Auch und gerade in Deutschland.

die redaktion