"Ich würde nicht zu viel erwarten"

in (08.04.2009)

Noam Chomsky im Gespräch mit Stefan Bornost über den neuen US-Präsidenten und dessen Pläne für Afghanistan, Irak und Nahost

marx21: Noam, in erster Linie haben arme und junge Menschen Obama ihre Stimme gegeben, doch seine Wahlkampagne wurde massiv von Großkonzernen und der Wall Street finanziert. Warum unterstützen diese einen eher linken Kandidaten?

Noam Chomsky: Die Großkonzerne, vor allem aber die Wall Street, sind der Meinung, dass Obama ihre Interessen am besten vertritt. Er wird sie nicht enttäuschen: Der Mann seiner Wahl für das Team von wirtschaftspolitischen Beratern ist Robert Rubin, Bill Clintons ehemaliger Finanzminister. Es war Rubin, der die Beseitigung des Glass-Steagall-Gesetzes aus der Zeit des New Deal durchboxte. Das Gesetz sollte Banken mehr Sicherheit gewähren und sie vor riskanten Spekulationen schützen, indem es die Trennung zwischen Geschäftsbanken einerseits und Investmentbanken, Versicherung oder ähnlichem anderseits vorschrieb. Es abzuschaffen hat die derzeitige Finanzkrise mitverschuldet. Nachdem die Gesetzesänderung durchgesetzt worden war, verließ Rubin die Regierung und wurde Direktor der Citigroup. Unmittelbar darauf kaufte diese mit großem Gewinn Versicherungsgesellschaften auf. Rubin blieb auf seinem Posten bis die Citigroup zusammenbrach. Erst kürzlich trat er zurück. Die Bank wurde mit einem riesigen staatlichen Rettungspaket bedacht, das sie dazu verwendete, all den Ballast, den Rubin ihr aufgebürdet hatte, wieder loszuwerden. Dieser Rubin berät nun den Präsidenten in Wirtschaftsfragen.

Obamas erste Wahl als Stabschef des Weißen Hauses, ein sehr wichtiger Posten, ist Rahm Emanuel, einer der eifrigsten Verfechter des Irakkriegs im US-amerikanischen Kongress. Emanuels Wurzeln liegen ebenfalls im Investmentbanking - ich vermute, dass er von der Finanzwelt mehr Gelder bekommt als irgendein anderes Kongressmitglied. Wir können also sicher sein, dass die Interessen der Finanzindustrie, Obamas wichtigstem Sponsor, gut vertreten werden.

Viele Menschen, die von der Wirtschaftskrise akut bedroht sind, hoffen dennoch, dass Obama ihnen helfen wird. Kann der neue amerikanische Präsident beiden dienen, den unteren Schichten und der Geschäftswelt?
Jeder ist sich der Tiefe der Finanzkrise bewusst. Ökonomen aller Couleur sind sich darin einig, dass es einer Staatsintervention außerordentlichen Ausmaßes bedarf, um das Finanzsystem zu retten. Die Großbanken haben in Gestalt der Regierung sozusagen ihre eigene private Versicherung. Sie trägt den Namen "too big to fail" ("zu groß, um fallengelassen zu werden"). Citigroup, die etliche Male in eine bedrohliche Schieflage geraten ist, hat immer gewusst, dass sie auf staatliche Hilfe zählen kann. Sogar die Reagan-Regierung griff ihr unter die Arme. Diese Sicherheit verleiht den Großbanken einen Wettbewerbsvorteil vor ihren Konkurrenten. Sie können risikoreiche Geschäfte tätigen, weil sie sich darauf verlassen können, dass ihnen die Regierung zu Hilfe eilen wird, wenn etwas schief läuft. Das erleben wir momentan. Ein Ende dieser milliardenschweren Rettungspakete ist nicht in Sicht. Ist das gut für das Land? Wohl kaum.

Interessant ist, zu beobachten, dass die Krisenintervention der reichen Länder, der USA und ihrer Verbündeten, im krassen Widerspruch zu jener Politik steht, die sie stets von den armen Ländern einfordern. Der Internationale Währungsfonds verordnet ihnen Kürzungen der Staatsausgaben, Zinserhöhungen und Privatisierungen - mit wahrhaft katastrophalen Folgen. Sich selbst verordnen sie das genaue Gegenteil: massive Staatsausgaben, Zinssenkungen und die Verstaatlichung von in Not geratenen Unternehmen. So sorgen die Reichen für sich selbst - das ist die Fortsetzung der Geschichte des Imperialismus. Die reichen Länder greifen auf üppige Staatshilfen zurück, um die Wirtschaft zu stützen, während den armen Ländern ein neoliberaler Kurs, wie es heute so schön heißt, aufgezwungen wird.

Um auf die Armen in den USA zurückzukommen: Wahrscheinlich werden auch sie etwas abbekommen, aber nicht viel. Sehen wir uns beispielsweise die Immobilienkrise an. Der jetzt eingeschlagene Weg sieht Gelder für die Banken und Zwangsenteignungen für zahlungsunfähige Hausbesitzer vor. Es ginge aber auch anders: Die Zwangsvollstreckungsgesetze könnten so geändert werden, dass die Menschen in ihren Häusern bleiben und Staatshilfen erhalten - so lange, bis ihre finanzielle Lage es ihnen ermöglicht, ihre Hypothekenzahlungen wieder aufzunehmen. Das wäre aus Regierungssicht sogar billiger und aus der Sicht der Bevölkerung sowieso besser. Aber davon hätten die Reichen nichts, also wird es nicht einmal in Erwägung gezogen. Das ist in allen Bereichen so. Gebetsmühlenartig wird beteuert: "Wir müssen Arbeitsplätze sichern". Das ist ein Euphemismus. Es gibt ein Wort mit sieben Buchstaben, ein wirklich obszönes Wort, das man nicht aussprechen darf. "Profite" heißt es. Keiner nimmt dieses Wort in den Mund. Also redet man davon, „Jobs" zu retten - und meint doch eigentlich "Profite". Wenn sie Jobs abbauen, dann tun sie das, um Jobs zu retten. Vielleicht wird die Obama-Regierung geringfügig andere Akzente als ihre Vorgängerin setzen, aber ich würde nicht zu viel erwarten.

Weltweit hoffen die Menschen auf eine Veränderung der US-Außenpolitik, vor allem auf ein Ende der Kriege im Irak und in Afghanistan. Glaubst du daran?
Obama ist der Ansicht, dass die USA die Vereinbarung über den Status der Streitkräfte (Status of Forces Agreement) respektieren sollten. Diese Vereinbarung wurde den USA aber von den Irakern aufgezwungen. Es ist wohl kaum bekannt, dass es neben dem bewaffneten Widerstand auch einen massiven gewaltfreien Widerstand im Irak gibt, der die USA zwang, Schritt für Schritt von ihren ursprünglichen Plänen abzurücken. Erst setzten die Iraker freie Wahlen durch, dann setzten sie sich bei den Verandlungen über die Streitkräfte-Vereinbarung durch. Wenn Obama nun zu ihrem Wortlaut steht, bedeutet das, dass die USA von den meisten ihrer Kriegsziele Abschied nehmen müssen: keine Militärbasen mehr, keine Kontrolle über die irakische Regierung, keine Handhabung über die irakische Ölindustrie. Ob Obama die einzelnen Punkte wirklich respektieren wird, ist eine andere Frage, aber so steht es zumindest auf dem Papier.

Im Fall Afghanistans verfolgt Obama einen gegenteiligen Kurs. Während der afghanische Präsident Hamid Karsai einen Zeitplan für den Rückzug der Truppen verlangt, eine breite Bewegung in Afghanistan ein Ende der Besatzung und des Krieges fordert und 75 Prozent der Bevölkerung Verhandlungen mit den Taliban, Entwicklung statt Bomben und ein Ende der Angriffe auf zivile Ziele wollen, spricht sich Obama für Truppenverstärkungen und die Erlaubnis aus, auch Pakistan zügellos zu bombardieren.

Die Rechtfertigungen hierfür sind bemerkenswert. Kommentatoren sprechen davon, dass die USA und die NATO mit einem "hausgemachten, sich selbst tragenden Aufstand" konfrontiert werden und wir deshalb mehr Truppen zur Verfügung stellen müssen, um für mehr Sicherheit zu sorgen. Das hätte auch 1985 in der "Prawda" stehen können. Als die Russen in Afghanistan einmarschierten, sahen sie sich ebenfalls mit einem "hausgemachten Aufstand" konfrontiert, der sich nicht nur selber trug, sondern von den USA, Pakistan und Saudi-Arabien massiv unterstützt wurde. Deshalb behaupteten die Russen, sie müssten noch mehr Truppen schicken.

Obamas Vorschlag, den Krieg auf die pakistanischen Grenzgebiete auszudehnen, ist besonders gefährlich. Erst vor kurzem wurde eine dieser Provinzen von einem massiven Aufstand, gefolgt von großen Kämpfen, erschüttert. Laut einheimischer Bevölkerung war dies eine Reaktion auf die Bombardierung einer Schule im vergangenen Jahr, bei der 85 Menschen starben. Die Menschen mögen es nicht, bombardiert zu werden, deshalb reagieren sie.

Obama unterstützte letztes Jahr auch den israelischen Angriff auf Syrien, der von der irakischen Regierung scharf kritisiert wurde. Es scheint, Obama akzeptiere die Bush-Doktrin, wonach die USA das Recht besäßen, jeden Beliebigen anzugreifen, solange sie selbst davon ungeschoren bleiben.

Aber die künftige Außenministerin Hillary Clinton sagt doch, die USA würden sich in Zukunft mehr auf "kluge Macht", auf Diplomatie, verlassen - um beispielsweise einen Frieden im Nahen Osten zu erreichen.
Das sind nur Worte. Die gesamte Obama-Kampagne bestand fast nur aus solchen Worthülsen. Was machen wir mit "kluger Macht"? Das stellte Obama kürzlich auf einer Pressekonferenz klar. Er lobte die Friedensinitiative der Arabischen Liga wegen ihrer "konstruktiven Elemente". Die konstruktiven Elemente beschränken sich für ihn auf die Bereitschaft der arabischen Staaten, ihre Beziehungen mit Israel zu normalisieren. Mehr sagte er nicht. Das ist aber lediglich eine Fußnote am Rande der Initiative. Die Initiative fordert an erster Stelle ein Ende der Besatzung und eine Zweistaatenlösung im Rahmen der Grenzen von 1967. Das ist und war seit nunmehr 30 Jahren der internationale Konsens in dieser Frage. Obama erwähnte ihn nicht einmal - womit er klar zum Ausdruck brachte, dass er gar nicht vorhat, ihn weiter zu verfolgen. Die arabischen Staaten sollen eine Politik der Normalisierung verfolgen, während die USA und Israel, die die ganze Zeit den internationalen Konsens blockiert haben, gar nichts zu tun brauchen.

Auf der gleichen Pressekonferenz sagte er: "Israel hat das Recht, sich gegen Terror selbst zu verteidigen - jede Demokratie hat dieses Recht." Für sich genommen stimmt das. Das ist aber nicht die Frage. Die Frage lautet: Hat Israel das Recht, sich mit Gewalt gegen Terror zu verteidigen? Dieses Recht steht keinem Staat zu, wenn es andere Alternativen gibt. Israel könnte sich stattdessen durch Beendigung von Aggression und Gewalt verteidigen. Sie haben offensichtlich diese Möglichkeit. Sie könnten der fortwährenden Übergriffe gegen Gaza und den kriminellen Aktivitäten in der Westbank ein Ende setzen. Der Siedlungsbau, der Mauerbau - all das ist absolut kriminell. Die israelischen Regierungen wurden seit 1967 wiederholt davon in Kenntnis gesetzt, dass sie internationales Recht und grundlegende Menschenrechtsprinzipien grob verletzen, aber sie fahren damit fort. Das erwähnte Obama mit keinem Wort. Also: Israel hat ein Recht auf Selbstverteidigung gegen Gewalt, aber ist nicht verpflichtet, seine eigenen kriminellen Aktivitäten einzustellen - das scheint Obamas Position zu sein.

Der israelisch-palästinensische Konflikt wird als unlösbares Problem betrachtet. Das ist er nicht. Wenn die USA ihre extreme Ablehnungshaltung aufgeben und den internationalen Friedenskonsens akzeptieren würden, hätten wir schon gute Voraussetzungen. Israel würde sich dann einer solchen, gar nicht so komplizierten Verhandlungslösung fügen. Solange aber die USA den Bau von Siedlungen und Infrastrukturmaßnahmen unterstützen, die das Ziel haben, die Westbank derart zu zerstückeln, dass ein palästinensischer Staat keine Lebensperspektive hat, und solange Israel gestattet wird, arabische Gebiete und Wasserressourcen an sich zu reißen, wird es keine Vereinbarung geben. Es gibt traurigerweise bislang keine Anzeichen dafür, dass die Obama-Regierung umschwenken wird.

Die europäische Friedensbewegung bereitet sich vor, gegen den NATO-Gipfel Anfang April zu protestieren. Welchen Platz nimmt die NATO im Rahmen der US-Außenpolitik ein?
1990 machte Gorbatschow eine unglaubliche Konzession. Er stimmte zu, dass das vereinte Deutschland einem feindlichen Militärbündnis - der NATO - angehört. Das ist nahezu unglaublich, wenn man bedenkt, dass die deutschen Armeen Russland im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt haben. Er bestand aber auf einer Gegenleistung, die ihm auch gewährt wurde. Die Regierung von George Bush Senior versprach ihm, dass sich die NATO nicht weiter ostwärts ausdehnen würde, so dass Russland eine Art Pufferzone um sich behalten konnte. Der Westen nahm später Abstand von dieser Vereinbarung und begann doch, sich nach Osten auszudehnen.

Das war eine ernsthafte Sache, und es lag auf der Hand, dass eine Reaktion Russlands - beispielsweise in Form eines neuen Rüstungsprogramms - nicht ausbleiben würde. James Jones, Obamas Sicherheitsberater, ist ein ausgesprochener Verfechter der NATO-Osterweiterung. Das Bündnis wird gleichzeitig nach Süden ausgedehnt und eine neue Eingreiftruppe aufgestellt. Die NATO steht unter US-Kommando. Sie kann behaupten, sie sei unabhängig, aber das stimmt nicht. Die NATO-Armeen sind lediglich eine Art erweiterte US-Streitkraft. Das ist eine außerordentlich gefährliche Entwicklung - sie könnte das Ende der Menschheit bedeuten. Sie erhöht die Gefahr eines Nuklearkriegs ganz erheblich, und sei es nur aus Zufall. Es ist unerhört, aber das war schon seit eh und je eine der Hauptaufgaben der NATO: Als Instrument der USA deren Kontrolle über Europa zu sichern. Diese Aufgabe erfüllt sie heute noch.

Zur Person:
Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Instiute of Technology (MIT). Neben seiner sprachwissenschaftlichen Arbeit, für die er zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, gilt Chomsky als einer der bedeutendsten linken Intellektuellen Nordamerikas. Seit dem Vietnamkrieg ist er als scharfer Kritiker der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik bekannt. Dem "Arts and Humanities Citation Index" von 1992 zufolge ist Chomsky im Zeitraum zwischen 1980 und 1992 die am häufigsten zitierte lebende Person der Welt gewesen. Der 80-Jährige bezeichnet sich selbst als libertären Sozialisten. Er ist Mitglied der „Industrial Workers of the World". Zahlreiche seiner Werke sind auch auf Deutsch erschienen - zuletzt unter anderem "Media Control. Wie die Medien uns manipulieren" (Piper 2006), „Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen: Zentrale Schriften zur Politik" (Verlag Antje Kunstmann 2008) und „Interventionen" (Edition Nautilus 2008).

 

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Schwerpunkt des Heftes: Kampf um jeden Arbeitsplatz. Gegenwehr, Mitarbeiterbeteiligung, Verstaatlichung – Strategien gegen die Jobkrise. Mit Beiträgen von Wolfgang Schaumberg über Opel, Rainer Thoman über die erfolgreiche Betriebsbesetzung bei Officina in der Schweiz und Volkhard Mosler über die Widersprüche der Verstaatlichung. 20 Jahre Mauerfall: Des weiteren startet mit der Ausgabe eine Serie zu 20 Jahre Mauerfall mit Stimmen aus der Linken unter anderem mit Gregor Gysi, Sybille Stamm, Alexis Passadakis, Klaus Wolfram und Julia Bonk. Außerdem Edeltraut Felfe über den schwedischen Sozialstaat – ein Modell für die Linke?

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