Die Stadt ist ein Ort, an dem Fremde leben

in (12.05.2016)

In Deutschland leben gegenwärtig 16 Mio. Menschen, die selber oder deren Eltern eingewandert sind, und es werden immer mehr. In Städten wie Stuttgart oder Frankfurt haben 40% der BewohnerInnen einen Migrationshintergrund, bei den Kindern sind es 60%, und das wird die Zukunft vieler großer Städte in Westeuropa sein. In vormodernen Stammesgesellschaften wäre das unmöglich gewesen. Der Fremde wurde erschlagen oder davon gejagt, wenn er Glück hatte durch Adoption oder Heirat zum Stammesmitglied gemacht. Auf jeden Fall musste Fremdheit auf die eine oder andere Weise aus der Welt geschafft werden. Was befähigt heutige Städte, so vergleichsweise gelassen mit so viel Fremdheit umzugehen?

Stadt beginnt, wenn die BewohnerInnen einander nicht mehr kennen. Auf dem Dorf gibt es nur Verwandte und Nachbarn, ein Fremder/ eine Fremde auf dem Dorfplatz fällt auf. In der Stadt ist es umgekehrt, in ihren öffentlichen Räumen begegnet jede/r, auch der/ die Alteingesessene, dem/ der Anderen als Fremde/r. Trifft man auf dem Marktplatz zu viele Bekannte, beschleicht einen der Verdacht,  in der Provinz zu leben, nicht in einer richtigen Stadt. Der Fremde ist der Prototyp des Städters. Das liegt nicht nur an der unüberschaubaren Zahl der EinwohnerInnen großer Städte, auch nicht daran, dass Städte die bevorzugten Ziele von MigrantInnen sind. Entscheidend ist, dass moderne Stadtgesellschaften aus sich heraus vielfältige Fremdheiten produzieren. Eine große Stadt ist ein  Mosaik aus  kulturellen Dörfern. Sie beherbergt neben den ethnischen Kolonien der ZuwandererInnen die unterschiedlichsten Milieus: das Milieu der bürgerlichen Oberschicht und das der Obdachlosen, die verschiedensten jugendlichen Subkulturen, das unordentliche Milieu der KünstlerInnen und das der ordentlichen Geschäftsleute, die Kulturen der Lesben und Schwulen, das grün-alternative Milieu, die  Reste des traditionellen Arbeitermilieus, alles  Milieus von Einheimischen, deren Angehörige einander aber mit mindestens ähnlicher Befremdung begegnen  wie ein deutscher Arbeiter seinem türkischen Kollegen.

Deshalb mussten Städte vor aller Zuwanderung zwei Mechanismen entwickeln, um das Zusammenleben von  vielen Menschen, die einander räumlich nah aber sozial und kulturell fremd sind, halbwegs zivil zu gestalten. Das ist einmal die urbane Lebensweise. Georg Simmel hat sie mit den wenig anheimelnden Begriffen Gleichgültigkeit, Blasiertheit, Distanziertheit und Intellektualität charakterisiert. Der/ die StädterIn wappnet sich mit urbaner Indifferenz gegen die Beunruhigungen angesichts  der tagtäglichen Begegnung mit Fremden, indem Fremdheit aus der Wahrnehmung gleichsam ausgeblendet wird.

Nun verfügen nicht alle StadtbewohnerInnen über die Tugenden des gelernten Städters. Deshalb gibt es noch einen zweiten Mechanismus, um der Nähe des Fremden seine Konfliktträchtigkeit zu nehmen: die Segregation. Indem die segregierte Stadt die verschiedenen Gruppen der StadtbewohnerInnen in verschiedene Territorien der Stadt sortiert, übersetzt sie soziale und kulturelle Unterschiede in räumliche Distanzen. Damit leistet die Stadtstruktur dasselbe wie die urbane Lebensweise des Städters: Fremdheit bleibt erhalten, aber die möglichen Konflikte zwischen verschiedenen Identitäten und Lebensentwürfen werden durch Distanzierungen entschärft.  Die urbane Lebensweise wie die segregierte Stadt sind Mechanismen, um Fremdheit zu dethematisieren.

Die Integration moderner Stadtgesellschaften beruht nicht nur auf Homogenität, sondern ebenso  auf der Fähigkeit, Differenz auszuhalten. Aber Integration ist nicht schon dadurch gewährleistet, dass man sich aus dem Weg geht. Erst Kommunikation über die Grenzen der kulturellen Dörfer hinweg macht die Stadt zum Ort produktiver Auseinandersetzung, und die Kultur der Stadt lebt vom Konflikt zwischen verschiedenen Kulturen. Städtische Konflikte sind Auseinandersetzungen über die Verteilung von Lebenschancen und über die richtige Art, in der Stadt zu leben. Es sind tiefgehende Auseinandersetzungen, denn sie berühren Identitäten. Den öffentlichen Räumen der Stadt kommt dabei eine wichtige Funktion zu: Sie können eine integrative Funktion erfüllen, wenn sie als Arenen fungieren, in denen Auseinandersetzungen um die reale und die symbolische Präsenz des Fremden ausgetragen werden. Die Kämpfe der Schwulen und Lesben um  Sichtbarkeit im öffentlichen Raum waren solche Kämpfe um die Anerkennung ihrer Besonderheit. Auch die Konflikte um Kopftuch und Moscheen sind Konflikte um die Grenzen der Anerkennung des Anderen. Wenn neben den sieben Kirchtürmen in der Silhouette von Lübeck auch ein Minarett zu sehen sein wird, dann wird der Islam in Deutschland akzeptiert sein.

Auch die Universitäten, die Volkshochschulen, der Sport, die Bühnen der Theater und die Werke der bildenden Kunst können öffentliche  Räume sein, wo die Diversität der Stadt verhandelt wird. Die Auseinandersetzung zwischen den kulturellen Dörfern der Stadt zu organisieren, kann geradezu eine Aufgabe der Institutionen der Stadtkultur genannt werden. Die Produktivität der Stadtkultur wird bestimmt von der Fähigkeit, die Teilnahme aller an den Kämpfen um die verschiedenen Entwürfe vom richtigen Leben in der Stadt zu gewährleisten und gleichzeitig diese Kämpfe in den Grenzen ziviler Auseinandersetzungen zu halten. Wenn es gelingt, die städtischen Konflikte solchermaßen demokratisch zu bändigen, dann leistet der öffentliche Raum der Stadt gerade als umkämpfter Raum Integration ohne Vernichtung von Differenz, und Stadtkultur ist eine Kultur der Differenz.


Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 38, „Fremde im Inneren (Neugierde & Gewalt I)“.

Walter Siebel ist emeritierter  Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Der Beitrag beruht auf Thesen, die ausführlich entwickelt werden in: Walter Siebel: Die Kultur der Stadt. Berlin 2015 (Suhrkamp Verlag).