Warum die Flüchtlingshilfe keineswegs nur „karitativ“ ist.
Auf der Oberfläche der medialen Diskurse dominieren gerade zwei Interpretationsmuster in Hinblick auf die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Monate: Einerseits feiert Deutschland seine Hilfsbereitschaft, wofür die Bilder der klatschenden Helfer am Münchner Hauptbahnhof stehen, die die Flüchtlinge in Empfang nehmen; und auf der anderen Seite haben wir die Diskurse der „Sorge“, der Angst vor „Überforderung“, Diskurse, die halb ernst gemeint sind, halb nur Camouflage eines irre gewordenen Rassismus, Diskurse, die von Horst Seehofer bis zur Pegida reichen. In dieser dichotomischen Diskursanordnung geht aber das Wichtigste womöglich unter.
1. Die Hilfsbereitschaft ist eine Art Aufstand
Die Zivilgesellschaft, die die Sache selbst in die Hand nahm, indem sie auf Bahnhöfen, in den Grenzgebieten, in den Kommunen Flüchtlingen hilft, sie „hilft“ nicht einfach nur, sie protestiert auch implizit. Es ist ein Protest, aber fast ohne Parolen, einer des Handelns. Es ist unübersehbar ein Protest gegen Regierungspolitik, die nur versucht, sich Flüchtlinge vom Hals zu halten, es ist auch ein Protest gegen ein Dublin-Regime, das nicht nur versucht, das „Problem“ auf die europäischen Peripheriestaaten abzuwälzen, sondern das frierende, hungernde und im Extremfall ersaufende Flüchtlinge sogar wünscht, als Abschreckung für alle andere, als Botschaft: Bleibt, wo ihr seid. Es gibt Wut über eine solche Politik, vielleicht auch eine Prise schlechtes Gewissen, schlechtes Gewissen darüber, bisher weggeschaut oder all das toleriert zu haben, was auch immer. Kurzum: ohne diese Emotionen lässt sich die Woge der Hilfsbereitschaft der vergangenen Monate nicht vollends verstehen. Hilfsbereitschaft ist damit aber nicht bloß karitativ, sie ist ein politischer Akt. Sie verändert auch die politische Landkarte. Die Woge der Hilfsbereitschaft ist eine Welle, die dann auch Politiker und Politikerinnen „reiten wollen“. Die Zivilgesellschaft, die hilft, entfaltet somit politischen Druck.
In meinem Heimatland, in Österreich, war das besonders spürbar: Wir haben eine Bundesregierung, die im Sommer kläglich bei der Unterbringung von Flüchtlingen versagte, die Elend und Misere in Erstaufnahmezentren einfach achselzuckend hinnahm (genauer gesagt: die dieses Elend erst produzierte), und wir haben eine rechtspopulistische Partei, die viel zu oft die öffentlichen Diskurse prägt. Erst die massive Hilfe der Zivilgesellschaft verschob die Ordnung der Diskurse und setzte auch die Regierung unter Druck, ihre Linie zu ändern. Die Bilder zehntausender Helfender wiederum brachten die sozialdemokratische Hälfte dieser Bundesregierung dazu, sich vorsichtig humanitär zu positionieren, und sie brachte die Wiener SPÖ dazu, im Gemeinderatswahlkampf eine prononcierte „Refugees Welcome“-Kampagne zu fahren und damit den Rechtspopulisten eine – gemessen an den Ausgangserwartungen – empfindliche Schlappe zuzufügen. Auch das, dass sich der sozialdemokratische Bürgermeister dafür entschied, diese „Woge zu reiten“ sowie die Tatsache, dass es geklappt hat, zeigt die politische Dimension des „Aufstands der freiwilligen Helfer“.
2. Solidarisches Handeln im „Post-Individualismus“
Diese Woge der Hilfsbereitschaft ist aber noch in einer anderen Hinsicht „politischer“ als man beim ersten Hinsehen vermuten mag. Zigtausende Menschen vernetzten sich mit anderen, um mit anderen gemeinsam aktiv zu werden. Man muss ja nur in diese Milieus hineinhören: Die Helfer sind ja begeistert über sich, und zwar nicht deshalb, weil sie von ihrer eigenen Hilfsbereitschaft gerührt sind, sondern über die Gemeinschaftserlebnisse, die mit dieser verbunden sind. Es gibt gewissermaßen eine Sehnsucht, die Vereinzelung zu überwinden, die eine Gesellschaft, deren vorherrschende Ideologie die Idee des Individualismus geworden ist, zur Folge hat. Dies konnte man als subkutane Tiefenströmung schon vor diesem Sommer ausmachen. Wer glaubt, die Mehrzahl der Menschen sei heute von dem Bedürfnis motiviert, nur den eigenen Vorteil im Auge zu haben, nur im Hamsterrad zu laufen, nur gegen den Nebenmann und die Nebenfrau zu konkurrieren, der kriegt nur die Hälfte der Wirklichkeit mit. Die andere Hälfte der Wirklichkeit ist, dass immer mehr Menschen eine Gesellschaft, die nach diesen Regeln funktioniert, für „irgendwie krank“ halten und deren Anforderungen so gut wie möglich zu unterlaufen versuchen. Sei das durch ehrenamtliche Aktivitäten, sei das in den Sphären der solidarischen Ökonomie, sei das auch im Job, wo nicht wenige Leute Einkommenseinbußen in Kauf nehmen, um Jobs zu machen, die sie für „sinnvoll“ erachten, in denen sie mit anderen gemeinsam kooperativ etwas tun, wofür sie sich nicht schämen müssen, sodass sie sich, wie die Redewendungen lauten, morgens „in den Spiegel schauen können“.
Die Hilfsbereitschaft ist in diesem Sinne auch ein tätiges politisches Statement von Menschen, die vorführen, wie eine solidarische Gesellschaft aussehen könnte, eine Gesellschaft, die sie sich wünschen würden. All das ist nicht unparadox: Diese Menschen sehen sich ja selbst als unverwechselbare Individuen, als Singularitäten, als Ichs unter vielen heterogenen Ichs, die keineswegs zu einem Wir homogenisiert werden wollen. Sie halten den zeitgenössischen Individualismus hoch, leiden aber zugleich an der Vereinzelung, die mit ihm einher geht. Solidarität heißt für sie nicht, dass sie in irgendwelche Kollektive hineingepresst, hineinhomogenisiert werden wollen. Sie sind, um das salopp zu sagen, für die Transformation des Individualismus in einen Post-Individualismus, der die Vielfalt nicht aufhebt, aber die Vereinzelung. Es lebt sich nicht gut als Atom. Es lebt sich besser, wenn man mit anderen kooperiert. Nicht wenige haben beinahe täglich gesagt: „Ich bin so stolz auf Euch!“ – damit aber ein Wir gemeint, zu dem sie sich selbst zählten. Dieses Wir-Erlebnis war aber eine der für sie beeindruckendsten Sachen.
3. Radikales Handeln, ohne sich zu isolieren
Im Zuge dieser Woge vollzog sich eine „Radikalisierung“ des Handelns, die gar nicht mehr als „radikal“ auffiel. Aber: Viele Menschen taten Dinge, die sie noch ein paar Wochen vorher nie getan und vielleicht auch nicht einmal goutiert hätten, wenn sie andere getan hätten – oft sogar nicht einmal für vorstellbar hielten. In Österreich war das besonders auffällig, weil unser Land ja an Ungarn grenzt. Und es wurde plötzlich eine massenhafte Aktivität, mit dem Auto nach Ungarn zu cruisen, um Flüchtende in Sicherheit zu bringen. Anfänglich noch im Geheimen, taten das viele Menschen dann völlig offen. Was früher noch als „zu gefährlich“, „illegal“ und in weiten Kreisen der Bevölkerung daher auch als „nicht zu tolerieren“ angesehen worden war, war plötzlich vollkommen normal. Fluchthilfe und die Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt wurden zu einer vollkommen akzeptierten Sache und von hunderten, wenn nicht tausenden Menschen praktiziert, das heißt aber auch, es kam zu einer Radikalisierung des Handelns, ohne dass diejenigen, die diese Handlungen setzten, in den Augen der breiten Mehrheit überhaupt als „radikal“ erschienen wären. Das setzte sich auch im Kleinen fort: Immer mehr Menschen sind bereit, Flüchtlinge privat bei sich unterzubringen. Natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten: Wer nur eine kleine Wohnung hat, kann nur für ein paar Tage – manchmal nur für eine Nacht - ein „Gästezimmer“ frei räumen. Nicht jede hat eine Villa mit Gästewohnung, das ist schon klar. Aber für viele Menschen wäre das vor zwei Monaten noch völlig unvorstellbar gewesen. Heute ist es das nicht mehr. Auch das ist eine „Radikalisierung“ in einem positiven Sinn, dass Dinge normal werden, die vor kurzem noch undenkbar waren. Es ist aber eine „Radikalität“, die die „Radikalen“ nicht von den „Normalos“ entfremdet.
Der Zufall will es, dass, während ich diese Zeilen schreibe, zwei Nachrichten von der Staatsanwaltschaft Wien in mein Postfach flattern. In der einen heißt es, die Staatsanwaltschaft habe das Ermittlungsverfahren wegen Schlepperei gegen mich „eingestellt“, in dem anderen Schreiben ist zu lesen, eine weitere entsprechende Anzeige gegen mich wurde „ohne Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ... zurückgelegt“.
Die Akzeptanz „radikalen“ Handelns hab ich damit quasi amtlich.
Robert Misik ist ein bekannter Publizist und Autor aus Wien. Aktuell erschien von ihm im Picus Verlag das Buch Was Linke denken. Ideen von Marx über Gramsci zu Adorno, Habermas, Foucault & Co. Misik engagiert sich bei Fluchtsolidaritätsaktivitäten.