Ein Sammelband über Geschlechterverhältnisse, der zeigt, dass Anarchistinnen und Anarchisten aus der Geschichte lernen können
Philippe Kellermann ist den Leserinnen und Lesern der Graswurzelrevolution bekannt. In den letzten elf Jahren hat der Berliner Genosse 39 Artikel für die GWR geschrieben. In letzter Zeit macht er sich als GWR-Autor allerdings rar.
Kein Wunder. Seit Anfang 2015 gibt er die lesenswerte Zeitschrift für Anarchismusforschung Ne znam (siehe Rezension in dieser GWR) heraus. Ebenfalls in der Edition AV veröffentlichte er Bücher über „Marxistische Geschichtslosigkeit“. Er ist Herausgeber des erhellenden Interviewbandes „Anarchismus Reflexionen“, der „Begegnungen feindlicher Brüder“, außerdem diverser Anarchismus-Klassiker im Unrast Verlag.
Der soeben von ihm herausgegebene erste Band von „Anarchismus und Geschlechterverhältnisse“ vereinigt verschiedene Artikel, die sich dem Verhältnis von Gender, Anarchismus und Machismo widmen.
Die Lektüre ist ein Genuss. Das Buch regt zur kritischen Reflexion an und ist weiterführend.
Dabei liest sich Kellermanns Einleitung zunächst ein bisschen so, als ginge es dem Herausgeber um eine Art „Ehrenrettung“ der Anarchisten. So behauptet er, dass der Anarchismus „seit seinem Beginn“ auch „für die Gleichheit der Geschlechter eingetreten“ sei (S. 7).
Leider ist das eine Übertreibung, die im Buch auch eindrucksvoll widerlegt wird. Der Begriff „Anarchist“ war nach seiner Entstehung zunächst ein reiner Schmähbegriff. Der erste Mensch, der sich ab 1840 selbst als Anarchisten bezeichnet hat, war Pierre-Joseph Proudhon. Dieser französische Frühsozialist trat allerdings keineswegs „für die Gleichheit der Geschlechter“ ein. Ganz im Gegenteil. Proudhon war ein übler Frauenhasser und Antisemit, auf den sich heutige AnarchistInnen nicht ernsthaft positiv beziehen können, auch wenn ohne ihn die Entstehung der anarchistischen Bewegung (ab den 1860er Jahren) nicht zu erklären ist.
Was für ein Widerling Proudhon war, wird von Werner Portmann in seinem Beitrag „Die Ökonomie der Liebe oder Pierre-Joseph Proudhons Frauenfrage“ herausgearbeitet. Portmann stellt klar, dass die antifeministischen und misogynen Zitate Proudhons „bis heute erschreckende Beispiele männlicher Allmachtsfantasien“ geblieben sind, die „selbst für Wohlgesinnte Proudhons nicht zu rechtfertigen sind und als die schlechten und dunklen Punkte des Philosophen betrachtet werden“. (S. 13)
Portmanns Artikel ist nicht der einzige, der mich begeistert hat.
Die aus dem Englischen, Französischen und Spanischen von Julia Hoffmann, Michael Halfbrodt und Andreas Förster hervorragend übersetzten Beiträge sind allesamt, wie die NiederländerInnen sagen würden, lekker: John Clark: „Elisée Reclus und die Kritik des Patriarchats“, Gaetano Manfredonia/Francis Ronsin: „E. Armand und die ‚Liebeskameradschaft‘. Revolutionärer Sexualismus und der Kampf gegen die Eifersucht“, sowie Richard Cleminson: „Die Konstruktion von Maskulinität in der spanischen Arbeiterbewegung: eine Studie zur Revista Blanca (1923-1936)“.
Auch die deutschsprachigen AutorInnen des Sammelbandes schreiben zu ihren Herzblut- oder Dissertationsthemen: Antje Schrupp über „Feminismus und die Politik von Frauen in der Pariser Kommune“, Vera Bianchi über „Anarchistinnen, Humanismus und Geschlechterverhältnis: Die Mujeres Libres im Spanischen Bürgerkrieg“, Siegbert Wolf über „Gustav Landauer: Sex und Gender“.
Zu meinen Lieblingsautoren gehört der Literaturwissenschaftler Martin Baxmeyer. Seine romanistische Dissertation „Das ewige Spanien der Anarchie. Die anarchistische Literatur des Bürgerkriegs (1936-1939) und ihr Spanienbild“ (Edition Tranvia 2012) war für mich allerdings nur zum Teil zu verstehen, weil sie zahlreiche, nicht übersetzte spanische und katalanische Originalzitate enthält. Zwei Sprachen, die ich leider nicht spreche.
Umso mitreißender ist sein Beitrag in diesem Sammelband: „Mann aus Stahl. Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder in der anarchistischen Literatur des Spanischen Bürgerkriegs (1936-1939)“.
Dieser Text sei vor allem auch heutigen „syndikalistischen“ Möchtegernpistoleros und Barrikade-Machos empfohlen, die bisher den Gewaltfreien Anarchismus verabscheuen und lieber online und in ihren Publikationen die Geschichte verklären, anstatt historische Fehler und eigene Schwächen zu analysieren und daraus zu lernen.
Martin Baxmeyer stellt klar, dass es zur „Tragik so manchen libertären Schicksals in Spanien gehörte, mitunter Jahrzehnte lang gezwungen gewesen zu sein, mit der Waffe in der Hand tief empfundene persönliche Überzeugungen zu verraten: erst im Bürgerkrieg, dann in der Résistance, und schließlich (möglicherweise) im erfolglosen Guerillakampf gegen Franco.“ (S. 161)
„Der Krieg und das massenhafte Töten und Sterben erscheinen als vom Gegner aufgezwungene Schandtat und als dessen vielleicht größtes Verbrechen, weil es die Anarchisten zwinge, ihr positives, aufbauendes Werk mit jenem des Mordens und Zerstörens zu vertuschen.“ (ebd.)
Der Hispanist zeigt den Einfluss eines neomilitaristischen Machismo (S. 168) auf die anarchosyndikalistische Literatur und Bewegung im Spanischen Bürgerkrieg. Er konstatiert: „Es dominierte der patriarchale Kult um den kämpfenden Mann, der die bedrohte Mutter, Schwester, Tochter etc. verteidigt. Eine Revolutionierung der konservativ-patriarchalen gender-order der vorrevolutionären Zeit war unter diesen Umständen von der anarchistischen Literatur des Bürgerkriegs kaum zu erwarten.“ (S. 180)
Fazit
Der Sammelband „Anarchismus und Geschlechterverhältnisse“ gehört zu den wichtigen Büchern, die die anarchistische Bewegung hierzulande in diesem Jahr veröffentlicht hat.
Ich freue mich schon auf den zweiten Band.
Bernd Drücke
Rezension aus: Graswurzelrevolution Nr. 412 (Libertäre Buchseiten), Oktober 2016, www.graswurzel.net
Download: Libertäre Buchseiten Oktober 2016 als PDF: www.graswurzel.net/412/libu412.pdf