„Deutschland ist das Flüchtlingsheim Europas“, titelte Die Welt bereits am 15. Oktober vergangenen Jahres. Weiter hieß es: „So viele Flüchtlinge in Europa gab es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Viele EU-Länder lassen Schutzsuchende nach Deutschland weiterziehen. Eine Quote für die Verteilung lehnen die meisten ab.“ Nach längerem Hin und Her und den neuen Bildern ertrunkener Flüchtlinge im Mittelmeer wurde nun von Seiten der EU-Kommission der Vorschlag präsentiert, die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten per Quote zu regeln. Nach den bisherigen Regelungen ist für Asylbewerber stets das Land zuständig, das sie als erstes betreten haben. Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Ende April, nach dem großen Flüchtlingsdrama ankündigte, nunmehr das EU-Asylsystem ändern zu wollen und Flüchtlinge auf mehr Staaten zu verteilen. Dreiviertel aller Asylbewerber entfielen auf fünf Mitgliedsstaaten, und das müsse anders werden.
Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Quote soll die Wirtschaftskraft und die Zahl der Einwohner der Länder berücksichtigen. Das würde die Lage in Deutschland entspannen, aber auch Länder einbeziehen, in die bisher kaum Flüchtlinge gerieten. Das ändert jedoch nichts daran, dass diese Quote eine Idee aus Deutschland ist. Der innenpolitische Druck, der in Deutschland in Sachen Asyl und Flüchtlinge entstanden ist, wird so außenpolitisch an die anderen EU-Staaten weitergegeben. Wie viele Länder die Idee schon wegen ihrer deutschen Abkunft ablehnen, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Großbritannien, Irland und Dänemark, die an der Vergemeinschaftung dieser Politik ohnehin nicht teilnehmen, winkten gleich ab. Präsident François Hollande sagte, eine Quote komme für Frankreich „nicht infrage“. Polen, Tschechien, die Slowakei, Estland, Lettland und Litauen lehnten ebenfalls zeitnah ab.
Ungarn auch. „Was die EU-Kommission vorschlägt, grenzt an Wahnsinn“, formulierte Ministerpräsident Viktor Orbán am 19. Mai in Straßburg gewohnt drastisch. Einige Tage zuvor hatte er, in Ungarn noch drastischer, einen „Einwanderungsstopp“ gefordert, wegen wachsender Terrorgefahr. Sein Hauptargument aber war, das Zusammenwachsen der ungarischen Gesellschaft habe keine Chance, wenn „wir eine Art Wohnheim-Party“ ankündigen, zu der jeder kommen und bleiben könne, und dann „bis in die Morgenstunden“ feiere. Die im Mittelmeer Ertrunkenen verhöhnte er, indem er die Überfahrt einen „heiteren Nachmittagsspaß“ nannte.
Der Pester Lloyd vom 19. Mai 2015 beschrieb, dass das EU-Parlament Ungarn wieder einmal auf die Tagesordnung gesetzt hatte und Orbán erneut als „Verteidiger“ seiner Politik nach Straßburg gefahren war: „Wir Ungarn wollen ein Europa der Europäer und darin ein Ungarn der Ungarn bewahren.“ Sein Land brauche keine Einwanderer. Die EU-Politik im Allgemeinen und die Quotenregelung im Besonderen fordere „Flüchtlinge geradezu auf, nach Europa zu kommen“. Deshalb lasse er in Ungarn gerade das Volk befragen, was es denn in Sachen Flüchtlinge wolle. Polemisch hielt er seinen Kritikern im Auditorium entgegen: „Wenn Sie uns vorschreiben wollen, worüber wir in Ungarn diskutieren dürfen, handeln Sie gegen die Gründungsverträge der Europäischen Union.“
Die sogenannte Befragung besteht darin, dass Fragebögen im Lande verteilt werden, die mit je drei Antwortmöglichkeiten versehen sind: „Sehr wichtig, wichtig, nicht wichtig“ oder „Völlig einverstanden, einverstanden, nicht einverstanden“. Die Fragebögen sollen anonymisiert bis 1. Juli eingesandt werden – das Porto zahlt der Staat. Die darin enthaltenen zwölf Fragen hätten Orwells „Ministerium der Wahrheit“ alle Ehre gemacht. Zuerst wird suggestiv die Frage danach gestellt, wie bedeutsam „die Thematik des anwachsenden Terrorismus“ für das eigene Leben des Ausfüllers ist, gefolgt davon, ob seiner Meinung nach „Ungarn in den kommenden Jahren Ziel des Terrorismus werden“ könnte. Damit ist die Flüchtlingsproblematik bereits mit dem Terrorismusproblem verbunden worden. So folgt nun Frage drei: „Manche sagen, dass die fehlgeleitete Einwanderungspolitik Brüssels zum Anwachsen des Terrorismus führt. Stimmen Sie damit überein?“ Wer die beiden ersten Fragen mit Ja beantwortet hat, kann jetzt nicht Nein sagen.
Dem folgt eine Quizfrage: „Wussten Sie, dass Wirtschaftsflüchtlinge die Grenze illegal überqueren und dass deren Zahl zuletzt um das 20-fache gestiegen ist?“ Auch wer das zuvor nicht wusste, weiß es jetzt, und dass der Flüchtling, der bisher kein Terrorist ist, zumindest Wirtschaftsflüchtling ist und sich illegal ins Land geschlichen hat, also Gesetzesbrecher ist. Prompt tritt der Patriotismus in Symbiose mit der inländischen Armut auf den Plan: „Stimmen Sie der Meinung zu, dass Wirtschaftsflüchtlinge Jobs und Existenzen der ungarischen Menschen gefährden?“ Wer hier Nein sagt, ist kein Patriot und darf der Regierung nicht vorwerfen, sie tue nicht genug gegen die Armut.
Die folgenden Fragen verstärken noch einmal die Position, „Brüssels Politik zu Einwanderung und Terrorismus (sei) gescheitert“, und die ungarische Regierung solle „bei ihren Bemühungen zur Einführung strengerer Einwanderungsregeln, als sie Brüssel vorhat“, unterstützt werden, vom Ausfüllenden auch ganz persönlich. Folgerichtig schließt sich an: „Würden Sie eine neue Gesetzgebung befürworten, die es der ungarischen Regierung erlaubt, Einwanderer, die illegal ins Land eingereist sind, in Haft zu nehmen?“ Sie sollten auch „so schnell wie möglich in ihre Länder zurückgeschickt werden“, und „die Wirtschaftsflüchtlinge, die in Ungarn bleiben“, sollen „die Kosten ihres Aufenthalts decken müssen“. Kurzum: Sie bekommen nichts und werden bis zur raschen Ausweisung unter Umständen in Haft genommen. Der Pester Lloyd, der den Fragebogen am 27. April auf Deutsch publiziert hat, erläutert zu dieser zehnten Suggestivfrage, bei den Wirtschaftsflüchtlingen, die in Ungarn bleiben dürfen, handele es sich nicht um anerkannte Flüchtlinge mit einem Aufenthaltsstatus, sondern darum, dass diejenigen, die nicht sofort abgeschoben werden, sondern der Gnade eines Asylverfahrens teilhaftig werden, nicht einfach in einem Asylgefängnis sitzen sollen, sondern dort auch Zwangsarbeit zu leisten haben. So lautet denn die letzte Frage: „Stimmen Sie mit der ungarischen Regierung überein, statt Mittel für die Einwanderung bereit zu stellen, wir ungarische Familien und die Kinder, die noch geboren werden, unterstützen sollen?“
Martin Schulz, der sozialdemokratische Präsident des Europäischen Parlaments, kritisierte Orbán und die ungarische Regierungspolitik in der Flüchtlingsfrage, ebenso der Sprecher der Liberalen Fraktion. Für die Sozialisten und die Grünen sprachen Abgeordnete aus Ungarn. Sie kritisierten die Befragung zur Flüchtlingsproblematik scharf, der Fragebogen sei in einem Goebbels‘schen Duktus verfasst. Eine Abgeordnete von Orbáns Partei Fidesz dagegen betonte, die Befragung gebe „ungeschönt die Sorgen der Menschen wieder“. Der Abgeordnete Manfred Weber (CSU), seit 2014 Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, zu der auch Fidesz gehört, meinte dagegen, es sei zwar die Wortwahl „inakzeptabel“, aber „das Befragen der Bürger an sich“ sei „eine gute Sache“.
So schwebt weiterhin Angela Merkels schützende Hand über Viktor Orbán und seinem politischen Tun, selbst wenn es augenscheinlich in Gegnerschaft zu einer Politik formuliert wird, die aus Berlin stammt. Das mag auf den ersten Blick unverständlich sein. Aber vielleicht werden in Bezug auf die Flüchtlinge in Ungarn gerade Positionen ausprobiert, die später auf Deutschland übertragen werden könnten: Scheitert die Quote, stellt sich die Sache auch hierzulande neu dar. Der Geist des Fragebogens jedenfalls dürfte auch durch Deutschland streichen.