Der Geist weht, wo er will

Eindrücke von der XVII. Internationalen Tagung des InkriT: Marxismus und die Große Krise

Alljährlich gönne ich mir das Vergnügen, an der InkriT-Tagung zum Historischkritischen Wörterbuch des Marxismus teilzunehmen. Obwohl die Tagung nicht mehr an Pfingsten stattfindet, gleichen ihre Werkstätten doch einem aus der gewöhnlichen Zeit entlassenen Augenblick, in dem alle miteinander reden können, obgleich sie in verschiedenen Zungen sprechen. Da treffen sich (feministische und nicht-feministische) Marxistinnen und Marxisten (und andere, die überlegen, ob sie es werden wollen) verschiedenster Erfahrungen und Auffassungen, reden, denken und debattieren miteinander, als hinge das Leben davon ab, wie man einen Begriff am besten darstellt, so dass alle, selbst noch die Nachgeborenen, einen Nutzen davon haben. Da finden sich berühmte, weise Männer (auch einige Frauen, noch zu wenige) aus allen erwarteten und nicht-erwarteten Disziplinen, wie etwa Theologie oder Kunst, neben jungen Studierenden, die zum ersten Mal gekommen sind, neugierig, gierig nach Wissen, das an den wenigsten Universitäten noch angeboten wird. Viele studieren marxistische Theorie nebenbei und wollen nun diesen Ort nutzen, ihr Wissen auszuprobieren oder Ratschläge zu erhalten. So fragte mich jemand, ob ich ihr helfen könne, Solidarität zu verstehen. Sie schreibe über García Lorca, der doch als solidarisch gelte mit den Armen, und doch stelle er Schwarze exotisierend dar. Ein anderer möchte ein paar Vorschläge haben, welche Bücher er seiner Freundin als Einführung in den Feminismus schenken könnte. Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sitzen neben Professoren und Professorinnen, und was sie zusammenbringt, ist der Geist des Widerstandes, die Lust am Denken, Verstehen und Verändern.

Die Werkstätten sind der Kern der Tagung. Dort stellen Autorinnen und Autoren ihr jeweiliges Stichwort vor; mindestens vier, oft sechs Leserinnen und Leser haben sich vorher verpflichtet zu votieren. Nachdem das Stichwort vorgestellt ist, prasseln auf die Schreibenden die unterschiedlichsten Ideen ein: einige schlagen Erweiterungen vor, andere wollen das Stichwort gänzlich anders dargestellt haben, wieder andere beginnen eine allgemeine Diskussion über das Thema, formulieren die Gedanken, die sie schon lange einmal mit einer Gruppe dieser Art, in der kenntnisreiche und engagierte Menschen ihr Wissen zur Verfügung stellen, diskutieren wollten. Jedes Stichwort bekommt anderthalb Stunden, da ist viel Raum für Gedankenaustausch. Allerdings sind die Autoren nicht immer glücklich über die Gedankenfülle. Einige, die Königstiger, wie ich sie nennen möchte, gewohnt, dass man ihnen lauscht, vielleicht zuweilen widerspricht, aber keineswegs vorschlägt, wie sie ihren Text verändern könnten, zeigen sich zutiefst beleidigt. Wie kann man ihm, dem Vertreter der wichtigsten theoretischen Strömung der Welt, Vorschriften machen? Der Geist weht halt nicht immer dort, wo einer meint, ihn ein für alle mal für sich gepachtet zu haben.

Aber zurück zum Vergnüglichen (obwohl es auch etwas Vergnügliches hat, so einem Königstiger bei der Verteidigung seines Reviers zuzusehen): nirgends sonst lerne ich so viel über Fragen, die mich umtreiben, zu denen ich mich sachkundig machen will, die aber im Räderwerk des Alltags untergehen, oder auch zu Fragen, von denen ich nie geglaubt habe, dass sie mich interessieren könnten: diesmal erfuhr ich, wie unterschiedlich marxistische Ökonomen die Krise erklären, handelt es sich nun um den Fall der Profitrate, oder um eine Explosion, um einen außer Rand und Band geratenen Dämon, den auch die Hexenmeister nicht mehr kontrollieren können? Ich hörte, wie die Krise das politische und ökonomische System der EU destabilisiert, ob und wie sie sich langfristig würde lösen können. Gibt es in Zukunft das »Traumpaar« China-Deutschland? Der Zusammenhang mit der Krise der Natur und der Arbeit wurde deutlich, und die These, man müsse das Management als eigene Klasse definieren, war heiß umkämpft.

In einer Werkstatt diskutierten wir, woher eigentlich die links/rechts-Begrifflichkeit stammt, wann sie sich als Selbstbezeichnung durchsetzte, wie Marx und Engels (höchst selten) sie benutzten. In einer anderen bezweifelten wir (wieder einmal), ob man wirklich von weiblicher Macht sprechen kann, wenn sie sich auf den Haushalt begrenzt; es hagelte Vorschläge, welche Ethnologinnen heranzuziehen seien, die das Matriarchat und Matrilinearität schon komplexer und widersprüchlicher analysiert hätten. Der Begriff »Machismo« setzte eine wahre Flut von Ideen frei: wie dieser aus dem lateinamerikanischem Alltag und feministischem Kampf stammende Begriff in Europa vorkommt, ja, in der ganzen Welt, wie die Filmindustrie ihn reproduziert, wie er vulgärpsychologisch erklärt wird, wie er sich verknüpft mit seinem Gegenbegriff, dem »Marianismo«. Dient das Bild der Jungfrau Maria nur der Stabilisierung patriarchaler Verhältnisse, oder können Frauen es auch für sich als Widerstandspotenzial konstruieren? Wie sieht die Marienverehrung in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern aus, und wie ist sie in manchen mit den indigenen Glaubensformen verschmolzen? Theologen und Theologinnen mit marxistischer und feministischer Perspektive erzählten von der Vielschichtigkeit der religiösen Bilder und deren widersprüchliche Eingliederung in Diskurse des Widerstandes und der Repression. Ist der Macho eine subordinierte Männlichkeit, und wie verhält sich die Benutzung des Begriffs zum Rassismus gegen eingewanderte Gruppen in den USA und Europa?

Diese wahrhaft demokratische Tagung, in der alle jeden und jede herausfordern (»den Finger auf jeden Posten legen und fragen, wie kommt er dahin«) kennt, auch ihre Stars. Diesmal kamen sie aus vielen Ländern, John Bellamy Foster aus den USA, Gérard Duménil aus Frankreich, Guglielmo Carchedi aus den Niederlanden und Italien, Gabriele Dietrich aus Indien und, Star der Stars, Pablo Gonzales Casanova, Grand Old Man der Sozialwissenschaften und der sozialistischen Bewegungen Mexicos und Lateinamerikas.

Er ließ uns teilnehmen an seiner Lebensgeschichte: als er zu den Zapatistas eingeladen wurde und von ihnen lernte, wie friedlicher Widerstand demokratisch über lange Zeit organisiert werden kann, wie die Frauen in zentralen militärischen Positionen unter der Trennung von ihren Familien leiden ebenso wie die Männer, wie sie Städte, die sie schon einmal militärisch erobert hatten, nun zu tausenden aufs neue, friedlich eroberten, um zu zeigen, dass sie nach wie vor da sind und ihre Gemeinden leiten, Schulen, Krankenversorgung und soziale Sicherheit garantierend; wie seine Frau einst einen jungen Mann namens Ernesto Guevara zum Abendessen einlud und er ihr danach sagte, wenn Du wieder mal einen Argentinier einladen willst, dann bitte nicht so einen verrückten; wie er dies später, in Kuba, dem Che erzählte und dieser lachend antwortete, dieses Urteil hätte er damals schon bemerkt. Was Pablo Gonzales zum für mich eindrucksvollsten »Star« dieser Tagung machte, war die völlige Abwesenheit von Starverhalten. Da kam ein weit geachteter und viel dekorierter Wissenschaftler, und wir erlebten einen Mann, der sich für alle interessierte, überall nachfragte, bis nachts um eins an der Verbesserung seines Textes saß und dessen Humor und Wärme vergessen ließen, wie berühmt und auch, wie alt er ist.

Ich freue mich auf nächstes Jahr, auf vier Tage intensives Denken, Diskutieren, Lernen, oder einfach Schwätzen und auf diejenigen, die dies seit 30 Jahren möglich machen, Wolf und Frigga Haug, Herz und Kopf dieses aus der Zeit gefallenen und gerade deshalb in die Zeit führenden Projekts. Und Dank auch an Thomas Pappritz, Oliver Walkenhorst, Christian Wille, die es schafften, überall gleichzeitig zu sein und nicht nur das Drucken von Texten in letzter Minute zu ermöglichen, sondern auch das Denken über diese Texte zu verbessern und dabei so freundlich zu sein, als sei all dies ein reiner Spaß für sie.

 

 

© DAS ARGUMENT 302/2013, S. 337-339