Doppelter Boden der Marx-Renaissance

Auszug aus den Marxistischen Blättern 01-2014: "50 Jahre Marxistische Blätter"

"Widersprüchlich sind die Schicksale des Marxismus augenblicklich in der akademischen Welt. In Deutschland ist er von den Universitäten rückstandlos verschwunden."

»Jesus lebt, Karl Marx ist tot« (Norbert Blüm) – die erste Aussage beruht auf Glauben, ist also nicht zu widerlegen, die zweite ist eine Binsenwahrheit. Im Jahr 1989 war dieses Diktum sehr populär. Sein zweiter Teil scheint es nicht mehr im gleichen Maß zu sein wie damals. Es gibt Anzeichen für eine aktuelle, letztlich aber wohl eher oberflächliche Marx-Renaissance: Bei einer ZDF-Umfrage wurde Karl Marx als der drittgrößte Deutsche hinter Konrad Adenauer und Martin Luther platziert, in den so genannten fünf neuen Bundesländern kam ersogar auf Platz eins. 2013 hat die UNESCO das Manifest der Kommunistischen Partei und den ersten Band des »Kapital« als Weltkulturerbe in das »Gedächtnis der Menschheit« aufgenommen. Innerhalb von vierzehn Jahren erschienen zwei neue Marx-Biografien: eine britische von Francis Wheen (1999) und eine US-amerikanische von Jonathan Sperber (2013), hinzu kommt die Friedrich- Engels-Biografie des Briten Tristram Hunt (2009).

Wolfgang Streeck schreibt in seinem Buch »Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus«, es schließe »an einen Theorieversuch an, der das, was sich damals [er meint: Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts – G. F.] begann, unter Rückgriff auf ältere, vor allem marxistische Theorietraditionen zu deuten unternahm«.[1] Wenige Seiten später fährt er fort: »Zu den Resultaten der historischen Entwicklung gehört ja, dass man derzeit nicht mehr mit Gewissheit sagen kann, wo im Bemühen um Aufklärung der Nichtmarxismus endet und wo der Marxismus beginnt. Ohnehin ist die moderne Sozialwissenschaft, vor allem wo sie sie sich mit ganzen Gesellschaften und ihrer Entwicklung befasst, nie ohne Rekurs auf zentrale Elemente ‚marxistischer’ Theorien ausgekommen – und sei es, dass sie sich im Widerspruch zu diesen definiert hat. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass man die aktuelle Entwicklung der modernen Gegenwartsgesellschaften ohne den Gebrauch bestimmter auf Marx zurückgehender Schlüsselbegriffe nicht auch nur annähernd verstehen kann – und dass dies immer mehr der Fall sein wird, je deutlicher die treibende Rolle der sich weiter entfaltenden kapitalistischen Marktwirtschaft in der entstehenden Weltgesellschaft werden wird«.[2] So weit das Urteil eines Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftstheorie in Köln.

Auslöser der gegenwärtigen Aktualisierung ist die Serie von Finanz- und Wirtschaftskrisen seit 2007. Aber schon das Ereignis, das Norbert Blüms Todesanzeige für den Marxismus provozierte – das Ende des Staatssozialismus 1989 – wurde von einigen Beobachterinnen und Beobachtern als Beleg für die hohe Prognosekraft dieser Theorie angesehen: Im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 sei die weltweite Durchsetzung des Kapitalismus als Gesetzmäßigkeit gezeigt worden, Marx und Engels seien also die ersten Analytiker einer künftigen Globalisierung gewesen. Beides ist wahr. Aber: Mag Marx als einer der ersten die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus nachgewiesen haben, so hatte er darin doch einen Vorläufer, nämlich Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi (1773–1842). Und ausführlicher als Marx haben Nikolai Kondratieff und Joseph A. Schumpeter die Krisenzyklen erörtert.

Was die Globalisierung betrifft, so ist ihre Entdeckung durch Marx und Engels heute so sehr Gemeingut geworden, dass man sagen könnte, die beiden Schöpfer des Historischen Materialismus hätten sich mit ihrer Vorhersage gleichsam totgesiegt: Sie sagten damals, was heute alle sagen, aber die praktischen Konsequenzen, die sie damals vorschlugen, zieht heute niemand.

Die unter Hinweis auf gegenwärtige Krisen- und Globalisierungsprozesse erfolgende Berufung auf Marx meint letztlich gar nicht so sehr diesen selbst, sondern ist das Eingeständnis bürgerlicher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass die Gesellschaft unverändert ein Rätsel sei, mit dessen Lösung man noch ganz am Anfang stehe, sodass man – und so begann ja einst Aufklärung – sich erst einmal mit Mythen begnügen müsse. Marx erscheint so als ein Mythenbildner und Geschichtenerzähler von großer Evidenz.

Widersprüchlich sind die Schicksale des Marxismus augenblicklich in der akademischen Welt. In Deutschland ist er von den Universitäten rückstandlos verschwunden. In den USA allerdings gibt es den »Analytical Marxism«. Er ist als eine Art akademischer Marxismus eine Enklave innerhalb der Universitäten und auch des Publikationswesens ohne jeden praktischen Bezug und bemüht sich seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts um eine Übersetzung der zentralen Begriffe des Historischen Materialismus und der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie in die Terminologie anderer philosophischer und sozialwissenschaftlicher Richtungen – darunter der Analytischen Philosophie, des Kritischen Rationalismus und der Rational-Choice-Theorie. Der Buchtitel »Making Sense of Marx« von Jon Elster aus dem Jahr 1985 bringt diese Absicht programmatisch zum Ausdruck – versprochen wird ein Weg von Mythos der »Großen Erzählungen« hin zum »state of the art« der nichtmarxistischen akademischen Wissenschaft.[3]

Was Deutschland angeht, so ließ sich der Marxismus, nachdem er keinen Platz an den Universitäten mehr hatte, gleichsam in deren Schatten wieder nieder – in zahllosen »Kapital«-Lesekreisen, an denen sich vor allem junge Menschen beteiligen. Das ist eine Art Initiationslektüre, in der ein Grundbestand an Kritik der Politischen Ökonomie erworben wird, der tatsächlich die Augen für die Funktionsweisen der bürgerlichen Gesellschaft öffnet, ohne dass damit eine Praxisanleitung verbunden ist oder verbunden werden kann. Michael Heinrichs Buch »Kritik der Politischen Ökonomie« ist derzeit die populärste Einführung ins »Kapital« und hat diesen Status sowohl durch seine hohe Qualität, als auch dadurch gewonnen, dass es einem Zustand gerecht wird, den man – in Übernahme eines Begriffs aus der Alten Geschichte – als »Apolitie« bezeichnen kann: Einsicht in eine vorläufige Unveränderbarkeit der Welt.

Neben den Versuchen der Aktualisierung von Marx gibt es auch Tendenzen der respektvollen De-Aktualisierung. Die Aufnahme ins Weltkulturerbe dürfte dazu gehören. Gleichzeitig, ebenfalls 2013, ist dem Lorscher Arzneibuch und der Himmelsscheibe von Nebra diese Ehre zuteil geworden. Die Biographie von Jonathan Sperber versucht Marx so in das 19. Jahrhundert einzubetten, dass er letztlich nur für dieses eine Bedeutung hat.

 

Was ist eigentlich »Marxismus«?

Alles, was vorstehend referiert wurde, betrifft Zeitreflexe, die unmittelbar vor Augen liegenden Aktualisierungen der Marxschen Theorie. Das ist sozusagen der oberste Boden einer doppelbödigen Angelegenheit. Gibt es denn auch noch eine Ebene darunter? Ja, aber diese zweite Ebene ist keine Widerspiegelung der Zeitläufe, sondern sage und schreibe der Marxismus selbst. Das klingt nun allerdings sehr sektiererisch und dogmatisch. Fragen wir also zunächst: Was ist das eigentlich: Marxismus?

Hier der Versuch einer Antwort:

Unter Marxismus soll im Folgenden verstanden werden:

1. eine historisch-materialistische Analyse von Ökonomie und Klassenverhältnissen,

2. eine auf diese gestützte Theorie der Politik,

3. eine politische Praxis in der Perspektive einer Aufhebung der kapitalistischen Gesellschaft.

 

Und jetzt Schritt für Schritt:

Der Historische Materialismus ist der Teil des Werkes von Karl Marx und Friedrich Engels, mit dem sie sich ein weiteres Mal – ebenso wie bei ihrer Darstellung der Globalisierung – sozusagen totgesiegt haben. Der Materialismus ist heute Gemeingut – auch bei denen, die seine marxistische Variante ablehnen. Die Marxsche gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnistheorie vom Verhältnis von Basis und Überbau ist bis heute in den Gedanken- und Verhaltenshaushalt der folgenden Generationen eingegangen, auch soweit sie dies selber weder wissen noch wissen wollen. Zum Beweis soll hier ein sehr bekanntes Zitat aus seinem Vorwort »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« folgen:

»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.«[4]

So denken wir und so verhalten wir uns – Linke wie Rechte – alle, auch diejenigen, die die revolutionären Schlussfolgerungen, die Marx gleich anschließend zieht, nicht teilen: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.«[5]

Davon hält ein nichtmarxistischer und insofern – wenn wir denn partout an einer etwas verstaubten Terminologie festhalten wollen – »bürgerlicher« Materialismus gewiss nichts, es sei denn, man ersetzt Revolution durch Evolution, und nachdem man das klar gestellt hat, kann man den Terminus Revolution als Modebegriff verwenden. Aber in der anschließenden erkenntnistheoretischen Auswertung dürften sich alle wieder einig sein: »In der Betrachtung solcher Umwälzungen muß man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten. Sowenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebensowenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewußtsein beurteilen, sondern muß vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.«[6]

So gesehen, sind wir heute alle Materialisten – wenn nicht philosophisch, so doch in unseren alltäglichen Reflexen. Was in der Gründungsperiode des Historischen Materialismus eine wissenschaftliche Revolution war, ist heute eine Binsenweisheit. Es gibt Idealisten, die gegen den Materialismus argumentieren. Sie können im politischen und insbesondere im geisteswissenschaftlichen Diskurs sogar eine Mehrheit bilden. Viele von ihnen berufen sich auf Max Weber. Aber auch er – etwa in seiner Schrift »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« – argumentiert aus der Defensive heraus. So ähnlich hielt das ptolemäische Weltbild sich noch einige Zeit gegen das kopernikanische, und es wurde letztlich nur deshalb aufgegeben, weil man mit einer Navigation, die ihm anhing, schlecht die Welt umsegeln konnte. Das ist der Unterschied zur heutigen Allgemeingültigkeit des Materialismus: man kann ihn annehmen und zugleich auf Marx verzichten, ja man kann ihn sogar gegen Marx wenden.

Ein Beispiel dafür ist die so genannte Ökonomische Theorie der Politik, auch als »Neue Politische Ökonomie« oder »Public Choice« bezeichnet.[7] Sie will – ganz wie die Marxisten auch – Politik aus der Ökonomie heraus erklären. Allerdings beschränkt sie die Politik auf den Markt. Das Instrument der Analyse ist der so genannte Methodologische Individualismus. Die politischen Akteure sind Einzelpersonen oder Gruppen, die nach den Gesetzen des Tausches, des Angebotes und der Nachfrage ihren Vorteil suchen: Parteien zum Beispiel zum Zweck der Stimmenmaximierung, so wie Unternehmen eben den Gewinn und die Personen ihren Nutzen maximieren. Das der Kanzlerin zugeschriebene Wort von der »marktkonformen Demokratie« ist eine Nutzanwendung dieser Theorie. Im gleichen Zusammenhang ist vor längerer Zeit schon – befürwortet vor allem von Unternehmen, auch von Gewerkschaften – der Sozialkunde- Unterricht an den Schulen durch den Wirtschaftskunde-Unterricht inzwischen wohl mehr ersetzt als ergänzt worden, das Fach heißt jetzt »WiPo«, Wirtschaft und Politik. Marxistinnen und Marxisten, so sollte man meinen, müssten sich über diese Entwicklung freuen – endlich ist anerkannt, dass Politik auf Wirtschaft beruht. Dass Unternehmer dies befürworten, ist allerdings ein Beleg fürkapitalistisches Selbstbewusstsein: in den Schulen soll gelernt werden, wie Politik sich dem Privateigentum einzupassen hat.Dieses Selbstverständlichkeit, mit dem hier der Markt als erste und letzte Instanz behauptet wird, ist Ausdruck der Hegemonie ausschließlich marktwirtschaftlichen Denkens und damit auch einer Niederlage der marxistischen Kritik der Politischen Ökonomie, die ja nicht auf der Priorität von Angebot und Nachfrage und der Grenznutzentheorie beruht, sondern auf der Arbeitswertlehre. Diese Arbeitswertlehre ist seit dem Erscheinen des Dritten Bandes des »Kapital« im Jahr 1894 hart umkämpft gewesen. Sie galt lange als widerlegt oder als redundant. Ihre wissenschaftlich stichhaltige Rehabilitation erfolgte erst seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts, vor allem durch Emmanuel Farjoun und Moshé Machover [8], aber auch in Deutschland durch Fritz Helmedag [9] und Nils Fröhlich. [10,11]

Völlig unbekannt ist noch, welche politische Bedeutung all dies hat. Immerhin haben Marxistinnen und Marxisten jetzt Anlass, die Auseinandersetzung auf dem Feld der Politischen Ökonomie wieder mit mehr Selbstbewusstsein zu führen.

 

Der Staatssozialismus und seine Rezeption von marxistischer Seite

Schwach dagegen ist der zeitgenössische Marxismus auf dem Gebot der Theorie der Politik. Diese war ein Kernstück des Wirkens von Marx, Engels, Lenin, Rosa Luxemburg und Antonio Gramsci. Hier ist inzwischen ein völliger Verfall eingetreten. Dieser vollzog sich in zwei Etappen: Die erste war Einschränkung der Revolutionstheorie und einer vorgeblich revolutionären Politik ausschließlich auf den Systemkonflikt und ihre Unterordnung im Westen unter die Außenpolitik der Sowjetunion. Zweitens wirkt die Lähmung durch das Ende des so genannten Realen Sozialismus, also des Staatssozialismus, unverändert fort. Hier muss Trümmerbeseitigung geleistet werden, und am Anfang steht die Notwendigkeit der Erklärung nicht nur der Niederlage des Staatssozialismus, sondern seiner zentralen Mängel. Diese waren:

– Erstens die ungenügende Prozessinnovation, also die permanent niedrige Arbeitsproduktivität

– Zweitens die Unfähigkeit zur Produktinnovation – der Staatssozialismus war technologisch steril, knapp zur Nachahmung imstande, aber überhaupt nicht ausgestattet für die wissenschaftlich-technische Revolution, zu der er keinen eigenständigen Beitrag geleistet hat.

– Drittens gehört zu den Defekten des Staatssozialismus, dass er sich letztlich die Arbeiterklasse in Ost und West zum Feind gemacht hat. Sie war in seinen letzten Jahrzehnten ebenso zuverlässig antikommunistisch wie die Kapitalistenklasse, und zwar in Ost und West.

– Viertens sind die moralische Katastrophe des Stalinismus mit ihren Menschenopfern durch staatlichen Mord und das Fehlen von Demokratie auch in den Jahren nach Stalin zu konstatieren.

Man kann sich um diese Tatsachen herummogeln, indem man sie fälschlicherweise ausschließlich auf äußere Faktoren zurückführt oder ein hohes Maß an sozialer Sicherheit – diese aber auf im Vergleich zum Westen niedrigem Niveau – und die Verdienste der Sowjetunion bei der Niederwerfung des deutschen Faschismus dagegen aufrechnet. Das kann man machen, aber von einer solchen Minimalposition aus wird sich keine zukunftsfähige Theorie der Politik entwickeln lassen. Historisch-materialistische Politik meint ja immer zweierlei: Analyse der politischen Realität, in der Marxistinnen und Marxisten sich bewegen, und Entwicklung von politischen Strategien, die daraus folgen. Marx und Engels sahen als zentrale politische Realität ihrer Zeit den Bonapartismus; Rudolf Hilferding, Lenin und Luxemburg den Imperialismus; Gramsci die so genannte passive Revolution. Und als Beitrag marxistischer Analyse in den staatssozialistischen Ländern und in mehreren diesen verbundenen Parteien im Westen darf auch die Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus angesehen werden. Aber schon Friedrich Engels und Karl Marx haben den ersten Sozialismus-Versuch ihrer Zeit, die Pariser Commune, untersucht. Und Lenin hat zugleich die neue Gesellschaft, an deren Entstehung er mitwirkte, kritisch, selbstkritisch, vorwärtsdrängend, aber auch vor Abenteuern warnend, theoretisch begleitet – übrigens nicht erst vom Moment der Oktoberrevolution an, sondern schon vorher, in seiner Schrift »Staat und Revolution«. Anschauungsmaterial für diese waren die Räte von 1905 und 1917.

Die der Sowjetunion verbundene Fraktion der Kommunistinnen und Kommunisten hat seit Mitte der zwanziger Jahre eine Analyse des Staatssozialismus unterlassen und durch Apologie – wir nannten das Sozialismus-Propaganda – ersetzt. Dafür gab es zwei Gründe:

– Erstens die Unterbindung selbständigen politischen Denkens, so weit es sich nicht auf die Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Innenpolitik beschränkte, im Stalinismus.

– Zweitens – und das betraf auch das Verhalten von Kommunistinnen und Kommunisten im Westen nach der Entstalinisierung – aus taktischer Loyalität: Sie (und auch ich) wollten die von Sozialdemokraten und Bürgerlichen vorgetragene Kritik an Ineffizienz, Rechtsunsicherheit und Abwesenheit von Demokratie im Staatssozialismus – auch wo jene zutraf – nicht wiederholen, da wir darin ein Mitwirken am nun tatsächlich in der kapitalistischen Welt omnipräsenten Antikommunismus sahen, der ein Mittel zur Bedrohung des Staatssozialismus war. Indem auf Kritik verzichtet wurde, unterblieb die eigenständige Analyse mit einer wichtigen Realität, nämlich dem Staatssozialismus, und damit aber, weil dieser Staatssozialismus auch auf den Kapitalismus einwirkte, von Teilen der Realität bürgerlicher Gesellschaften.

Wenn hier von Marxismus gesprochen wird, sollte nicht verschwiegen werden, dass es seit 1917 und auch nach 1945 immer Marxistinnen und Marxisten, Kommunistinnen und Kommunisten auch außerhalb der ausschließlich an der Stalinschen und Nach-Stalinschen Sowjetunion orientierten kommunistischen Parteien gegeben hat. Hier wurde ebenfalls Kritik am Staatssozialismus geübt, vor allem von den Trotzkisten, nach 1956 auch von kommunistischen Parteien, die sich von der Sowjetunion zu lösen begannen, zunächst in Skandinavien, dann im so genannten Eurokommunismus. Wir anderen haben deren Bemühungen auf diesem Feld abgelehnt, und es gab hierfür Gründe, die auch heute noch nachvollziehbar sind. Was die Trotzkisten betraf, führte deren organisatorische Schwäche dazu, dass ihre Stalinismuskritik in der Praxis immer wieder objektiv vom bürgerlichen Antikommunismus instrumentalisiert werden konnte, und im Eurokommunismus war die Kritik am Staatssozialismus nur eine Facette einer Sozialdemokratisierung, der Auflösung und der Marginalisierung dieser Parteien, die ihre Ursache nicht in dieser Kritik hatte.

Dies alles haben wir nun hinter uns. Unbefangene Analyse des Staatssozialismus nützt nicht mehr, wie wir früher sagten, »dem Gegner«, sie kann auch nicht als Anbiederung verstanden werden, denn nach der Niederlage nimmt ohnehin niemand mehr ein Stück Brot von uns. Sie nützt allein uns, denn wir haben aus der Niederlage der Vergangenheit Lehren für die Zukunft zu ziehen, und die Marxsche Theorie ist hierfür ein Leitfaden.

Der Staatssozialismus musste scheitern, weil er Staatssozialismus war, vielleicht aufgrund seiner Entstehungsbedingungen gar nichts anderes sein konnte als Staatssozialismus. Zwei zentrale Probleme konnte er nicht lösen, und sie bilden einen gemeinsamen Komplex: die Eigentumsfrage und die Staatsfrage.

 

Die Eigentumsfrage und die Frage nach der Rolle des Staates

Im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 wird eine Gesellschaft proklamiert, in der die freie Entwicklung eines jeden Menschen die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Voraussetzung hierfür sei die Aufhebung des bürgerlichen Privateigentums. In jenem frühen Stadium ihrer eigenen Theorie-Entwicklung machten Marx und Engels keine sehr deutliche Aussage darüber, wodurch denn dieses bürgerliche Privateigentum ersetzt werden solle. Bei seiner Beseitigung solle der demokratische Staat, in dem die Arbeiterklasse als angenommene Mehrheit der Bevölkerung die Macht ausübe, eine zentrale Funktion haben. Ab 1871 haben Marx und Engels diese Position modifiziert: im Prozess der Revolution müsse der Staat sich selbst aufheben. Dies ist auch die zentrale These von Lenins »Staat und Revolution«. Als Staat definierten diese Theoretiker Repression als politischen Ausdruck von Klassenherrschaft. Fällt die Klassengesellschaft, fällt auch der Staat. Das, was bisher die öffentliche Gewalt war, verliere, so Engels, seinen politischen Charakter, verstanden wurde darunter: seinen repressiven Charakter, an die Stelle der Herrschaft über Menschen trete die Verwaltung von Sachen.

Aus Gründen, die oft erörtert wurden und deren Aufzählung zu wiederholen hier nicht nötig ist, trat das gerade Gegenteil ein: der sozialistische Staat starb nicht ab, er behielt seinen repressiven Charakter und verstärkte ihn im Vergleich mit den kapitalistischen Demokratien, wohl auch dem Zarismus, noch. Und in der Hand dieser Staatsmaschine sammelte sich das gesamte relevante Eigentum der Gesellschaft. Die Ergebnisse sind bekannt.

Durchgehendes Staatseigentum hat sich nicht als zukunftsfähig erwiesen. Wer über Eigentumsformen der Zukunft nachdenkt, wird es nicht völlig ablehnen, aber nur als eine Art des öffentlichen Eigentums unter anderen ansehen, nicht umfangreicher als kommunales und genossenschaftliches Eigentum. Es lohnt sogar, darüber nachzudenken, ob selbst kapitalistisches Privateigentum – in einer Minderheitsposition und gesellschaftlich gut kontrolliert – im Sozialismus und Kommunismus seinen Platz haben sollte.

Was den Staat angeht, so wird von Liberalen wie von Linken ja zwiespältig über ihn diskutiert. Liberale fordern seinen Abbau und meinen damit seine sozial- und wirtschaftspolitischen Funktionen. Andererseits verlangen sie insofern einen starken Staat, als dieser die kapitalistischen Produktionsverhältnisse und so genannte nationale Interessen zu garantieren hat. Linke betonen die Notwendigkeit öffentlicher ökonomischer Intervention und lehnen die Repressionsfunktion der öffentlichen Gewalt ab. In der Spätphase des Staatssozialismus war von einem Absterben des Staates nicht mehr die Rede, stattdessen sogar von seiner zunehmenden Bedeutung. Das Moment Wahrheit dieser These, in der sich objektiv wohl lediglich die damals zunehmende Repression spiegelte, besteht darin, dass in einer Gesellschaft ohne kapitalistisches Privateigentum – oder doch mit einer nur untergeordneten Rolle des Privateigentums – der öffentlichen Hand auf den verschiedensten Ebene viele Funktionen zuwachsen werden, die früher entweder der Macht der Privateigentümer an den Produktionsmitteln überlassen blieben oder schlicht überhaupt nicht wahrgenommen wurden. Was wird der Name dieser Öffentlichen Gewalt neuer Art sein? Im Begriff »Öffentliche Gewalt« steckt das störende Wort »Gewalt«. Im Umkreis der Partei »Die Linke« gibt es zurzeit in diesem Zusammenhang den sehr weiten Begriff »Das Öffentliche«. Er hat gegenwärtig eine gewisse operative Bedeutung in der Auseinandersetzung mit dem Marktradikalismus und berührt durchaus die Eigentumsfrage. Während unter dem Schock der Niederlage von 1989 und der folgenden Jahre viele Linke diese Eigentumsfrage nicht mehr behandelten, wurde sie von den Liberalen forciert: als Privatisierung von Produktionsmitteln im Osten und von öffentlicher Infrastruktur im Westen. Die Eigentumsfrage wieder von links stellen bedeutet den Kampf gegen diese Privatisierungen und für die Herstellung oder Wiederherstellung des öffentlichen Eigentums in der Form der ausschließlichen Verwaltung von Sachen, in welche der gegenwärtige Staat überführt werden muss.

Das ist eine Forderung, die nicht nur von Marxistinnen und Marxisten gestellt wird. Deren spezifischer Beitrag wird die Untersuchung und der Nachweis der gegenwärtigen Form kapitalistischer Überakkumulation in ihren drei aktuellsten Formen sein:

– Erstens das Ausweichen großer Kapitalmassen in die Zirkulation

– Zweitens ihre Verschwendung in Rüstung

– Drittens die neueste Form der so genannten ursprünglichen Akkumulation.

Marx behandelte sie im 24. Kapitel des ersten Bandes des »Kapital« als einen für die frühe Neuzeit charakteristischen Prozess. Der US-amerikanisch Geograf David Harvey hat darauf hingewiesen, dass diese ursprüngliche Akkumulation ein durchaus modernes Phänomen ist, nicht nur durch jenen Prozess, den er »Akkumulation durch Enteignung« nennt, sondern auch in der kapitalistischen Ausplünderung und Belastung der stofflichen Ressourcen. [12,13]

Laut Marx führt Akkumulation in »Gesellschaften, worin kapitalistische Produktionsweise herrscht« [14] – also nicht nur eine untergeordnete Wirtschaftsweise innerhalb eines nichtkapitalistischen Systems darstellt – offenbar unvermeidlich zur Überakkumulation mit immer neuen katastrophalen Konsequenzen. Um diese zu vermeiden, wird der Kampf um die gesellschaftliche Kontrolle und Lenkung der Akkumulation geführt werden müssen. Dies ist die moderne Form der Eigentumsfrage.

Vor 50 Jahren wurden die »Marxistischen Blätter« gegründet. Dies war – neben der gleichzeitigen Entstehung einer »August-Bebel-Gesellschaft« z. B. in Frankfurt am Main – auch eine Form des legalen Auftretens der seit 1956 verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands. Ein theoretisches Blatt diente also zugleich einem organisationspolitischen Zweck. Damit unterschied es sich von dem in der damaligen Zeit sich stärker herausbildenden Akademischen Marxismus. Die »Marxistischen Blätter« nahmen Partei im Kalten Krieg: für die die UdSSR und deren Verbündete, vor allem die DDR – mit allen Vorzügen und Einschränkungen, die eine solche Positionierung mit sich brachte. Der Verlag Marxistische Blätter publizierte Auswahlausgaben kommunistischer Theoretiker und zentrale Werke aus Frankreich und der DDR zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Das Ende des Staatssozialismus hat die »Marxistischen Blätter« in ihrer theoretischen Substanz nicht geschwächt. Sie könnten eine Plattform für eine Neuformulierung marxistischer Politik werden, deren Zentralpunkte (meiner Ansicht nach) ich vorstehend darzulegen ich mich bemüht habe.

Georg Fülberth

Die Zwischenüberschriften wurden zur besseren Übersicht von der Redaktion eingefügt.

 

Anmerkungen

[1] Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus; Suhrkamp Verlag: Frankfurt/ Main; 2013; S. 10.

[2] Ebenda, S. 17 f.

[3] Jon Elster: Making Sense of Marx; Cambridge University Press; Cambridge/ Paris; 1985

[4] Karl Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie; in: MEW Band 13; S. 8 f.

[5] Ebenda, S. 9.

[6] Ebenda.

[7] Guy Kirsch: Neue Politische Ökonomie; UTB; Stuttgart; 2004.

[8] Emmanuel Farjoun und Moshé Machover: Laws of Chaos. A Probabilistic Approach to Political Economy; Verso Books; London; 1983.

[9] Fritz Helmedag: Warenproduktion mittels Arbeit. Zur Rehabilitation des Wertgesetzes; Metropolis Verlag; Marburg; 1992.

[10] Nils Fröhlich: Die Aktualität der Arbeitswerttheorie. Theoretische und empirische Aspekte; Metropolis Verlag; Marburg; 2009.

[11] Siehe auch Eberhard Feess-Dörr: Die Redundanz der Mehrwerttheorie. Ein Beitrag zur Kontroverse zwischen Marxisten und Neoricardianern; Metropolis Verlag Marburg; 1989.

[12] David Harvey: Der neue Imperialismus; VSA Verlag; Hamburg; 2005.

[13] David Harvey: Kleine Geschichte des Neoliberalismus; Rotpunktverlag; Zürich; 2007.

[14] Karl Marx: Das Kapital; in: MEW Band 23; S. 49.