Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen ...

I. Vermutungen über die Verluste der Grünen

Nach einem so oft als langweilig kritisierten Wahlkampf wurde ein spannender „Endspurt“ nicht nur herbeigeredet: Wird die AfD in den Bundestag einziehen, kommt die FDP wieder ins Parlament? Der Sieg Merkels war sicherlich absehbar, dennoch liegen die Gründe dieses Sieges nicht (nur) auf der Hand. Besonders das schlechte Abschneiden der „Grünen“, die vor einiger Zeit noch mit einem möglichen Erfolg um die 20 % gehandelt worden waren, wird nun für Diskussionen sorgen. Aber: Ströbele hat in Kreuzberg/Friedrichshain seinen Wahlkreis mit etwa 40% der Erststimmen erneut gewonnen. Auch hier hat die Partei jedoch Zweitstimmen verloren. Wir wollen versuchen, einige Aspekte aufzunehmen.

 

„Seit langer, langer Zeit die beste Gelegenheit, aus Deutschland ein besseres Land zu machen“, propagierte kurz vor den Wahlen Ulrike Winkelmann in der taz - dank der guten Kon­junkturdaten, des Booms der deutschen Wirtschaft.1  

Hier zeigt sich schon das ganze Dilemma sozialdemokratisch-grüner Reformpolitik seit eh und je: Sie kann nur verteilen, was die kapitalistische Ökonomie hergibt, deshalb ist sie auf Gedeih und Verderb an die kapitalistische Entwicklungslogik („Wachstum“!) gebunden; um den sozialen Frieden zu wahren, kann nur aus den Zu­wächsen verteilt werden: Man kann den Unterklassen mehr zubilligen, ohne es den gut Verdienenden wegzunehmen – soweit die Konjunktur es zulässt.

Verschämt muss auch Ulrike Winkelmann dann anmerken, dass das „in Teilen und unfai­rer weise zu Lasten Südeuropas geht“. Es gibt die Verlierer, also möglichst immer außerhalb der Landesgrenzen: Auch schwer zu verstehen, wie das mit einer Politik der europäischen Einigung und gar weltweiter Frie­denspolitik vereinbar sein soll.

So sind schon im ersten Ansatz unlösbare Widersprüche der reformistischen Politik erkennbar, die sie noch immer nach dem Muster „gelöst“ hat: Das eine ist unsere Programmatik, das andere ist Realpolitik. Und die Programmatik reicht kaum über den Wahltag hinaus, wird aber vor Wahlen immer neu aktiviert, mit Hinweis auf die widrigen Bedingungen bei den früheren Versuchen. Und noch jedes Mal kommen die bösen Um­stände den guten Absichten in die Quere.

Das ist eigentlich das, worauf man tatsächlich wetten kann: Auch nach dieser Wahl drängen sich die nicht thematisierten und zum Teil unlösbaren Probleme wieder in den Vordergrund: Die ungelöste Schulden- und Finanzkrise weltweit, aber auch die Zukunftsproble­me um Klimawandel, Rohstoffkriege, Fluchtbewegungen, die mörderische Lebensbedingungen hervorbringen ...

Aber Ulrike Winkelmann tritt – wie die Grünen – auch für reale Umverteilungen von den „Bes­serverdienenden“ zu den vom Ausschluss Bedrohten ein:

„Wenn es einen deutschen Hang zum Leistungsstolz gibt, dann sollen die stolzen Leis­tungsträger gern beweisen, wozu sie wirklich fähig sind. Wer den Titel nicht braucht, wird von selbst wissen, was wir brauchen: Ein Bildungssystem, das Leistung und nicht Herkunft belohnt, Kommunen, die Kindergärten, Schulen, Schwimmbäder und Parks in benutzbarem Zustand unterhalten können. Eine Ökologisie­rung von Industrie und Verbrauch. Ein Gesundheitssys­tem, das die Kränksten und nicht die Privatversicherten am besten versorgt. Ein Arbeitsmarkt, auf dem fair bezahlt wird.

Dieses Wochenende ist die Ge­legenheit, Menschen ins Amt zu wählen, die dann hauptberuflich dafür zuständig sind, sich um all das zu kümmern. Also, bitte.“ Bitte? Die Forderungen wurden so zum Teil seit Anfang der 60er Jahre gestellt („deutsche Bildungskatastro­phe“), und einige der angesprochenen Probleme haben offenbar alle „mehr Demokratie wagen“-Rhetorik unbeschadet überstanden (Kehrseite waren schon damals Berufsverbote und eine enorme bürokratische Aufblähung des Staatsapparats, Ausdehnung und Zentra­lisierung der Kompetenzen von Sicherheitsapparaten, Rüs­tungsexporte „um Arbeitsplätze zu sichern“, die sozialdemokratischen Betriebsräte der Werften! ...).

Vor allem ist der Dreh- und Angelpunkt solcher Hoffnungen und Programme: Der Staat, der durch Steuereinnahmen in die Lage versetzt werden soll, die idealen Zwecke der ReformerIn­nen (und diese selbst! Die Chiffre „hauptberuflich dafür zuständig“ lässt die Kinderaugen leuchten wie unter einem Weihnachtsbaum) zu fördern. Dafür aber müssen die Steuereinnah­men sprudeln, das wiederum hängt an der Ökonomie, Stupid!

So ist schon hier das Ende wie bei Schröder absehbar, und Hollande wird in Frankreich den gleichen Kurs fahren. Darüber hinaus sollten die Etatisten sich einmal fragen, was noch alles mit der Wahl dieses angeblichen Mittels Staat mitgewählt (Autoritarismus, Hierarchie, verdummende Propaganda, um die Staatstätigkeit zu „verankern“ und für „Akzeptanz“ zu sorgen, alles wieder für darauf spezialisierte „Leistungsträger“ hochattraktiv und lukrativ) und was ausgeschlossen wird.

Rot-Grün wollte Ernst machen

Nun kann eine solche Programmatik – und die Grünen mussten es erleben – bei WählerIn­nen schon gar nicht fruchten, deren gesamte politische und soziale Sozialisation im Kern da­rin bestand, das eigene Interesse für sakrosankt zu halten. Schon in den 70er Jahren klärten Marx-Lektürekurse sie auf, dass alles gut sozialistisch enden könnte, wenn nur die Menschen nicht gegen ihre Interessen handelten, dann kam die Phase von ABM-Beschäftigung, wo das Hauptaugenmerk darauf gerichtet war „sich nicht unter Wert zu verkaufen“ (soviel Werttheorie hatten sie noch in Erinnerung, aber es blieb auch noch etwas für die folgenden Lebensabschnitts­gefährtInnen), dann die Phase der Selbstaufblähung zum Leis­tungsträger mit dem Gestus „Dafür habe ich nicht Jahre studiert“. Schließlich die feste Stelle, Etablierung, öffentliche Präsentation des Ego (bis jetzt zu Facebook, Twitter etc.), viel­leicht sogar – doch, das geht wieder – Hausangestellte, hatten die alten Sozialisten auch schon. Und wer es zu etwas gebracht hat, sei es durch Erbe, Netzwerken, brave Parteiarbeit, Denunziation der Konkurrenz ... wird das noch stets der eigenen „Leistung“ zuschreiben, stolz darauf sein (denn andere haben es ja zu nichts gebracht, Minderleister!).

In diesen Milieus musste die grüne Programmatik ein gewisses Unwohlsein auslösen, zu­mal alle hier aus langer Erfahrung wissen, dass es nach den Wahlen immer anders, und eher schlimmer kommt. Gut, dass es da den „Veggie-Day“ („ob man das staatlich verordnen sollte?“) und die Debatte um die Päderasten bei den Grünen und die Partei-Programmatik vor 1989 gab („Jetzt, wo ich selber Kinder habe“), das schaffte Distanz mit Selbstachtung, oh­ne dass man sich für Ehegat­tensplitting („Hallo! Wofür haben wir denn geheiratet?!“) und die eigenen Einkünfte („Jetzt kein Sozialneid, bitte!“) stark machen musste.

Aber das ist noch nicht entscheidend. Das Interesse an der Aufrechterhaltung des Profitsystems liegt noch auf einer tieferen Ebene. Die Verinnerlichung der kapitalistischen Logik: Wenn es General Motors gut geht, geht es Amerika gut, wenn die Wirtschaft boomt entstehen neue Arbeitsplätze, Le­benschancen ... kurz: Die Stand­ortlogik, das Wissen, dass tatsächlich aller Wohlstand aufgehängt ist an der Verwertung des Kapitals – macht es tatsächlich „alternativlos“ die entsprechenden Bedingungen für profitable Investitionen herzustellen und macht alles verdächtig, was diese Bedingungen gefährdet: „Das Kapital ist ein scheues Reh“, also sollte nicht politisch etwas gefordert oder getan werden, was die Voraussetzungen der Politik unmöglich macht. Diese Logik ist in­zwischen auch bei vielen Wäh­lerInnen angekommen, nicht zuletzt durch die rot-grüne Bundesregierung und deren Hartz-Reformen. Deshalb ist es auch ein Missverständnis der Grünen-Spitze wenn man nur ein Kommunikationsproblem darin sieht, dass die WählerInnen nicht begreifen wollen, dass 90% von ihnen ja entlastet werden. Aber die anderen 10% „Leistungsträger“, nennen wir sie wieder einmal „Die Wirtschaft“ würden eine Vermö­gensabgabe und eine höhere Einkommensteuer sehr wohl übel nehmen – und das kann die Umverteilungslogik empfindlich schwächen, weil etwa sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gerade verloren gehen ...

Damit wir uns nicht missverstehen: Die kapitalistische Logik soll gebrochen werden, das ge­lingt aber nicht, wenn man behauptet, die politischen Maßnahmen oder ökonomische Kämpfe blieben ohne Auswirkungen. Es gelingt auch nicht mit Parlamentsmehrheiten. Die Krise hat auch einen subjektiven Anteil, durch soziale Kämpfe können die Verwertungsbe­dingungen des Kapitals verschlechtert werden, das bleibt nicht ohne Reaktionen. Diese muss man erkennen, sich dagegen organisieren. Eine Politik, die die WählerInnen einlullt mit Behauptungen wie schon seit Jahren gehört – „Geld ist genug da, es ist nur falsch verteilt“ – betreibt Augenwischerei. Und sie überzeugt nicht einmal.

 

„Aber auf einen Stinkefinger mehr oder weniger wird es bei der bevorstehenden Wahl nicht ankommen.“2

 

Von wegen!

Natürlich war der „Stinkefinger“ eine kühl kalkulierte Geste, bewusst zum Abdruck freigegeben, um einige zaudernde So­zialdemokratIn­nen, die Stein­brück als 25.000-Euro-Redner der Stadtwerke Bochum oder Sparkassenvorstand einer Lan­desbank mit innerer Distanz be­trachteten, mit dem nötigen „Stallgeruch“ oder (für unsere Werbefuzzis) „Street Credibi­lity“ mobil zu machen.

Dass allein der Stinkefinger viel­leicht sogar Unterschicht-Nichtwäh­lerInnen (die Wahlforschung hat festgestellt, dass 20% der häufigen Nichtwäh­lerInnen ein Nettoeinkommen von weniger als 1000 Euro monatlich erhalten) noch mobilisieren werde, denen diese schöne Geste eine ganze Sarrazin-Mahlzeit ersetzen könnte: „Na, der hat’s denen ja mal richtig gezeigt. Starke Geste, es geht doch! Heut’ lassen wir die Küche kalt, da gehen wir ins Wahllokal“ (so der Grundgedanke der dritten Generation sozial­demokratischer WahlstrategIn­nen).

 

David Schuster

 

Anmerkungen:

 1 taz vom 21./22.September, S. 5: KönigInnen von Deutschland

 2 Rothschild, Thomas: Viel Lärm um einen Finger, in: Kontext: Die Internetzeitung aus Stutt­gart S. 4, ein recht skurriler Text über Symbolik, der mir den Gedanken nahe legt, dass Steinbrücks  „Stinkefinger“ eine Art Gesslerhut sein mag, den wir nach gewonnener Wahl dann kollektiv zu ver­ehren hätten, wie auch folgende Passage zeigt: „Beim Kruzifix ist immerhin noch die Erinnerung an den Menschen aufbewahrt, vor dem die Gläubigen niederknieen und den sie anbeten. Der Hut, die Fahne haben nichts mehr mit Menschen zu tun. Irgendwo dazwischen liegt der Stinkefinger: Er kann, muß aber nicht an den Phallus erinnern ...“ Zwischen Hut und Fahne liegt der Stinkefinger, ganz meine Meinung.

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 382, Oktober 2013, www.graswurzel.net

 

 

 

Ich bin nicht frei, ich kann nur wählen ...

II. Vermutungen über Merkels Erfolg

Viele entscheidende Zukunftsfragen werden in den Wahlkämpfen ausgeblendet, z.T. weil dafür niemand eine „Lösung“ anbieten kann. Dann bleibt nur „Vertrauen“, also die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Personen. Und: Ob man vermutet, dass die eigenen Interessen bei Kandidatin X besser aufgehoben sein werden als bei den „Mitbewerbern“, und so wird auch der Wahlkampf betrieben.

 

Ein Ausdruck dafür ist auch der in zahlreichen Untersuchungen festgestellte Wunsch nach einer großen Koalition aus CDU und SPD. Gerade gegen die gespürte Krise wünschen sich die WählerInnen eine breite und gesellschaftlich sicher verankerte Konzeption, die auf Ausgleich der Interessen zielt.

Auf der anderen Seite können die Themen, die man „nicht in den Wahlkampf ziehen“ und erst entscheiden will, wenn Probleme tatsächlich zur Entscheidung reif sind, Kristallisationspunkte für neue Organisationen werden, in diesem Wahlkampf die „Alternative für Deutschland“, die das Thema Euro, Schuldenkrise in der Sicht nationaler konservativer Interessen aufgreift.

 

Was Strauß einmal an Kohl kritisiert hatte, er wolle „im Schlafwagen zur Macht“, hat sich als Strategie Merkels bewährt: Keine große Konfrontation, keine polarisierenden Polemiken, keine schrillen Töne. Dezente Programmatik. Man weiß, was WählerInnen schätzen und was sie abschreckt. In den Krisen der Welt sehnt man sich nach festen Bezugspunkten und Verlässlichkeit. Man kann auf eine gute Konjunktur hoffen, internationales Ansehen, auf den Amtsbonus und die Fehler, Patzer, Pannen, Peinlichkeiten der politischen GegnerInnen vertrauen, das genügt.

Merkel tritt uneitel auf, bescheiden, kein „Basta“, kein herausgehängter „Führungs“-Anspruch, keine Affären und Gehaltsforderungen, erledigt aber in einem lautlosen Macchiavel­lismus ganze Riegen eitler Gockel und selbstgefälliger Knall­effekthascher, man kann nur hoffen, dass es noch einige trifft. So wie es nun die FDP erwischt hat.

Hat da Rösler nicht einmal einen Scherz auf ihre Kosten gemacht? Zu früh gefreut! Die Union hat die schon flehentliche Zweitstimmenkampagne der FDP, die die „Liberalen“ noch mit großen Erfolgen in den letzten Landtagswahlkämpfen eingesetzt hatten, pariert, deutlich und offen dagegen agitiert: Die FDP muss es aus eigener Kraft schaffen (oder eben nicht!). Denn in Niedersachsen hatte das gute FDP-Ergebnis letztlich der Union die Landesregierung gekostet und SPD/Grüne knapp an die Regierung gebracht. Also hielt die Union dem Werben der FDP stand, und die Frage war nur, ob potentielle AfD-WählerInnen eine tatsächliche Entscheidung für die konservative und national agierende Wirtschaftspartei AfD für so gefährlich halten würden, dass sie das „kleinere Übel“ FDP noch einmal wählten – oder ob die Aktivitäten der FDP sie seit Jahren so abstießen, dass sie nun lieber ältere, konservative, männliche Wirtschaftsprofessoren ankreuzen wollten. Es ging, wie wir jetzt wissen, für beide Parteien die Rechnung nicht auf, auch wenn die AfD erstaunliche Erfolge besonders auch im Osten der Republik erzielen konnte und sich als konservative Kraft für enttäuschte Unions-Wähler etablieren könnte. Vor der FDP steht die Aufgabe eines kompletten Neubeginns: Keine historische Notwendigkeit, Pfälzer Wein zu trinken.

Natürlich muss Merkel den kompletten Absturz der „Partei der Freiheit“ (so die groteske Selbstbeschreibung der FDP, einer reinen Wirtschafts- und Klientelpartei mit wenig Programm außer: Machtbeteili­gung, Lobbyismus ...) offiziell bedauern, aber jeder kann leicht verstehen, dass sie froh ist, sol­che Selbstdarsteller und Sprü­cheklopfer loszuwerden – und nicht wenige WählerInnen hatten genau daran nicht mehr geglaubt.1  

Merkel kann auch mit der SPD oder den Grünen regieren, wenn diese denn zum Wollen veranlasst werden können.

 

Unterschiede?

Das Problem mit den Unterschieden zwischen den Parteien ist, dass die Parteien in aller Regel etwas ganz anderes tun als angekündigt und ihrer Programmatik entsprechend. Sie folgen dann „Sachzwängen“, definiert als ökonomische oder politische Zwänge, die sich aus der Stellung des Landes in Eu­ropa, der ökonomischen Konkurrenz, Bündnisverpflichtun­gen usw. ergeben. Die Folgen dieser Entscheidungen sind oft ähnlich ungewiss wie es die Folgen von Unterlassungen wären. Nur die politische Illusion tut so, als sei ein einfaches Entscheiden und Handeln möglich, im Kern auch eine autoritäre Vorstellung.

Vielleicht gehört es zu Merkels Erfolgsrezept, dass sie diesen Sachverhalt – die eigentlich ge­ringen Spielräume, die Ange­wiesenheit auf Kompromisse, die eigentlich geringen Differenzen offen legt, darin viel­leicht politischer als ihre Gegner, weil sie so ihre Politik von vielen Ansprüchen entlastet und weniger unhaltbare Versprechungen macht, dies aber gleichzeitig in einem Stil feiert, der etwas von der früheren DDR bewahrt: Man eilt von Erfolg zu Erfolg („die erfolgreichste Regierung seit der Wiedervereinigung“), alles ist gelungen. Dann läuft natürlich ein SPD-Spruch, man „sei ins Gelingen verliebt“ (war das nicht Bloch statt Steinbrück?) ins Leere, und gar „Das WIR entscheidet“ wird durch ein „Ick bün all hier“ konterkariert.

 

Der Versuch, besonders in den seriösen Medien, tatsächliche Programm-Unterschiede zwischen den Parteien darzustellen, scheitert oft nicht nur an den tatsächlich geringen Unterschieden, sondern daran, dass viele noch in Erinnerung haben, dass nach den Wahlen die tatsächliche Politik nicht von den vorherigen Versprechen geleitet wird.

Das gilt im Guten wie im Bösen, aus unserer Sicht. Merkels Wahlkampf vor vier Jahren und die ersten holprigen Schritte der schwarz-grünen Regierung galten bekanntlich der Laufzeitverlängerung für AKWs, und doch hat sie durch den gesellschaftlichen Druck nach dem Fukushima-Unfall in Japan den Ausstieg schließlich auf eine so breite Basis gestellt, dass man schwerlich hinter den Beschluss wieder zurück kann oh­ne ganz gravierende Legitima­tionsverluste. Versuche, das Atomprogramm durchzusetzen, endeten für die Regierenden mehrfach mit dem Eingeständnis, der Bau von AKWs oder einer Wiederaufarbeitungsanlage seien „politisch nicht durchsetzbar“ – und das trotz einer parlamentarischen Mehrheit. Diese bröckelt in der Regel, wenn genug Protest und Widerstand mobilisiert wird.

Das „rot-grüne Projekt“ hat außenpolitisch ein militärisches „Engagement“ durchgesetzt wie es der CDU schwerlich gelungen wäre, innenpolitisch ei­ne Enteignung unterer und mittlerer Schichten bei gleichzeitiger Konzipierung neuer Ge­schäftsmodelle für Banken und Versicherungen – alles in direktem Gegensatz zur Programmatik und den Wahlkampfthemen. Der Wahlkampf 2013 auch und gerade von SPD und Grünen war wesentlich Wahlkampf gegen die Regierungsbeschlüsse der letzten rot-grünen Koalition.

Eine Partei, die – wie früher die Grünen und jetzt noch die Linke – tatsächlich eine Politik vertritt, die nicht durch etwas Me­diendruck und „Sachzwänge“ ohne weiteres zurechtgebogen werden kann, weil sie aus sozialen Protestbewegungen oder kulturell unvereinbaren Motiven begründet wird, muss eben von der Regierung so lange ferngehalten werden (und wird das!) bis sie sich zu einer geschmeidigeren Politik bequemt.

 

Wahlbeteiligung signalisiert vielleicht stärker den Wunsch, sich als dazugehörig darzustellen (im Gegensatz zu den Verlierern, die eben nicht mehr wählen, die 20% der Ausgeschlossenen und Abgehängten) als dass sie irgendetwas mit Programmen zu tun hätte. So wie auch andere Formen des Konsums soziale Distinktion und den Willen, irgendwo dazuzugehören darstellen.

 

So bleiben oft die deutlichsten Differenzen jene zwischen Personen und deren Habitus.

Mit der offensichtlichen Differenz der Verhaltensstile der politischen RepräsentantInnen setzt sich der Leiter des taz-Parlamentsbüros Ulrich Schulte so auseinander, dass er die hohen Sympathiewerte Angela Merkels auf ihre scheinbare Normalität zurückführt (hat es nicht doch mit ihrer Politik zu tun? Machen die wirklich nur andere?): „Merkels Normalität trifft ein Bedürfnis, anders ist ihre Beliebtheit nicht zu erklären.“2  Er nutzt diese Spekulation nur, um seine eigenen Bedürfnisse bekannt zu machen: „Ich will von einem Politiker eigentlich nur eines. Er soll klug und hart das Programm vertreten, das er mir verspricht. Wie er sonst tickt, interessiert mich nicht. Mein Bundeskanzler darf viel mehr Geld verdienen als ein Sparkassendirektor, solange er für die Bedürfnisse der Armen kämpft. Er darf Champagner trinken, solange er in Europa solidarisch agiert ...Ich verstehe auch nicht, wie man einem Politiker vorwerfen kann, er sei ein arroganter Besserwisser. Ja klar, Typen wie Steinbrück, Trittin, Westerwelle oder Röttgen sind Rechthaber. Sie haben ständig alle Fakten parat, ihnen strahlt die Selbstgewissheit aus jedem Knopfloch ... Ich sage: Willkommen, Besserwisser! Ich will, dass der Bundeskanzler seinen Job erledigt. Ich will den oder die Klügste, den oder die Härteste, kurz: Den oder die Beste. Etwas Verschlagenheit nehme ich gerne mit dazu. Politik ist ein brutales Geschäft. In dem etwas abgründige Bosheit nicht schadet, sondern nutzt. Politiker stehen für die Interessen gesellschaftlicher Gruppen, die sie miteinander aushandeln ...“

Nach diesen Redensarten nehme ich an, dass Schulte versucht hat, wieder Karl-Theodor zu Guttenberg zu wählen, den einstmals strahlend großen Hoffnungsträger, der nun über die New York Times und Fi­nan­cial Times – doch, doch, die Netzwerke halten – versucht, Merkels „energisches Zögern“ bloßzustellen. Warum bei der Hessenwahl nicht wieder für Roland Koch stimmen, der gerade 1200 Stellen bei Bilfinger streichen will (Organisation straffen, Verwaltung zentralisieren, „Synergieeffekte nutzen“, alles bewährte Konzepte der Besserwisser) und in kurzer Zeit bereits zwei seiner Vorstandskollegen herausgeekelt hat, ja, das  sind noch Männer: Nur die harten kommen zu Gaz­prom!

In der Tat sind solche Erörterungen sicherlich zwischen Männern und Frauen strittig, und das wird sich auch im Wahlergebnis zeigen lassen. Ich wette, dass die weibliche Anhängerschaft Steinbrücks sich sehr in Grenzen hält, trotz einiger Versuche, ihn mit dem Weichzeichner zu bearbeiten.

Schultes Tirade klingt wie das späte Echo einer ehedem beliebten Kritik an der „Tyrannei der Intimität“, ein großer Renner der „kritischen Kritik“ der 80er Jahre.3 

Aber auf welche KandidatIn­nen wäre jene von Horx und Co. schon zu Tode gerittener Kritik-Gestus denn heute anzuwenden?

Es ist nicht Merkel, die für Gala als Frida Kahlo Modell steht, Merkels Mann bleibt im Hintergrund und niemand weiß, ob sie überhaupt einen Hund hat, je­denfalls schmückt dieser keine Rossmann-Produkte.

 

David Schuster

 

Anmerkungen:

 1 Der marxistische Analytiker Georg Fülberth im Neuen Deutschland vom 24.08.13: „Dass die FDP wieder in den Bundestag kommt, scheint ohnehin klar, alle Untergangsprophezeiungen für diese Partei seit fünfeinhalb Jahrzehnten haben sich blamiert.“

 2 taz vom 21./22.09.13, S. 7: Bitte keinen Streuselkuchen mehr

 3 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 1983

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 382, Oktober 2013, www.graswurzel.net