Dann habt Ihr ihnen ja richtig Mut gemacht!
Eine heilige Hetzjagd gegen das Gespenst des Nichtwählers hat weit auseinander liegende politische Positionen vereint: Der Spiegel-Titel „Wie Nichtwähler die Demokratie verspielen“ (Nr. 38/2013) beschreit die Wahlverweigerer als „träge, frustriert, arrogant“. Nicht etwa die „Arroganz der Macht“ wird also heute beklagt, sondern die angebliche Arroganz der relativ Entmachteten und Desillusionierten.
Die „schamlosen“ Nichtwähler (eine interessante Beschreibung in einer Gesellschaft, die in vielen Bereichen Schamgefühle weitgehend abgebaut hat!) werden auch bei Spiegel-online gegeißelt (17.06.2013: „Wie Nichtwähler ticken“ – man hört förmlich die Zeitbombe): „Das Phänomen der Stimmverweigerer beunruhigt seit langem die Parteien, gilt die Wahlbeteiligung doch als Gradmesser für die Stabilität der Demokratie. Diese scheint gefährdet ...“ Ein Rückgang der Wahlbeteiligung wie in Deutschland während der letzten drei Jahrzehnte ist in Europa sonst nur noch in Portugal zu beobachten, Symptom eines kontinuierlichen Vertrauensschwundes.
Für die kommenden Krisen werden die Bindewirkungen von Parteien entscheidend sein. Für die sozialen Bewegungen ist dies nicht nur eine Chance, ihre emanzipatorischen Ziele zu verwirklichen, sondern auch eine Gefahr, weil rechtspopulistische und autoritäre Konzepte („starker Mann“) bedrohlich an Zustimmung gewinnen können. Deshalb sollten die sozialen Bewegungen die Kritik selbst organisieren und nicht solchen Gruppen überlassen.
Pflicht
Früher war das Wählen Bürgerpflicht, und auch was gewählt wurde, war durch soziale Milieus weitgehend vorherbestimmt (auch ein Beleg, dass es sich dabei nicht gerade um selbstbestimmtes Handeln dreht, sondern eher um Bestätigung einer Zugehörigkeit).
Die Entfremdung der Unterklassen von der politischen Klasse und die öffentlich deutlicher geäußerte Kritik am System der Repräsentation könnten aber - einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge - durch eine „kümmernde Politik“ aufgefangen werden. Aber so kurz vor den Wahlen greifen auch schlichtere Kampagnen:
Der „Stern“ Nr. 39/2013 titelt: „Das große Zittern. Die Wahl wird dramatisch“ und will „die bewegenden letzten 48 Stunden vor der Wahl“ behandeln – dies nachdem seit Monaten in allen Medien nur der langweilige „Valium“-Wahlkampf beklagt wurde.
BILD
Vor allem aber die kostenlos am 21. September an alle Haushalte verteilte BILD-Sonderausgabe, 41 Millionen Exemplare („Das lässt keinen kalt, darf es nicht.“) brüllt: „Auf die Zettel, fertig, los! Prost Wahlzeit! Ab ins Wahl-Lokal! Ran an die Urne! ....“ Und so weiter.
Dass jede Stimme zählt und wie vor jeder Wahl ein „Kopf-an-Kopf-Rennen“ zu erwarten ist, gehört zum Agitprop genauso wie der Einsatz zahlreicher Prominenter, auch der beiden Ab- und Altkanzler Kohl und Schröder. „Geschichte wird gemacht“ verbreitet Kohl (wie endet eigentlich dieser „Fehlfarben“-Hit? Ich glaube, es explodieren Berge.). Schröder (nein, die Haare sind NICHT gefärbt!) brilliert mit der Behauptung „Wählen ist wichtig, weil nur so Veränderung möglich ist“ (S. 8), ganz fett herausgestellt: „Wer nicht wählt, der lässt andere über das Schicksal des Landes und über das eigene Schicksal entscheiden.“
Die Erfahrung, dass andere über das eigene Schicksal entscheiden, dürften die meisten Menschen gemacht haben; man nennt das Herrschaft und genau diese wollen die politischen Parteien aufrechterhalten indem sie sie verstecken, legitimieren und politische Illusionen schüren. Dass durch den Urnengang das eigene Schicksal selbst bestimmt würde, ist aber eine Erfahrung, die nur in ganz seltenen historischen Situationen erlebt werden kann (etwa Ablösung einer Militärdiktatur, die innerlich schon an ihr Ende gelangt ist und dann Wahlen zulässt, die ihr den letzten Schub zum Aufgeben verpassen). Durch das Trommelfeuer der gegenteiligen Behauptung, wie entscheidend die Wahlen das eigene „Schicksal“ bestimmten, wird diese Propaganda nicht glaubwürdiger; es gibt zu viele Beispiele gerade aus den Zeiten der rot-grünen Koalition und den letzten Wahlkämpfen, die deutlich zeigen, dass das gewählte Programm schon Tage nach der Wahl hinfällig wird.1
Nur ein Beleg für viele: Die SPD-Kampagne gegen eine von der CDU angekündigte Erhöhung der Mehrwertsteuer (SPD: Gegen die „Merkelsteuer“) wird in der großen Koalition durch eine wesentlich stärkere Erhöhung der Mehrwertsteuer als von der CDU geplant erledigt.
So folgt auch in der BILD-Zeitung auf die enthusiastische Beschreibung der Wähler-Selbstbestimmung und des Geschichte-Machens sofort das Dementi: „Das haben DIE MIT UNS vor“ (Sperrung im Original!), hier wird die Illusion der Identität von Wählern und Gewählten realistischerweise wieder zerstört und eine eher bedrohliche Sicht nahegelegt.
Nach der Lektüre der BILD schwankte ich etwas zwischen der auf S. 7 vorgestellten „Mobilat“- und der auf S. 17 beworbenen („Eine saubere Wahl“, Stiftung Warentest: gut“) „W5 All in 1 Geschirr-Reiniger-Tabs: Glanz und Reinigung ohne Zugabe von Salz und Klarspüler. Unangenehme Gerüche werden neutralisiert“- Partei. Auch wenn die letztere vielleicht etwas von der „Utopie der Säuberung“ transportiert, so überzeugte mich doch der Zusatz „streifenfrei“, unter den Parteien ein absolutes „Alleinstellungsmerkmal“. Für einen rasanten Anstieg der Ungültig-WählerInnen sorgte dann allerdings S.21, der Netto-Stimmzettel mit der Behauptung „je mehr Kreuze, desto besser ihre Wahl!“ – hat da die Redaktion etwa geschlafen?
Im Brustton der Empörung, als wäre etwas anderes eine Zumutung, undenkbar, schreibt auch Avaaz an die routinemäßig per Mailorder Agitierten:
„Liebe Freundinnen und Freunde in Deutschland,
kaum zu glauben, aber wahr: Statistisch gesehen hat jeder von uns in seinem Freundeskreis mindestens 2 bis 3 Freunde, die nicht vorhaben, morgen zur Wahl zu gehen.“
Was haben DIE DENN für Freunde, fragt sich da die LeserIn? Sind das noch Facebook-Freunde?
„Nur eine direkte Aufforderung aus dem Bekanntenkreis kann sie so kurz vor der Wahl noch von der Wichtigkeit des Wählens überzeugen und somit eine Politik schaffen, die alle Menschen in Deutschland gleichermaßen vertritt.“
„Alle Menschen in Deutschland gleichermaßen“? Da tun sich Probleme auf.
„Können Sie jetzt 5 Freunde oder Bekannte anrufen und fragen, ob sie wählen gehen? Sollte die Antwort ‚nein‘ lauten, lassen Sie Ihren Charme spielen und erklären Sie, warum wählen gehen wichtig ist und was auf dem Spiel steht.“
Was steht denn eigentlich auf dem Spiel, wüsste man da gerne. Die Antwort aber müsste sich später überprüfen lassen, selbst wenn die „Generation Amnesie“ hier postet, mailt und twittert.
„...bei Ihren Nachbarn oder Freunden persönlich vorbeischauen? Je persönlicher, desto besser. Auch der Bäcker oder Postbote freuen sich über ein kurzes Gespräch.“
Warum denn sachlich, wenn es auch persönlich geht! Hallo Bäcker, wählst Du überhaupt? Hallo Postbote, Du haust mir hier die BILD-Zeitung zur Wahl in den Kasten, und willst selbst nicht wählen? Das wird mir jetzt zu persönlich!
„...diese von Avaaz erhaltene E-Mail mit kurzem persönlichen Gruß an all ihre Kontakte weiterleiten? So lösen wir einen Dominoeffekt aus.
Der Großteil Ihrer Freunde wird sich sicher darüber freuen, von Ihnen zu hören.“
Immer vor den Wahlen meldest Du Dich! Schon ganz der Politiker!
„Und vermutlich wird kein Einziger Ihnen mit einem ‚Ich geh nicht wählen. Basta!‘ entgegnen, sondern für Ihre Ideen und Argumente offen sein.“
Bloß welche Ideen und Argumente?! Wann kommen die denn?
„Wir sehen uns bei den Wahlen!“
Warum nicht gleich: Geh’ wählen, Du Sau! (wie der rote SPD-Pullover Ludwig Stiegler bayert: „Der Wähler is a Sau!“)
Fehlt noch der Spendenaufruf: „Kampagnen brauchen Geld“ - oder hat da schon jemand bezahlt?
Der DKP-Theoretiker Georg Fülberth behauptet im Neuen Deutschland vom 24.08.20132: „Verzichtserklärungen auf Gebrauch des Stimmrechts sind wohl erst für die Zeit nach 1989 typisch. Wie auch immer man zum staatlichen Sozialismus stand, seine Existenz allein bedeutete eine Entscheidungssituation: für oder wider. Mit seinem Wegfall beginnt die Zeit der modernen Apolitie ...“
Fülberth bemüht in seinem Beitrag zwar mehrmals die „alte Geschichte“, Rom, verschweigt aber, dass die Politik des libertären Sozialismus seit den Tagen der ersten Internationale fast immer im Boykott der Wahlen bestand. Und natürlich war das nicht etwa „Apolitie“, sondern dahinter stand eine andere Konzeption des nicht staatlichen, antiautoritären Sozialismus: Die direkte Aktion zur Eroberung der Fabriken und zur direkten Umgestaltung der sozialen Beziehungen, auch: Andere Formen, sich durchzusetzen und zu kämpfen. Unpolitisch ist da doch eher der Stimmzettel und das Starren auf die Wahlen. (Philippe Kellermann, bitte übernehmen!)
Wählen mit dem Wahl-O-Maten
„Ich habe schon mit dem Wahl-O-Maten gewählt.“ Immer häufiger mussten die Wahlwerber aus Parteien und von Avaaz diese Antwort hören wenn sie sich nach der Bereitschaft zur Wahl erkundigten, manchmal sogar „Für mich wählt ja der Wahl-O-Mat“, in der Regel von besonders aufgeschlossenen und technikaffinen BürgerInnen. Auf diesem Weg wurden zahlreiche Stimmen verschenkt: An die Familienpartei von denen, die das Betreuungsgeld bejahten, Tierschutzpartei und Bibeltreue Christen konnten auch Stimmen ernten wie mit einem Harvester, wer Schröders („kriminelle Ausländer raus“) oder Lafontaines Spitzen gegen die „Fremdarbeiter“ noch im Ohr hatte, musste herb enttäuscht erleben wie seine Stimme an die NPD oder Pro Deutschland verschenkt wurde, auf Nimmerwiedersehen versenkt. Deshalb hier die Warnung: Der Wahl-O-Mat ist eine Einrichtung, die voll im Trend liegt, schließlich wird auch unser Alltag immer stärker automatisiert. Er befindet sich aber noch in einer Erprobungsphase und ungefähr im Stadium eines Automobils: Auch Autos ärgern sich seit langem über das menschliche Versagen der FahrerInnen, die zu nervenaufreibenden Situationen und im schlimmsten Fall zum Totalschaden führen können. Es ist aber nicht unkompliziert, diesen Auto-Mobilisten klarzumachen, dass sie besser aus dem Wagen verschwinden und einem Auto-Piloten die Regie überlassen sollten, der mit Satellitenortung, automatisierten Abstands-Systemen fahren, bremsen, die Spur halten und einparken (das „autonome Auto“) kann. In Versuchen hat sich die Kommunikation selbst fahrender Autos als wesentlich reibungsloser erwiesen wenn Interventionen selbsternannter Lenker unterbleiben.
Obwohl Bettina Gaus „Parlamente ohne Bedeutung“ diagnostiziert3 und bedauert, dass sich in den nächsten Jahren unter keinem „realistisch vorstellbaren Regierungsbündnis“ die gewünschten Veränderungen vollziehen werden, führt sie das auf die Entmachtung des Bundestages durch europäische Gremien und die Regierungen der Bundesländer zurück, deshalb die Forderung nach einer „Bürgerbewegung für eine Föderalismusreform und für die Demokratisierung der Europäischen Union ...“
Was hier „Demokratisierung“ genannt wird, kann nur eine Parlamentarisierung, also Stärkung des europäischen Parlaments gegenüber den nationalen Regierungen und von diesen entsandten VertreterInnen sein. Und leider hat „die Linke“ (wieder als Sitzordnung im Parlament verstanden) eine starke Aversion gegen den Föderalismus, die letztlich genau aus der auf die französische Revolution zurückgehende, durch die sozialistischen und kommunistischen Parteien und Gewerkschaftsapparate noch verstärkte zentralistisch-etatistischen Konzeption eines „Durchregierens“ stammt: Der Einheitsfetisch.
Selbstverständlich sind wir gerade FöderalistInnen, weil Machtbegrenzung und gegenseitige Kontrollen gar nicht anders gedacht werden können. Aber sogar der staatlich überformte und mehr aus den Herrschaftstraditionen Deutschlands hervorgegangene Halb-Föderalismus hat, genau betrachtet, für Reformströmungen und soziale Bewegungen sehr viele Ansatzpunkte geboten, die es in zentralistischen Nachbarländern nicht gibt, wo beispielsweise in Paris beschlossen wird.
In der Bildungspolitik war sehr lange „Hessen vorn“, was eben möglich war, weil es eine Zuständigkeit des Landes für die Schulpolitik gibt. Viele Reformen wurden zuerst in einem Land durchgesetzt und dann verallgemeinert. Auch die Bewegungen gegen Industrieansiedlungen, wichtigstes Beispiel: Die Bewegungen gegen Atomenergie, hatten durch die Genehmigungsverfahren und Zuständigkeiten der Länder für Planungen auf den verschiedensten Ebenen immer neue Ansatzpunkte für Protest und Widerstand und Reorganisation. Die scheinbar einfachen zentralen „Lösungen“ und „Entscheidungen“, die linke Reformer sich oft wünschen, sind Wunschdenken und können genauso leicht mit einem Federstrich wieder „abgeschafft“ werden. Den Zeit- und Bewegungsrhythmen sozialer Bewegungen entspricht eine föderale Struktur.
Was könnte der Kernpunkt des Nichtwählens aus unserer Sicht sein?
Die Logiken von Kapitalismus, politischer Repräsentation und „Politik“ als staatlicher und Parteipolitik aufzubrechen. Eine nichthierarchische politische Form neu zu erfinden. In den sozialen Bewegungen Schritte zu egalitären und Minderheiten schützenden Organisations- und Kampfformen zu entwickeln. Eine eigene Perspektive und föderalistisch-sozialistische Praxis der sozialen Bewegungen zur Überwindung aller Hierarchien und der Bindung an Staatsapparate zu verbreiten.
David Schuster
Hinweise auf alles das und prinzipielle Kritik am Parlamentarismus: „Wer wählt, hat die eigene Stimme bereits abgegeben“ Graswurzelrevolution Nr. 146/147/148
Anmerkungen:
1 vgl. Erinnerungswürdig! Erfolge der rot-grünen Bundesregierung 1998-2005, Artikel von dju, in: GWR 380, Sommer 2013
2 Fülberth, Georg: Das Phänomen Apolitie, in: Neues Deutschland vom 24.08.13. Fülberths „Debatten“-Entgegnung auf den Beitrag von Bernd Drücke (Jede Partei ist auf Machterhalt fixiert, ND vom 24.08.13) ist missglückt.
3 Gaus, Bettina: „Parlamente ohne Bedeutung. Gründe fürs Nichtwählen gibt es viele. Sie sind alle nicht falsch, aber treffen den Kern nicht. taz vom 21./22. September, S. 19
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 382, Oktober 2013, www.graswurzel.net