Das Ideologie bildende Potenzial der Neurowissenschaften – wie aller Wissenschaften vom Menschen – ist beträchtlich. Forschungsgegenstände wie Gehirn, Verstand, Geist, Wahrnehmung, Bewusstsein, Seele, ‚das Ich’, ‚das Selbst’ etc. (von ‚Vernunft‘ ist eigenartiger Weise nie die Rede) rühren unmittelbar an philosophische Fragestellungen und Weltbilder. Von daher hat die Welt der Neurowissenschaften zwei Gesichter und beide sind auf ihre Art erstaunlich. Da ist zum einen die nüchterne Welt der seriösen Sach- und Lehrbücher für angehende Biologen, Mediziner und Psychologen (etwa: Bear Connors, 2009; Karnath Thier, 2012), die einen umfassenden und detaillierten Überblick über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Nervensystems bieten. So angenehm sachlich und unaufgeregt die Lehrbücher daherkommen, so faszinierend sind nicht selten die Inhalte. Gelegentlich klingt selbst in den strengen Texten der Fachwissenschaftler noch das Erstaunen über ihre Forschungsergebnisse an. Und erst recht als Laie schlägt einen die phantastische Leistungsfähigkeit des menschlichen Nervensystems in ihren Bann. Das Studium von Bau und Funktionsweise des Hörsystems etwa und mehr noch der Gleichgewichtsorgane (in ihrem Zusammenwirken mit dem visuellen System) kann einem schon die Sprache verschlagen. „Das Gehirn besteht - neben anderen Zellarten - aus geschätzten 100 Milliarden Neuronen, die über eine geschätzte Billiarde Synapsen miteinander in Verbindung stehen. Dazu kommt eine schier unüberschaubare Zahl von Botenstoffen (Amine, Neuropeptide, Aminosäuren und Gase), welche die Nervenübertragung durch Wechselwirkung mit einer Hundertschaft verschiedener Rezeptoren orchestriert und reguliert. Und nicht zu vergessen: Ebenso viele Hormone, zuständig für mittel- und langfristige Modulationen biologischer Vorgänge, sowie Tausende von Regulationsgenen. Ganz zu schweigen von spezifischen Transportmechanismen, molekularen Speicherorganen und einer ganzen Armada von Enzymen. Zudem mehren sich die Hinweise, dass nicht nur Neuronen, sondern auch ganz andere Zelltypen des Gehirns für Bewusstseinsprozesse, insbesondere für Gedächtnisfunktionen fundamental wichtig sein könnten.“ (Hasler 132)
Zu den Erkenntnissen und Methoden der Hirnforschung
Gegenüber diesem unfassbar vielseitigen, komplizierten und leistungsfähigen Gebilde stellen sich die – durchaus erstaunlichen - Erfolge der Hirnforschung immer noch als recht bescheiden heraus. So findet man zum Beispiel trotz des intensiven jahrzehntelangen Einsatzes der hochtechnisierten Verfahren nach wie vor keine Anhaltspunkte etwa für die Unterscheidung von psychischen Störungen wie Depression, Manie oder Schizophrenie von der Normalität. Und nachdem es bis heute nicht gelungen ist, diagnostisch sichere und therapeutisch umsetzbare Biomarker psychischer Erkrankungen zu entdecken, werden psychiatrische Diagnosen nach wie vor ganz überwiegend durch Gespräche, Fragebögen, klinische Beobachtung etc. erstellt. Und „Trotz jahrzehntelanger internationaler Forschungsanstrengungen der Pharmaindustrie hat man immer noch keine Ahnung, wo und was genau bei psychischen Störungen im Gehirn verändert sein soll.“ (Hasler 176)
Was die angebliche Präzision und Aussagekraft der bildgebenden Verfahren (PET, fMRT) im Bereich der Neurowissenschaften angeht, so wird immer wieder – auch von den Fachwissenschaftlern selbst - auf die nach wie vor grundlegenden Schwächen dieser Verfahren hingewiesen. Ringförmig rund um den Kopf angeordnete Detektoren messen nichts weiter als die Schwankungen der Konsistenz des regionalen Blutflusses / Blutsauerstoffgehalts (und auch das nur mit einem Nachtrab von mindestens einer halben Sekunde nach den zu erforschenden Vorgängen an den Neuronen), sammeln auf diese Weise Informationen über die Aktivität der verschiedenen Gehirnregionen und Aktivitätszentren bei verschiedenen Verhaltensweisen und produzieren im Ergebnis höchst eindrucksvolle und seriös wirkende Bilder von Bereichen mit verstärkter neuraler Aktivität. Wie weit es mit der Seriosität aber wirklich her ist, macht am ehesten ein Vergleich klar: das Verfahren läuft etwa so ab, als würde man versuchen, die Funktionsweise eines Computers zu ergründen, indem man rund um das Gehäuse Sensoren in Stellung bringt, um die Temperaturen und den Stromfluss an bestimmten Stellen im Inneren des Computers zu messen, während bestimmte Programme ablaufen. (Wobei festzuhalten ist, dass die Struktur des Gehirns eher der des weltweiten Internet als der eines einzelnen Computers gleicht.) Auch ist offensichtlich nach wie vor nicht in jedem Falle mit Sicherheit auszuschließen, dass man unbekannten ‚Laborartefakten‘, d.h. allein durch die Messmethode und die Art des Versuchsaufbaus hervorgerufenen Phänomenen, aufsitzt.
Vor diesem Hintergrund wären sicherlich Besonnenheit und Bescheidenheit angesagt, was den öffentlichen Umgang mit den Erkenntnissen über das Gehirn und dessen Funktionen angeht. Das Gegenteil aber ist nicht selten der Fall. Und damit sind wir bei dem anderen erstaunlichen Gesicht der Neurowissenschaften; denn so sachlich, unaufgeregt und nüchtern die Neurowissenschaftler in ihren Forschungen und harten naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Werke gehen, so sehr neigen viele von ihnen zu Hochstapelei in der Außendarstellung, zu Science-fiction-ähnlichen haltlosen Prophezeiungen, zu einer Art Neuromythologie, sobald sie sich zu philosophisch–weltanschaulichen Aspekten ihrer Arbeit, zu ihrer Auffassung vom Menschen oder zu gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen ihrer Erkenntnisse äußern. Dahinter stecken oft genug die PR-Abteilungen von Universitäten und Forschungseinrichtungen, die um weitere Fördergelder kämpfen müssen, selbst auf die Gefahr hin, dass sie auf diese Weise mittelfristig die Glaubwürdigkeit der ganzen Disziplin gegenüber einer immer argwöhnischer werdenden Öffentlichkeit verlieren könnten, „ein ähnliches Schicksal wie der früheren KI-Forschung [Künstliche Intelligenz] mit ihren notorisch an der Wirklichkeit scheiternden Zukunftsprognosen“ (Slaby 7) widerfuhr.
Thema Willensfreiheit - Libet und die Folgen
Der in Deutschland wohl bekannteste Fall derartiger Hochstapelei - der Streit um die Willensfreiheit - soll im folgenden etwas näher betrachtet werden, zumal er auch hinführt zu der Diskussion um die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften. Angefangen hat alles mit Untersuchungen des renommierten amerikanischen Physiologen Benjamin Libet in den frühen achtziger Jahren.
In Libets Versuchsaufbau (Die genaue Beschreibung der Versuchsanordnung kann man unschwer dem Netz entnehmen.) hatten die Testpersonen nichts weiter zu tun als zu einem von ihnen frei gewählten Zeitpunkt innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters die Hand zu bewegen und sich gleichzeitig die Position eines Lichtpunkts auf einer hochpräzisen und zugleich leicht ablesbaren Uhr zu merken - und zwar genau zu dem Zeitpunkt, wenn sie subjektiv das Gefühl hatten, *JETZT* habe ich den Bewegungsentschluss gefällt. Später wurden die Aussagen mit den aufgezeichneten Hirnströmen verglichen. Der von den Versuchspersonen berichtete Zeitpunkt des Handlungsentschlusses lag erwartungsgemäss im Durchschnitt 200 Millisekunden (tausendstel Sekunden) vor der Ausführung. Zur Überraschung Libets hatten sich aber – gänzlich unbemerkt von den Versuchspersonen – bereits etwa eine halbe Sekunde früher die Bereitschaftspotentiale für diese Aktion in den motorischen Arealen des Gehirns aufgebaut. (Die sogenannten Bereitschaftspotentiale als messbare elektrische Veränderungen der Hirnaktivität, die einer Willenshandlung regelmäßig und auf spezifische Weise vorangehen, hielt man schon seit Mitte der 60er Jahre für nachgewiesen.) Der Willensprozess wurde also offenbar bereits unbewusst eingeleitet etwa 400 Millisekunden (also eine knappe halbe Sekunde) bevor die Versuchsperson sich ihrer Handlungsabsicht bewusst wurde. Für viele Beobachter schien – und scheint bis heute - mit Libets Versuch der Beweis für die willens-un-abhängige Autonomie des Gehirns erbracht worden zu sein, zumal Libets Ergebnisse Jahre später noch mehrfach von anderen Forschern verifiziert wurden.
Damit erhob sich gerade auch in Deutschland eine zunehmend erbittert, teilweise gehässig geführte Diskussion um die „Illusion der Willensfreiheit“, die vor allem von den Hirnforschern Wolf Singer, Gerhard Roth und Helmut Prinz mit - angesichts der schmalen Datenbasis - maßlos überzogenen Formulierungen angeheizt wurde: “Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun”; “Die Entthronung des Menschen als freies denkendes Wesen – das ist der Endpunkt, den wir erreichen”; “Mythos Willensfreiheit”; “Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen”; “Eine Gesellschaft darf niemanden bestrafen, nur weil er in irgendeinem moralischen Sinne schuldig geworden ist – dies hätte nur dann Sinn, wenn dieses denkende Subjekt die Möglichkeit gehabt hätte, auch anders zu handeln als tatsächlich geschehen”.
Neuronengesteuerte Bioautomaten ohne freien Willen und ohne Verantwortung für ihre Handlungen – das war nun ein Menschenbild, das zwar den Herrschenden ganz gelegen kam als Flankierung ihrer Propaganda gegen selbstbewusste Interessenvertretung aus freien Stücken und aus politischer Verantwortung, das aber andererseits auch auf erbitterten Protest von allen Seiten stoßen musste und wohl auch sollte. Die Hirnforschung war für lange Zeit in aller Munde, in allen Feuilletons und erklomm hin und wieder auch Bestsellerlisten. Inzwischen hat sich der Schlagabtausch zwischen Provokateuren und Entrüsteten zwar ein Stück weit beruhigt, ist aber keineswegs beendet.
Dabei hat Libet derart weit reichende Deutungen seiner Versuchsergebnisse von Anfang an zurückgewiesen und u.a. nachgewiesen, dass der Mensch durchaus die Möglichkeit hat, die in Vorbereitung befindliche (Bereitschaftspotential) und bereits beschlossene Handlung noch im allerletzten Moment zu blockieren – sozusagen sein ‚Veto‘ einzulegen, so dass keine Handlung stattfindet. Zwar sieht es wirklich so aus, als sei es nicht in jedem Falle der bewusste Wille, der die Vorbereitung einer Willenshandlung einleitet, jedoch behält er die Kontrolle über den Vollzug der Handlung bis ganz kurz vor der Ausführung, kann sie letztendlich zulassen oder unterdrücken. „Die Existenz der Veto-Möglichkeit steht außer Zweifel.“ formulierte Libet. (siehe auch: Benjamin Libet 2007)
Heute spielen Libets Versuche in den kognitiven Neurowissenschaften im Grunde keine Rolle mehr, sind durch feinere und breiter angelegte Untersuchungsmethoden ersetzt worden, die für die alten Spekulationen und Aufregungen um die Willensfreiheit nicht mehr die passenden Ansatzpunkte hergeben. Es finden sich aber durchaus weiterhin Formulierungen, die Libets Veto-Theorie stützen: „Neben der automatischen Aktivierung von Bewegungen muss es demnach auch Mechanismen geben, die eine kontrollierte Handlungssteuerung erlauben.“ (Karnath 373) Schon angesichts dieser Ergebnisse der Hirnforschung selbst fallen also die Positionen von Singer / Roth / Prinz und anderen psychobiologisch ausgerichteten Forschern in Sachen Willensfreiheit in sich zusammen.
Zu den philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften
Die öffentliche Debatte über den sinnvollen Umgang mit den Neurowissenschaften geht über das Beispiel Willensfreiheit hinaus und bezieht sich vor allem darauf, dass (auch) die Fachwissenschaftler in ihren Äußerungen oft nicht den Mindestanforderungen an Wissenschaftlichkeit genügen, sobald sie ihr Fachgebiet verlassen. Das gilt insbesondere auch für den Sprachgebrauch. „Die Hirnforschungsdebatte präsentiert sich so, wie sie tatsächlich geführt wird, als eine Art von „Kauderwelsch“ . . . , aus einem Sprachgemisch, in dem sich einerseits Fachsprachen, andererseits eine gehobene Alltagssprache ohne fachwissenschaftliches Fundament identifizieren lassen .“ (Janich 13) (ausführlicher dazu s.u.) Die Neurowissenschaften sind auf Beobachtung und Messung, auf empirischen Verfahren beruhende Wissenschaften. „Aber welche Fragen empirisch sind, kann nicht selbst empirisch entschieden werden. . . .“ (Janich 13) Welche Aussagen über Menschen auf der Basis der Hirnforschung überhaupt sinnvoll sind, welche Aussagen von Hirnforschern Tatsachenaussagen im Ergebnis ihrer Forschungen und welche subjektive Interpretationen und Extrapolationen sind, das sind Fragen, die nicht im Labor der Hirnforscher entschieden werden können, handelt es sich hier doch nicht um empirische Fragen sondern um logische bzw. wissenschaftstheoretische. Sie sind nur durch apriorische Begriffsklärungen und philosophische Argumentation zu klären.
Die Tatsache, dass geistige Prozesse (mit denen die Psychologie sich befasst) offenbar mit bestimmten Erscheinungen im Gehirn verbunden sind und ohne diese nicht möglich sind, berechtigt nicht im mindesten dazu, sie auf diese Erscheinungen zu reduzieren. Das Gehirn ist so wenig die Ursache oder der Ort des Denkens wie der Sauerstoff die Ursache oder der Ort des Feuers, obwohl es ohne Sauerstoff in der Luft kein Feuer gäbe. Wenn Menschen miteinander reden, dann kommunizieren nicht Kehlköpfe und auch nicht isolierte Gehirne sondern in ein soziales System eingebundene Personen. Und zwar in einer Sprache, die mit ihren Inhalten, ihren Nuancen, ihrem Hintersinn und ihrem feinen Spiel von Assoziationen das Ergebnis einer Jahrtausende währenden, durch die Notwendigkeiten der gesellschaftlich organisierten Arbeit provozierten Entwicklung der menschlichen Gattung ist. „Wir behaupten, dass eine solche Zuschreibung psychologischer Prädikate zum Gehirn keinen Sinn ergibt. Dass Gehirne nicht denken, hypothetisieren oder entscheiden, nicht sehen und hören, keine Fragen aufwerfen und beantworten, . . . Das Gehirn ist kein logisch angemessenes Subjekt für psychologische Prädikate. (herausgeh. d. Verf.) Nur von einem menschlichen Wesen oder einem, das sich entsprechend verhält, kann sinnvoll gesagt und wörtlich gemeint werden, dass es sieht oder blind ist, hört oder taub ist, Fragen stellt oder es unterlässt zu fragen.“ (Bennett, Hacker 93)
Die bio-psycho-soziale Ganzheit Mensch
‚Das‘ menschliche Gehirn gibt es nicht. Wir haben es – gerade auch im Experiment - immer mit einem ganz konkreten Gehirn zu tun, das, so lange es lebt, untrennbarer Teil eines Ganzen, eines historisch einmalig geprägten Individuums ist und das eingebunden, geprägt und existenziell angewiesen ist auf dessen körperliche, mentale und soziale Gesamtexistenz. Ein vom übrigen Organismus und seiner Umwelt isoliertes Gehirn hörte auf, ein Zentralorgan zur Orientierung in der Umwelt und für die zielgerichtete Rückwirkung auf dieselbe zu sein, hörte auf, ein menschliches Gehirn zu sein. (Pawlow T. 640) Zum Menschen, verstanden als bio-psycho-soziale Ganzheit (siehe dazu: Brenner 2002), gehören neben dem kognitiven Subsystem, das sein funktionales Zentrum zweifellos im Kopfgehirn hat, untrennbar auch – um nur einige zu nennen – das sensorische und motorische Subsystem, das Bauchgehirn (mit ‚seiner‘ eigenen Weisheit und ‚seinen‘ eigenen Neurosen), der Funktionskreis der Sexualität, das Subsystem des Bewegungsapparates, gehören aber auch untrennbar die Ergebnisse der seit Jahrtausenden andauernden gesellschaftlichen Praxis der Menschen - die menschlichen Werkzeuge, Arbeitsgeräte, Hilfsmittel, Maschinen, Ausrüstungen sowie Verhältnisse, Institutionen, Landschaften und die symbolischen Vergegenständlichungen: Sprachen, Gewohnheiten, Vorstellungen, Kenntnisse, Wissenschaften, Ideologien, Moralvorstellungen, Normen - „die Welt des Menschen“, als „objektiviertes / vergegenständlichtes Psychisches“, als „Dingform der psychischen menschlichen Tätigkeit“. „Die von Marx vorgebrachte völlig neue Antwort auf diese Frage ist, dass die menschlichen Fähigkeiten nicht nur als subjektive Aktivitäten der Individuen, sondern auch in objektivierter - oder genauer: vergegenständlichter - Form von "Produktivkräften" existieren, - Arbeitsgeräten und Maschinerien, wo sich handwerkliches Können, wissenschaftliche Kenntnisse und technologische Prozeduren vereinigen, wo intellektuelle Vorgehensweisen Gestalt annehmen; ein außer-organischer Vorrat in lebhaftem geschichtlichem Wachstum, durch dessen stets singuläre individuelle Aneignung sich in jeder Generation die persönlichen Fähigkeiten ausformen.“ (Sève 1 + 2)
In diesem Sinne kann die Wissenschaft vom Hirn sicherlich interessante und wichtige Aspekte zu psychologischen Fragen beisteuern, können jedoch Laborbefunde über die Physiologie des Gehirns nicht zur Grundlage der Diskussion über psychische Phänomene wie die Willensfreiheit werden, denn damit würde die Dialektik des Verhältnisses von Teil und Ganzem verletzt; anders ausgedrückt (in der Fachsprache der Mereologie, der Logik der Relationen zwischen Teil und Ganzem): man würde einen mereologischen Fehlschluss begehen, da man Prädikate (Eigenschaften), die nur in Bezug auf ein Ganzes Sinn machen, unkritisch auf eines seiner Teile bezieht, wenn man dem Gehirn Attribute zuschreibt, die man sinnvoll nur Menschen als Ganzen zuschreiben kann. So wie es nicht ein Kehlkopf ist, der spricht, sondern eine Person, und nicht der Kompass oder der Autopilot, der fliegt, sondern das Flugzeug. Alltagssprachlich mag man über diese Feinheiten hinwegsehen und es besteht sicherlich kein Anlass, für die Alltagssprache eine Art Terrorimus des korrekten Vokabulars zu errichten. Für die wissenschaftliche Arbeit aber sind sie von grundlegender Bedeutung.
Das Gehirn, das gewiss eine zentrale Funktion für die psychischen Prozesse im Menschen hat, ist für sich genommen jedoch – s.o. - kein logisch angemessener Gegenstand, dem psychische Eigenschaften und Tätigkeiten zugeschrieben werden könnten. Geschieht dies dennoch, entstehen Aussagen, die logisch weder richtig noch falsch sind, sondern Unsinn, da sie Begriffe aus unterschiedlichen Welten mit unterschiedlichen Voraussetzungen, Regeln und Begriffen unreflektiert aufeinander beziehen – etwa so als wollte man beim Skatspiel Schach bieten oder beim Fliegen auf die Bremse treten.
„Was im Gehirn abläuft, sind neurale Prozesse, die sich ereignen müssen, damit die Person, deren Gehirn es ist, die entsprechenden Geistesprozesse durchleben kann.“ (Bennett, Hacker 147) Die Antwort auf die Anschlußfrage nach dem Wo, danach, wo denn die Person - die bio-psycho-soziale Ganzheit Mensch - die entsprechenden Geistesprozesse durchlebt, kann nur lauten: „Gedanken werden nicht im Gehirn gedacht, sondern im Studium, in der Bibliothek oder wenn man die Strasse hinunterläuft. . . . Gedanken kann man als niedergeschriebene in Texten finden, jedoch nicht in den Gehirnen von Menschen.“ (Bennett, Hacker 239)
Wirklich im Gehirn registrieren kann man dessen elektrische Aktivität, kann diese ableiten und inzwischen gar über Gehirn-Computer-Schnittstellen ansatzweise in Steuersignale für Neuro-Prothesen und zur Kommunikation mit Wachkoma-Patienten übersetzen (basierend auf der Tatsache, dass schon die bloße Vorstellung eines Verhaltens messbare Veränderungen der elektrischen Hirnaktivität auslöst). Manche sehen darin einen ersten Schritt zur Entschlüsselung des ‚Gehirn-Code‘, also der Regeln, nach denen sich die elektrischen und chemischen Vorgänge im Gehirn entschlüsseln und auslesen ließen. Wenn wir diesen ‚Code‘ erst einmal verstanden hätten, dann könnten wir zumindest manche Vorgänge im Gehirn direkt auslesen. Mit den heute vorstellbaren technischen Möglichkeiten scheint es allerdings völlig ausgeschlossen, die zwischen den bis zu 1.000 Billionen Synapsen des Gehirns möglichen Verknüpfungen zu erfassen, geschweige denn zusätzlich den Einfluß der parallel ablaufenden chemischen Vorgänge. Aber Vorsicht - allzu lange ist es noch nicht her, dass wir ähnlich skeptisch über die Möglichkeit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms gedacht haben.
Die Verdinglichung der Begriffswelt
Ein häufig anzutreffender Ausgangspunkt von Begriffsverwirrung gerade auch im Bereich der Neurowissenschaften ist der – besonders in der deutschen Sprache – anzutreffende Hang zur Substantivierung: aus wollen wird ‚der Wille‘, aus denken wird ‚das Denken‘, aus geistigen Tätigkeiten und Prozessen wird ‚der Geist‘, aus ich ‚das Ich‘, ‚die Wahrnehmung‘ aus wahrnehmen, ‚das Gute, Wahre, Schöne‘ etc. Überführt man aber Verben (z.B. wollen), Adjektive (z.B. schön), Pronomen (z.B. ich) in die Form des Substantivs (des ‚Dingworts‘!), so erhalten die neuen Begriffe damit leicht - unter der Hand - ein größeres Gewicht, eine neue, imponierende Statur. Bei naivem Gebrauch des neuen Dingworts entsteht so ganz nebenbei der Anschein einer eigenen Entität, gar einer neuen Sache (Janich 129), und man wird unmerklich verführt zu der Vorstellung, als sei z.B. ‚der Geist‘ eine eigenständige Wesenheit, dessen Regungen sich womöglich gar nach Ort und Zeit im Gehirn verorten und vermessen lassen. Dabei handelt es sich doch um nichts weiter als ein begriffliches Konstrukt, um eine Sprechgewohnheit (‚façon de parler‘), die sich eingebürgert und über Jahrhunderte gehalten hat, weil sie sich gut als zusammenfassender Begriff für komplexe Eigenschaften, Fähigkeiten, Tätigkeiten, Möglichkeiten etc. des Menschen eignet.
Plötzlich ist es dann mein Geist, der denkt, der Entscheidungen fällt, und nicht mehr ich, eine Art ‚Homunculus‘ (winziges Menschlein) irgendwo im Hirn. Die Konfusion ist perfekt – und sie ist nicht nur ‚platonisch‘ sondern sehr real, weitreichend und schwerwiegend, denn sie kann u.U. dazu verleiten, unsinnige Fragen aufzuwerfen, sinnlose Experimente, Forschungsprojekte, Wissenschaftsdisziplinen zu konzipieren. Nicht wenige Forscher beginnen dann durchaus ernsthaft über diese rätselhafte Wesenheit Geist zu forschen, sehen darin ein selbständiges Agens mit eigener – wenn auch vielleicht immaterieller - Substanz und womöglich gar mit einem Sitz im Gehirn. (Ähnlich wie Descartes den Sitz des Austausches zwischen Geist und Körper in der Zirbeldrüse vermutete.) Aber „Es besteht absolut keine Veranlassung, dem Platonismus das Feld zu überlassen und neue existierende Entitäten und Welten, die sie bewohnen können, aus dem Hut zu zaubern.“ (Bennett, Hacker 64)
Eine weitere Gefahr erwächst aus der Tatsache, dass (auch) auf dem Gebiet der Neurowissenschaften immer wieder Metaphern (Bilder und Begriffe im übertragenen Sinne) zum Einsatz kommen – besonders häufig übrigens solche aus dem Bereich der Nachrichtentechnik. Aber Metaphern sind gefährlich, wenn sie in die Sprache der Wissenschaft Eingang finden, weil sie oft genug unmerklich falsche Botschaften transportieren und unsinnige Handlungsziele nahelegen, wenn sie nicht als solche erkannt werden. (Und nicht immer sind sie so leicht zu erkennen wie etwa die bekannte Metapher vom ‚Sand im Getriebe‘.) Beim Gebrauch von Metaphern in der Alltagssprache oder in literarisch kunstvoller und poetischer Sprache ist die Verletzung von Regeln der Logik üblich und allgemein akzeptiert. Jeder weiss was gemeint ist, wenn vom ‚ Sand im Getriebe‘ die Rede ist. Sicherlich kann man im metaphorischen Sinne in der Alltagssprache sagen: ‚Benutzt endlich euer Gehirn (eure grauen Zellen / euren Kopf)!‘ und meint damit: ‚Denkt endlich nach!‘. Die damit ganz unmerklich transportierte Botschaft, das Gehirn, der Kopf, ‚der Geist‘ sei der Ort des Denkens, ist aber auch damit nicht neu begründet, bleibt unsinnig, auch wenn es richtig ist, dass man ohne spezielle Vorgänge im Gehirn nicht denken könnte. Liegt nicht nur der versehentlich unkritische Umgang mit Metaphern vor, sondern werden bewusst und unbekümmert Begriffe aus der Philosophie oder Psychologie von renommierten Hirnforschern unkommentiert in die Neurowissenschaften übernommen und mit rein physiologischen Vorgängen korreliert (Beispiel: Willensfreiheit), so läuft dies auf das hinaus, was Renate Wahsner kürzlich für den Bereich der Physik konstatiert hat: Es zeigt – über denkbare kommerzielle Motive hinaus – „den Einbruch postmodernen Denkens“ in die Neurowissenschaften. (Wahsner 2012 5)
Neurowissenschaften - Erkenntsnistheorie - Widerspiegelung
Es liegt auf der Hand, dass gerade der erkenntnistheoretische Aspekt der Neurowissenschaften für am Marxismus Interessierte von besonderem Interesse ist, zählt doch das Widerspiegelungstheorem (hier genauer gesagt dessen erkenntnistheoretischer Teilaspekt – siehe dazu: Holz 2011 220 und: Metscher 15) nach allgemeinem Verständnis zur Grundsubstanz des dialektischen Materialismus und liegt daher seit eh und je unter ideologisch motiviertem Dauerfeuer auch von Fachwissenschaftlern. Die in den seriösen Fachbüchern dargelegten Erkenntnisse geben jedoch keinen Anlass, von dem Abbild- bzw. Spiegelmodell für den Wahrnehmungs- und Erkenntnisvorgang abzurücken. Im Gegenteil. Das Abbildmodell ist unbestrittenes Grundmodell der neurowissenschaftlichen Forschung und Darstellung und prägt auch die einschlägige Terminologie. Dies natürlich nicht in der primitiven Form eines mehr oder weniger ‚naturgetreuen‘ passiven Spiegelbildes der Außenwelt in unserem Kopf im Sinne einer „plumpen Objektbestimmtheit unserer Erkenntnis“ (Wahsner 2009 154), sondern in einer differenzierten Fassung, die die konstruktive menschliche Arbeit und Eigenleistung bei der Filterung, Strukturierung und Synchronisation der von den Sinnesorganen aufgenommenen Reize aus der Außenwelt mitdenkt und die „Kreativität“ (Wahsner 2009 149), die der Mensch in diesem Zusammenhang entwickelt, mit in den Fokus der Forschung nimmt. Formulierungen in der Fachsprache klingen dann so: „Durch Aufmerksamkeit entsteht eine interne Repräsentation unserer Umwelt, die weniger die präzisen sensorischen Eigenschaften der Sinnesreize abbildet, als vielmehr deren Bedeutung im momentanen Verhaltenskontext widerspiegelt.“ (Karnath 330) und: „Obwohl es stimmt, dass die anatomische Projektion eine Art von Abbildung zwischen der Netzhaut und der primären Sehrinde herstellt, basiert doch unsere Wahrnehmung auf der Interpretation verteilter Aktivitätsmuster durch das Gehirn und nicht auf tatsächlichen "Schnappschüssen" der Umwelt.“ (Bear Connors 352)
Ein ‚naturgetreues‘ Spiegelbild der Außenwelt als Ergebnis des Wahrnehmungsprozesses kann es ja schon deshalb nicht geben, weil wir die Welt wegen unserer eingeschränkten Sinnesausstattung nicht annähernd so wahrnehmen können, ‚wie sie ist‘. Schon ein kurzer Blick auf unsere visuelle Wahrnehmung sagt uns: Aus dem Spektrum der elektromagnetischen Wellen, die uns umgeben, nehmen wir nur einen Bruchteil über unsere Augen auf. Ultraviolettes und infrarotes Licht, Röntgen- oder Gammastrahlen, die durchaus auch wichtige Informationen über die äußere Welt liefern könnten, können unsere Sinne nicht direkt wahrnehmen. Aktive Ortungsverfahren wie Radar oder Sonar (Fledermäuse) stehen uns nicht zur Verfügung. (Allerdings hat aktive, zielgerichtete menschliche Aufmerksamkeit, die zu Recht gerne verglichen wird mit dem gerichteten Lichtkegel einer Lampe (Müsseler 145), eine gewisse Nähe zu aktiven Ortungsverfahren.) Zudem sind erhebliche Diskrepanzen zwischen Sinnesreizen, Wahrnehmung und Realität leicht nachweisbar. So gibt es mehr als 100 Millionen Photorezeptoren in der Netzhaut, aber ‚nur‘ 1 Million Axone stehen zur Weiterleitung vom Auge zum Gehirn zur Verfügung. Was dann tatsächlich von uns wahrgenommen wird, hängt davon ab, in welcher Weise die Lichtreizungen der Netzhaut neuronal verarbeitet, d.h. selektiert, koordiniert, codiert und weitergeleitet werden und wie dann diese ‚Signale‘ von der Person ausgewertet und interpretiert werden. (Nach Angaben von Nathan Myhrvold sieht der Mensch unter idealen Bedingungen mit einer Auflösung von 576 Megapixeln. Sollten alle Reize, die die Netzhaut erreichen, ans Gehirn weitergeleitet werden, müsste der entsprechende Nervenstrang mindestens den Umfang eines Elefantenrüssels haben.)
Und so ist die menschliche Wahrnehmung nicht etwa als ein Prozess der passiven ‚naturgetreuen‘ Abbildung durch ein wirklichkeitsnahes, quasi fotographisches Spiegelbild der Außenwelt zu verstehen, sondern eher als die aktive Kreation einer stark vom Eigeninteresse und den momentanen Handlungszielen der wahrnehmenden Person geprägten mentalen Widerspiegelung der Außenwelt - auf der Basis von häufig unzureichender und verzerrter ‚Information‘ durch die Sinne. Ein „subjektives Abbild objektiver Dinge“ (Pawlow T. 183). „Im selben Wald wird der Jäger, der Holzfäller, der Pilzsucher etc. rein spontan (freilich in der Praxis ausgebildet) qualitativ völlig Verschiedenes wahrnehmen, obwohl das Ansichsein des Waldes keinerlei Veränderung erfährt. Es verändert sich bloß der Aspekt, von dem aus die inhaltliche und formelle Auswahl in der Abbildung stattfindet.“ (Lukacs 351)
Die Frage, ob die so gewonnenen Erkenntnisse der Realität entsprechen, ob sie richtig, ob sie wahr sind, können die Neurowissenschaften nicht beantworten – ja nicht einmal stellen , kann diese Frage doch weder theoretisch noch über Laborexperimente entschieden werden. Entsprechend kann in der Hirnforschung die Frage nach der Wahrheit (oder auch nur der Begriff Wahrheit) keine Rolle spielen. Denn: „Kriterium der Richtigkeit dieser Abbildung ist die Angemessenheit meines praktischen Verhaltens, der Handlungserfolg. Das besagt die 2. Feuerbachthese von Marx: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d.h. Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. (MEW 3 5)“.“ (Holz 2005 368) In dem heute an den Hochschulen weit verbreiteten Handbuch ‚Allgemeine Psychologie‘ liest sich das in Kurzform wie folgt: “Man muss sich stets vor Augen führen, dass die Sinne lediglich als Hilfsmittel entwickelt wurden, um ein erfolgreiches Handeln des Individuums mit der Umwelt überhaupt zu ermöglichen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich diese Funktion in der phylogenetischen Entwicklung des Wahrnehmungsapparats niedergeschlagen hat.“ (Müsseler 50)
Literatur
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Bennett MR, Hacker PMS, Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften, Darmstadt 2012
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Hasler F, Neuromythologie, Bielefeld 2012
Holz HH, Weltentwurf und Reflexion, Stuttgart 2005
Holz HH, Dialektik Bd. 5, Darmstadt 2011
Janich P, Kein neues Menschenbild, Frankfurt/M 2009
Karnath HO, Thier P (Hrsg), Kognitive Neurowissenschaften, Berlin Heidelberg 2012
Libet B, Mind Time, Wie das Gehirn Bewusstsein produziert, Frankfurt/M 2007
Lukacs G, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 2. Bd., Darmstadt 1986
Metscher T, Logos und Wirklichkeit, Frankfurt/M 2010
Müsseler J, Allgemeine Psychologie, Heidelberg 2011
Pawlow Todor, Die Widerspiegelungstheorie, Berlin 1973
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Weingarten M, Moderne Kognitionswissenschaft, in: Marxistische Blätter 4-92
Weingarten M, Wahrnehmen, Bielefeld 2003
Wahsner R, Borzeszkowski HH, Das physikalische Prinzip, Würzburg 2012
Wahsner R, „Die Materie der Erkenntnis kann nicht gedichtet werden“, in: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Heft 77 2009