„Soziale Bewegungen praktizieren zu wenig zivilen Ungehorsam“

Ein Interview mit Peter Grottian

Peter Grottian ist Hochschullehrer für Politikwissenschaft an der FU Berlin. Er ist Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat von attac. Seine im folgenden Interview vertretenen Positionen weichen insofern vom Selbstverständnis der Graswurzelrevolution ab, als sie den Staat affirmativ zum Adressaten politischer Forderungen machen. Zugleich aber zielt Grottian darauf ab, die zahmen Attac-Aktionen zuzuspitzen und mit radikaler Kritik an Herrschaftsstruk­turen zu verbinden. Deshalb wollen wir diese Positionen zur Diskussion stellen und freuen uns über Bezug nehmende Beiträge. (GWR-Red.)

 

Graswurzelrevolution (GWR): In den Medien wird täglich über die Wirtschafts- und Finanzkrise berichtet. Mit at­tac gibt es eine in Deutschland bereits im Jahr 2000 gegründete Organisation, die sich mit den Themen der Krise kritisch auseinandersetzt. Was macht attac aktuell?

 

Peter Grottian: Wir bereiten uns gerade auf die nächsten „Blockupy“-Proteste vor, die Ende Mai und Anfang Juni in Frankfurt/M. stattfinden sollen – da soll es eine Umzingelung des Bankenviertels geben. Bei der Organisation ist attac neben Gewerkschaften und anderen linken Gruppen einer der Hauptakteure. Daneben gibt es aktuell seitens attac auch eine Bankenwechsel-Kampagne und es sind Proteste im Rahmen der Aktionärsversamm­lung der Deutschen Bank geplant.

 

GWR: Meinem Eindruck nach hört man von attac momentan nur wenig in der Öffentlichkeit. Täusche ich mich da?

 

Peter Grottian: Das ist zum Teil sicher eine richtige Beobachtung – hängt aber auch davon ab, dass attac von den politischen Vorhaben pluralistisch organisiert und breit aufgestellt ist. Heute gibt es zum einen die Vorbereitung der „Blockupy“-Proteste, die viele Ressourcen bündelt, und die Kampagne „Umfairteilen“, in der die Frage nach einem Reichtums-Armuts-Ausgleich gestellt wird. Bei „Umfairteilen“ arbeiten wir auch viel mit Kirchen zusammen, organisieren Protestaktionen und auch einen Kongress. attac ist Teil vieler solcher Bündnisse und tritt daher eben auch nicht immer mit eigenem Namen groß in der Öffentlichkeit in Erscheinung.

 

GWR: Hat die mangelnde Wahrnehmung nicht auch inhaltliche Gründe? Mittlerweile hat sich die regierende Politik einige Forderungen der Globalisie­rungskritikerInnen selbst auf die Fahnen geschrieben – Stichwort: Finanztransak­tionssteuer.

 

Peter Grottian: Das ist nicht ganz richtig. Was die Regierung macht, insbe­sondere das EU-Reformpaket „Basel III“, sind leere Versprechen. An der Struktur des Ban­kenwesens hat sich nichts geändert und an den Finanzpro­dukten nur sehr wenig.

Die Struktur und die Dynamik des Investmentbankingswurden nicht angetastet – das Casino läuft weiter. Von politischer Regulierung ist nichts zu sehen. Es gibt von der Politik immer Versprechungen, die in der Regel aber nicht eingehalten werden – da gibt es höchstens mal ein paar „Reförmchen“, die man aber eigentlich nicht mal als solche bezeichnen kann.

 

GWR: In der Bevölkerung scheinen die Versprechen aber zu wirken…

 

Peter Grottian: Die Grundstimmung in der Bevölkerung bei dem schwierigen Thema der Finanzmarktkrise ist der Wunsch nach Sicherheit.

Die Regierung argumentiert deshalb quasi mit dem Spruch „In schwierigen Zeiten in guten Händen“ – das werden wir auch im kommenden Bundestags-Wahlkampf erleben.

Da die Menschen die Krise und ihre Ursache nur schwer durchblicken, glauben sie oft das, was die Regierung ihnen verspricht. attac wirft auf die Aussagen der Regierung einen kritischen Blick – wir glauben nicht einfach alles. Wir schauen, was versprochen wird und was die Politik dann real macht – und da gibt es eine riesige Diskrepanz. Man kann nach wie vor sagen, dass entscheidende Interventionen von der Politik in den Finanzmarktsektor nicht vorangekommen sind.

 

GWR: Liegt der geringe Protest gegen die aktuelle Regierungspolitik auch daran, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise noch nicht richtig bei den meisten Menschen in Deutschland angekommen ist?

 

Peter Grottian: Genau das denke ich. Es gibt ein großes Wahrnehmungsde­fizit in der Bevölkerung: die Leute werden mit der Behauptung, dass Deutschland gut durch die Krise gekommen ist, eingelullt. Das ist im Vergleich zu anderen Ländern, in denen die Krise stärker spürbar ist, sicher nicht ganz falsch.

Aber es ist eben auch nicht die ganze Wahrheit. Die Krise ist noch nicht vorbei. Wir werden in den nächsten Monaten durch die Probleme der europäischen Automobilindustrie einen riesigen konjunkturellen Einbruch bekommen. Bildlich gesprochen kann man sagen: wenn 3,5 Millionen PKW nicht abgesetzt werden können, stehen zehn Automobil-Werke still. Diese Krise in der Autoindustrie wird auch das Wachstum in Deutschland zum Stillstand bringen und in einer Rezession münden – dann wird das Märchen von der gut überstandenen Krise entzaubert und es wird Auseinandersetzungen über Sparmaßnahmen geben. Dann wird die Regierung vorschlagen beim Sozialstaat zu kürzen. Darauf ist die politische Linke in Deutschland nicht gut vorbereitet. Ebenso wenig wie auf Proteste, die dann stattfinden sollten, dies gilt auch für attac.

 

GWR: Wenn Sie sagen, dass man schon heute eigentlich gegen die Krisen-Politik der Regierung protestieren muss, dies aber nicht geschieht, scheint es ein Problem bei der Vermittlung der Thematik in die Gesellschaft zu geben – also ein Bildungsproblem?

 

Peter Grottian: Aufklärung hat sich attac schon auf die Fahnen geschrieben, aber – das ist sicher eine korrekte Feststellung – es geschieht nur unzureichend.

Es gibt zwar eine Reihe von Veröffentlichungen von attac zu Themen wie der Finanzmarktkrise, aber zehn Seiten über diese komplexe Materie zu lesen, ist für viele Bürgerinnen und Bürger schon schwierig.

Die Aufklärungsarbeit könnte besser sein und auch inhaltliche Interventionen etwa bei „Basel III“ oder den G-20-Verhandlungen müssen viel öfter passieren und regelmäßiger stattfinden. Ich habe den Eindruck, attac interveniert zu sporadisch, und wenn es zu Aktionen kommt dann nur mit zu schwachen Protestmitteln. Trotz der etwa 28.000 Mitglieder ist attac kein „Player“ in der Diskussion um die Bewältigung der Krise. Dazu kommt, dass attac von den Medien und der Öffentlichkeit nur als Akteur am Rande wahrgenommen wird.

 

GWR: Muss sich attac dann nicht auch die Frage stellen, ob die aktuelle Arbeit, insbesondere die Vermittlung von Inhalten – auch über die Medien – geändert werden muss?

 

Peter Grottian: Ja. Ich gehöre zu den Leuten bei attac, die für eine Zuspit­zung der Protestmittel eintritt, um so auch mehr in die Öffentlichkeit zu drängen. Banken müssen im Rahmen von Aktionen besetzt werden, es muss Proteste in den Reichtums-Zonen geben. Es muss öffentlich die Frage der Umverteilung von Geld und Macht gestellt werden. Ich habe den Eindruck, dass attac eine viel zu defensive Rolle einnimmt.

 

GWR: Das haben Sie auch in der taz1 geäußert. Dort schrieben Sie: „Attac hat leider nur eine große Klappe und denkt eher daran, seinen Status der Gemeinnützigkeit zu bewahren, der durch Proteste gefährdet werden könnte, als an zivilen Ungehorsam.“ Ist attac zu brav?

 

Peter Grottian: attac fühlt sich – das sah man vor allem 2007 beim Protest gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm – immer ein wenig als Mittler zwischen den radikalen Kräften, die zivilen Ungehorsam ausüben, und Gruppen, die solche Aktionsformen nicht praktizieren. Aber attac muss meiner Meinung auch Mittel der Provokation und eben auch selbst welche des zivilen Ungehorsams nutzen, um etwas ins Rollen zu bringen.

Man darf auch den Lernprozess des Staates und der etablierten Institutionen nicht unterschätzen: die versuchen, uns am langen Arm verhungern zu lassen, und ich habe den Eindruck, dass sie das gerade auch ganz gut schaffen. Wir müssen da­gegenhalten: ziviler Ungehorsam gehört zur Demokratie dazu und muss als Bestandteil der Demokratie gesehen werden. Solche Aktionen sind nichts Schmuddeliges, sondern müssen heute aktiv genutzt werden – auch von attac

 

GWR: Ist attac, was Protest-Aktionen auf der Straße angeht, also gespalten?

 

Peter Grottian: Es gibt durchaus Demos und Aktionen, aber meine Wahrnehmung ist, dass attac bei den Aktionen zu harmlos ist. Wer so scharfe politische Kritik übt wie attac, muss auch adäquate Protestformen nutzen.

Es gibt Leute bei attac, die z.B. fürchten, dass die Organisation ihre Gemeinnützigkeit abgesprochen bekommt. Aber das ist kein Grund, nicht auch mit zivilem Ungehorsam für seine Interessen einzustehen. Man muss allerdings auch sehen, dass viele attac-Mitglieder in Aktionen des zivilen Ungehorsams nicht geübt sind. Wir haben das bei den Banken-Besetzungen 2010 gesehen – von 30 geplanten Banken wurden nur 13 besetzt. Es gibt eine Perso­nalstruktur bei attac, die in solchen Aktionen keine Erfahrungen hat – man verteilt lieber Zeitungen oder macht eine Kundgebung, statt auch mal unkonventionellere Agitationsformen zu nutzen.

 

GWR: Beim Versuch das Bankenvier­tel in Frankfurt/M. im Rahmen der „Blockupy“-Proteste 2012 zu umzingeln war attac aber dabei.

 

Peter Grottian: Die Aktion war aber nicht erfolgreich und attac wie auch bei den geplanten Protesten in diesem Jahr nur Teil eines großen Bündnisses. Das Besondere an den Protesten 2012 war, dass die Stadt Frankfurt nach langer Zeit erstmals wieder eine politische Protestaktion verboten hat – zumindest anfangs.

Später durfte wenigstens noch eine Demo stattfinden, an der auch viele Menschen teilnahmen. Das Verbot der Banken­umzinglung wiegt aber schwer. Wenn eine Stadt wie Frankfurt sich das Recht nimmt, zehntausende Demonstranten zurückzuweisen und Proteste einfach platt verbietet, ist das ein Rückfall hinter die Proteste gegen das AKW Brokdorf 1981.

Damals wollten Politiker eben­falls Proteste verbieten und wurden dann von Gerichten ge­maßregelt: der Staat müsse auch unangenehme Proteste aushalten, urteilten die Richter damals. 2012 nahm sich die Oberbür­germeisterin von Frankfurt das Recht heraus, eine unangenehme Protest-Aktion zu verbieten und kam damit weitestgehend durch. Begründet wurde das Verbot mit einer Gefahrenprog­nose, die reine Fantasie war.

Es wurden darin Gewaltexzesse heraufbeschworen und Panik verbreitet. Mit Demokratie hatte dieses Vorgehen von Polizei und Politik nichts mehr zu tun. Dass Formen des zivilen Ungehorsams Teil der Demokratie sind, haben die Verantwortlichen nicht verstanden – oder sie wollten es nicht verstehen. Nun bleibt abzuwarten, ob die Politik auch gegen die kommenden Proteste im Mai und Juni mit harter Hand vorgehen wird.

Es gibt in Frankfurt mächtige Interessen, die die Finanzmetro­pole sauber von Protesten halten wollen – auf den neuen SPD-Oberbürgermeister wird viel Druck ausgeübt, das De­monstrationsrecht einzuschränken. Wir werden versuchen, die Proteste durchzusetzen, um so eine breite Öffentlichkeit gegen die aktuelle Krisen-Politik zu erlangen.

 

GWR: Nun war der Aufschrei beim Verbot der „Blockupy“-Proteste 2012 in den Medien nicht gerade groß.

 

Peter Grottian: Das war ein Problem. Wir waren nicht auf das flächendeckende Protest-Verbot vorbereitet und hatten keinen Plan B. Deswegen ist es jetzt wichtig, einen solchen alternativen Protest-Plan vorzubereiten, um den Leuten, die protestieren wollen, eine alternative Protest-Möglichkeit anbieten zu können – es muss nicht zwangsweise die Umzingelung des Frankfurter Bankenviertels sein. Man könnte auch die Frankfurter „Fress­gaß“ als Ausdruck eines bestimmten Konsums und einer bestimmten Bankenwelt einbeziehen. Man könnte auch die Reichenviertel von Königstein, Kronberg und Bad Homburg besuchen und die persönliche, politische und berufliche Verantwortlichkeit der dort wohnenden Manager und Politiker anprangern. Es gibt durchaus Möglichkeiten für einen Plan B – man muss sie halt nur ernst nehmen und im Hinterkopf behalten. Zumal die Gefahr groß ist, dass diese Finanzmetropole Frankfurt mit ihren ökonomischen und politischen Machtprozessen erneut auf „Verbot“ drängen wird.

 

GWR: Befindet sich attac heute in einer Krise?

 

Peter Grottian: attac ist insofern in der Krise, als dass es nicht ausreichend gelingt, wirkliche Prioritäten der jeweiligen Aktivität herzustellen. Ich finde es schon wichtig, ein weites Feld unterschiedlicher Aktivitäten der politischen Aktivistinnen und Aktivisten in attac zu haben, aber es ist auch wichtig, ein oder zwei Projekte hervorzuheben und zu sagen „Das machen wir jetzt gemeinsam und mit großen und spitzen Protestmitteln“.

Es gibt bei attac meiner Ansicht nach außerdem eine Krise der Professionalität: Wenn man in der attac-Zentrale in Frankfurt anruft und kritische Informationen zur Bankenregulierung haben will, wird man Schwierigkeiten haben, kompetente Antworten zu bekommen – da gibt es auch in den eigenen Reihen ein Defizit. Es muss also sowohl nach Innen als auch nach Außen viel mehr Bildungs- und Aufklärungsarbeit geleistet werden. Der dritte Punkt warum sich attac aktuell in einer Krise befindet ist, dass nie da­rüber gesprochen wurde, wie weit Protestaktionen gehen sollen und ob man bis zum zivilen Ungehorsam gehen möchte.

Das ist attac selbst nicht klar und bei Kongressen wurde dieser Frage immer ausgewichen. Mein taz-Artikel hat nun aber eine Diskussion angestoßen.

Ich habe viel Zustimmung erhalten – es gab aber auch Kritik. Ich wollte mit dem Kommentar eine Debatte über Protestkultur bei attac vorantreiben und denke, die Debatte kommt in Gang. Ich bin gespannt.

 

Interview: Michael Schulze von Glaßer

 

Anmerkung:

 1 Grottian, Peter: „Attac hat die Hosen voll“, in: www.taz.de, 16. Februar 2013 – letzter Zugriff am 7. März 2013

 

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 378, April 2013, www.graswurzel.net