Wir sind es in den ‚westlichen’ Demokratien gewohnt, zwischen zwei komplementären Formen dieser ‚Volksherrschaft’ zu unterscheiden: zwischen der repräsentativen und der direkten Demokratie. Sie gelten als die beiden Formen zur Realisierung der so genannten Volkssouveränität. Politische Repräsentation allein erscheint als nicht ausreichend, die BürgerInnen müssen auch direkt an Entscheidungen beteiligt sein. Über das Ausmaß wird gestritten, die direkte Demokratie ist im ‚Westen’ sicherlich die weniger verbreitete Form der Demokratie, aber sie ergänzt in einer ‚guten Verfassung’ die repräsentative Form in komplementärer Weise.
Juridische Demokratie
Im Fall der Repräsentation braucht es freie Wahlen, im Fall der direkten Demokratie freie Abstimmungen. Entsprechend der Logik der Souveränität spielt die freie Entscheidung im Moment der Stimmabgabe eine wesentliche Rolle: einmal für eine Partei oder eine politische Stellvertretung, ein andermal in Bezug auf eine Sachfrage, in der in der Regel zwischen zwei Alternativen, meistens mit Ja oder Nein gestimmt werden kann. Die ausschlaggebende Verbindung, um die es mir geht, ist die zwischen Demokratie und Souveränität. Souveränität ist die Entscheidungsgewalt, sich selbst Gesetze zu geben. Sie ist als Volkssouveränität die Entscheidung derjenigen, die BürgerInnen eines Staates sind, in dessen Rahmen die selbst gesetzten Gesetze gelten sollen. Dieses Verständnis von Demokratie ist auf der politischen Ebene immer ein juridisches.
Zur politischen Repräsentation und direkten Abstimmung kommt eine dritte politische Praxis hinzu, nämlich jene des Protests, der Demonstration auf der Straße. Solche kollektiven Erhebungen der Stimmen der Einzelnen gelten in der Regel dann als politischer Akt, wenn sie sich auf die beiden ersten Formen von Demokratie beziehen und in diesem Sinn ein Ziel haben: wenn konkrete Forderungen an die politischen RepräsentantInnen gerichtet werden oder wenn eingefordert wird, mehr an deren Entscheidungen beteiligt zu sein, angehört zu werden und mitzubestimmen. Zudem müssen sich in diesem Verständnis Bewegungen so organisieren, dass sie selbst RepräsentantInnen bestimmen, die als AnsprechpartnerInnen für Politik und Medien fungieren und mit denen in diesem Sinn ein Aushandlungsprozess stattfinden kann.
Kunstform und Anarchie
Eine solche Position vertritt der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck vor seiner Wahl in dieses höchste Staatsamt in Bezug auf die Occupy-Bewegungen, denen er abspricht, politisch zu agieren. Er nennt sie eine „Kunstform“, die „Darstellung einer empörten Seele“: Ästhetik statt Politik. Für diese depolitisierende Rhetorik wird das nicht nur in dieser Frage konservative Staatsoberhaupt sogar von einigen wenigen Mitgliedern und Anhängern jener Oppositionsparteien kritisiert, als deren Wunschkandidat er seit langem gilt. Vor allem diese Position zu Occupy wird in den medialen Vordergrund gerückt, um Gauck als einen umstrittenen Kandidaten darzustellen. Doch Gauck hat keine ungewöhnliche und nicht einfach eine konservative Meinung zu den Besetzungsbewegungen, er spricht das aus, was trotz vieler positiver Reaktionen auf Occupy über ideologische Grenzen hinweg hegemonial ist. Gauck befindet sich in guter Gesellschaft mit vielen linken Intellektuellen und AktivistInnen.
So berichtet die Journalistin Sarah Leonard in den auch für ein deutschsprachiges Publikum zugänglich gemachten Texten und Aufzeichnungen aus der Zeitung Occupy! An OWS-Inspired Gazette von einer Podiumsdiskussion im New Yorker Buchladen Bluestockings Mitte Oktober 2011, bei der es zu einem „großen Showdown zwischen Anarchisten und Sozialisten“ gekommen sei.[1] Die erste Fraktion, vertreten von JournalistInnen der Zeitschrift Jacobin, hätte die Besetzungsbewegung affirmiert, so Leonard, und von „befreiten Subjektivitäten“ gesprochen. Ihre sozialistischen Antipoden, zu denen auch die Politikwissenschafterin Jodi Dean gehörte, hielten sich mit Kritik an der Bewegung nicht zurück und beklagten in der Logik der juridischen repräsentativen Demokratie mangelnde Zielsetzungen, eine nicht genügende politische Organisierung und das vollständige Fehlen der Bereitschaft, mit staatlichen Institutionen zusammenzuarbeiten. Leonard fasst ihre Eindrücke von der Podiumsdiskussion schließlich folgendermaßen zusammen: „Im Moment scheint die Occupy-Bewegung vor allem Anarchisten zu begeistern, während Menschen, die tatsächlich wissen, wie man eine politische Kampagne organisiert, eher skeptisch sind, was die Zukunftsaussichten anbelangt.“[2] Diese die Occupy-Bewegung depolitisierende und als naiv-anarchistisch diffamierende Meinung ist zwar in dem Buch nicht dominant, aber sie steht für repräsentationistische Denkweisen in der Linken.
Präsentische Demokratie
AktivistInnen aus den unterschiedlichen Occupy-Bewegungen bezeichnen ihre politischen Praxen immer wieder als „direkte Demokratie“. In der spanischen 15-M Bewegung, die sich vor einem Jahr auf der Puerta del Sol in Madrid gebildet hat, wird der Begriff der „realen Demokratie“ benutzt, der in dem Slogan ¡Democracia real ya! am prominentesten zum Ausdruck kommt. Die Demokratie ist real weniger im Sinne der einzig wahren, der richtigen Demokratie, sondern in Verbindung mit dem spanischen Wort ya findet sie tatsächlich und materiell bereits in diesem Moment statt, vor allem in der Praxis der Versammlungen der acampadas. Es handelt sich weniger um eine Direktdemokratie, in der die BürgerInnen an den politischen Entscheidungen beteiligt werden als um ein neues altes Verständnis von Demokratie, das ich als präsentische Demokratie bezeichnet habe.[3]
Statt die politischen Praxen der Occupy-Bewegungen in die komplementäre Demokratieform zur repräsentativen Demokratie, in die direkte Demokratie einzuschreiben, möchte ich eine Sichtweise eröffnen, mit der die reale, die präsentische Demokratie als ein epistemischer und politischer Exodus aus der hegemonialen juridischen Binarität der Demokratie verstanden werden kann. Diese politischen Praxen sind deshalb nicht-repräsentationistisch, weil sie keiner juridischen Logik entsprechen und damit zugleich mit der modernen Logik der Souveränität brechen.
Formen von Demokratie lassen sich unter anderem deshalb als präsentisch bezeichnen, weil sie so lange andauern, solange sie praktiziert werden. Wird Demokratie praktiziert, kann sie nicht delegiert werden, sie überdauert nicht die Absenz der Teilnehmenden durch Repräsentation. Daraus ist nicht umgekehrt der Schluss zu ziehen, dass bei präsentischen demokratischen Praxen alle Teilnehmenden physisch an einem Ort sein müssen.
Gefährliche demokratische Praktiken
Friedrich Balke unterstreicht in seiner umfangreichen Studie zu Souveränität, dass die praktizierte Demokratie im antiken Griechenland ihrer theoretischen Einordnung voranging.[4] Diese Form der Demokratie ist keine Umsetzung eines zuvor konzipierten Ideals politischer Verfasstheit einer Gemeinschaft. Im Gegenteil: Die Definitionen von Demokratie, die wir seit Platon und Aristoteles kennen, sind bereits die Bändigung einer Praktik, die nicht nur den antiken Philosophen als ausgesprochen unvernünftig und gefährlich erschien. Aristoteles schreibt in seinem Buch Politik: In „solchen Demokratien, in denen das Gesetz herrscht, kommt kein Demagog auf, sondern die Tüchtigsten unter den Bürgern sind die Stimmführer, wo aber die Gesetze nicht entscheiden, da stehen Demagogen auf.“ Die Logik der Repräsentation löst sich auf und das „Volk wird Alleinherrscher [monarchos], wenn auch ein aus vielen einzelnen zusammengesetzter“[5]. Wenn die Vielen sich Zusammensetzenden regieren, ist das für Aristoteles keine wirkliche Demokratie mehr, sondern eher eine Art Monarchie. Die Tüchtigen, die er als beste Repräsentanten und Stimmführer nennt, mussten offenbar mit einer enormen Gefahrenrhetorik in ihrer Position abgesichert werden.
Das ‚Volk’ und die Beliebigen
Man muss sich von dem Verständnis trennen, dass in der Demokratie das ‚Volk’ an einem bestimmten Ort oder auf eine bestimmte Weise verkörpert werden muss. Weder die Verfassung oder das einzelne Gesetz, noch die Repräsentation oder ein institutioneller Ort sind in der Lage, den demokratischen Prozess zu erfassen, um den es geht. All diese Formen der Verkörperung des ‚Volkes’ reduzieren und rastern das Praktizieren von Demokratie. Der demokratische Wille ist nicht repräsentierbar, er ist in einer juridischen institutionalisierten Macht nicht zu verkörpern – weder als gesetzgebende konstituierende Gewalt noch als konstituierte Gewalt des Gesetzes oder der Repräsentation. Das Praktizieren der Demokratie schießt stets über die juridische Logik hinaus und entgeht ihr.
Der Grund dafür ist nicht, dass Repräsentation nichts, für was sie steht, abbilden kann und deshalb immer scheitern muss. Das ‚Volk’ ist kein Abbild, sondern ein Effekt von Repräsentation, Repräsentation produziert das Repräsentierte zuallererst – darauf verweist vor allem die feministische Theorie seit einigen Dekaden. Wenn Repräsentation nicht von den Dingen zu trennen ist, die sie darstellt, heißt das keineswegs, dass es kein Jenseits der Repräsentation gibt. Vielmehr bedeutet die repräsentationistische Idee des ‚Volkes’, dass gerade in der Frage der Demokratie wieder eine Trennung eingeführt werden muss, eine Trennung zwischen den beliebigen Vielen und dem einen repräsentierten demos. Es geht um eine Spaltung, um eine Sezession, die die Demokratie aus ihrer juridischen Umklammerung löst und von der Idee der Souveränität des demos trennt.
Im antiken Griechenland konnte jeder beliebige Bürger, der an den Auseinandersetzungen in den Versammlungen teilnehmen wollte, sprechen und damit riskieren, dass sein Argument, seine Äußerungen von den Versammelten nicht angenommen wurden. Zu der Unvorhersehbarkeit der sich an Auseinandersetzungen und Konflikten beteiligenden Bürger kam ein weiteres aleatorisches Verfahren innerhalb der Versammlungen. Jede Person, die sprechen wollte, musste eine Nummer ziehen und das Los entschied die Reihenfolge der Sprechenden – eine aleatorische Praxis, die für die Versammlungen auf dem Athener Syntagma-Platz im Frühsommer 2011 wieder eingeführt wurde. Diese radikale Kontingenz und Unbestimmtheit widerspricht allen hegemonialen abendländischen Konzeptionen von Vernunft, gesellschaftlicher Verfasstheit und der Aushandlung einer juridischen Ordnung. Die Wahrnehmung eines Gegensatzes entspringt einer grundlegenden Angst vor Kontingenz, einer Bedrohung, die die politische Theorie mit großem Elan am Leben erhält und so deren Hegemonie stabilisiert.
Den demos kontingent, unbestimmbar zu lassen, würde allerdings die gesamte Idee der Volkssouveränität ins Wanken bringen, eine Idee, die seit Jahrhunderten so vehement verteidigt wird, dass die Strategien der Korrektur in den Übersetzungen nicht mehr wahrgenommen werden. Für die ins Deutsche übertragenen Texte, die sich mit der römischen Antike befassen – sowohl die Texte von Titus Livius, dem römischen Historiographen aus dem 1. Jahrhundert v.Z., als auch beispielsweise der Discorsi von Machavelli, in denen er Livius einer Relektüre unterzieht –, wird für das lateinische Wort plebes ‚Volk’ übersetzt und nicht durchgehend Plebejer oder Plebs. Livius hingegen verwendet die Bezeichnung populus nur, wenn er sowohl die patrizischen als auch die plebejischen Männer meint. Dieser populus umfasste auch bei Livius nie all jene, die in Rom lebten, sondern impliziert gravierende Ausschlüsse: die freien Frauen und die SklavInnen durften nicht dabei sein, wenn sich der populus versammelte. Für die Plebejer hingegen verwendet Livius alternativ den lateinischen Begriff multitudo, Menge, die Vielen und damit auch die Beliebigen.
Exodus
Wenn sich die Beliebigen wie in den Besetzungsbewegungen in den General Assemblies oder den Asambleas versammeln und sich darüber austauschen und verständigen, wie ihre politischen, ökonomischen, sozialen und rechtlichen Situationen aussehen und gemeinsam nicht nur diskutieren, wie ein anderes als das gegenwärtige Zusammenleben möglich sein kann, sondern in den Camps und den Versammlungen zugleich neue Lebensformen erfinden und praktizieren, dann ist dies nicht nur das gegenwärtige Beispiel für eine präsentische Demokratie. Die Besetzungsbewegungen bedeuten einen Exodus[6] aus den beiden vorgegebenen Alternativen zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, weil sie nicht-juridisch agieren und Demokratie präsentisch praktizieren. Das ist nichts weniger als ein Bruch mit der bestehenden Ordnung der ‚westlichen’ Demokratie. Der Exodus manifestiert sich auf dem zentralen öffentlichen Platz, in der Versammlung der Beliebigen und in dem Praktizieren neuer Lebensformen. Diese präsentische Bewegung ist Selbstorganisierung und Instituierung, eine demokratische konstituierende Macht, die nicht die alten Kämpfe um die Übernahme der Macht wiederholen will, sondern sich der juridischen Logik von Repräsentation und Souveränität zu entbinden sucht.
Isabell Lorey ist Politikwissenschafterin und lebt in Berlin.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Frühjahr 2012, „dass etwas geschieht“.
[1] Carla Blumenkranz u.a (Hg.): OCCUPY! Die ersten Wochen in New York. Eine Dokumentation. Berlin 2011, S. 24.
[2] Ebd.
[3] Vgl. Isabell Lorey: „Non-representationist, Presentist Democracy“, übers. v. Aileen Derieg, in: transversal: “occupy and assemble∞”, Oktober 2011, http://eipcp.net/transversal/1011/lorey/en.
[4] Vgl. Friedrich Balke: Figuren der Souveränität. Paderborn 2009, S. 133.
[5] Aristoteles: Politik. Übers. v. Franz Susemihl. Reinbek bei Hamburg 1994, 1292 a, S. 186.
[6] Zum Begriff des Exodus vgl. Isabell Lorey: Versuch, das Plebejische zu denken. Exodus und Konstituierung als Kritik, in: transversal: „The Art of Critique“, August 2008, http://eipcp.net/transversal/0808/lorey/de; Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich 2011.