Wirtschaftwachstum, Modernisierung und Gewerkschaftsreform in der VR China

Zivilgesellschaft von Oben und Unten

 

Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua meldete im September dieses Jahres, 317 000 Fälle von „Arbeitsstreitigkeiten“ seien 2009 vor chinesischen Gerichten verhandelt worden. Nun verhält es sich mit dieser Zahl so wie mit scheinbar allen Zahlen, die mit der VR China in Verbindung gebracht werden: Sie erscheint recht hoch, hat sich in einem Zeit­raum von zwei Jahren mehr als verdoppelt und kann einerseits als Ausdruck der Un­zu­friedenheit chinesischer Arbeiter/innen ge­wer­tet werden oder auch als Beleg dafür, dass das 2007 erlassene Gesetz zu Schlichtung und Schiedsverfahren in Arbeitssachen ein voller Erfolg ist und die Bevölkerung ein neues Rechtsbewusstsein erlangt hat.

Diese beiden Aussagen widersprechen sich nicht, werden jedoch selten in einem Atemzug genannt, da der Fokus der China-Bericht­er­stattung in Deutschland auf der Bestätigung bekannter Vorurteile liegt1 und nicht auf der Beschreibung eines langwierigen und in einigen Bereichen neuartigen Entwicklungs­pro­zesses, der Fortschritt wie Rückschritt kennt.

Es ist also keine leichte Aufgabe, das „Ex­periment“ China einzuordnen und zu bewerten, und so ist es kein Wunder, dass Marxisten zu unterschiedlichen Einschätzungen gelangen, die von einem fortschreitenden Aufbau des Sozialismus (Berthold), Bewahrung nationaler Souveränität als Grundlage einer offenen Entwicklung (Peters) bis hin zur vollständigen Aufgabe des Sozialismus (Hart-Lan­ds­berg / Burkett)2 in China reichen.

Unabhängig davon muss jedoch in jedem Fall zur Kenntnis genommen werden, dass im Zeitraum von 1978 (Beginn der Reform- und Öffnungspolitik) bis zum Jahr 2009 die Zahl der von absoluter Armut betroffenen Chine­sen von 250 Millionen auf 35,79 Millionen zurückgedrängt werden konnte.3 Die Sen­kung der relativen Armut scheint sich gleichzeitig ein weitaus langwierigeres Problem zu erweisen. Bisher hat das jährliche Wirtschafts­wachstum der VR China von etwa 10 % zu einem Ungleichgewicht zwischen den Regio­nen, zwischen Stadt und Land und zu einem generellen Ungleichgewicht bei den Ein­kommen geführt, das so nicht aufrecht erhalten werden kann, wie Wen Jiabao bei einem Online-Chat der chinesischen Nachrichten­agentur Xinhua zugab.4

Neben der materiellen Unterstützung ländlicher Haushalte versucht die Zentralre­gie­rung, durch eine ganze Reihe von Maßnah­men und Reformen der wachsenden relativen Ar­mut zu begegnen. Dazu gehören neben Infra­strukturprojekten zur wirtschaftlichen Ent­wick­lung Zentral- und Westchinas u. a. die Reform der Sozialversicherungssysteme und Poli­tik des „Aufbaus neuer sozialistischer Dör­fer“ (jianshe shehuizhuyi xin nongcun) und eine nachfrageorientierte Wirt­schafts­po­litik. Die KPCh (Kommunistische Partei Chinas, Zhonguo Gongchandang) geht des Wei­teren davon aus, dass für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung ein entsprechender Überbau vorhanden sein bzw. ge­schaffen werden muss.5

 

Die nächste Stufe der Wirtschaftsreformen: Reform des politischen Systems

Seit der Propagierung der „Vier Modernisie­rungen“ (si ge xiandaihua – Landwirtschaft, Industrie, Landesverteidigung, Wissenschaft und Technik) gibt es innerhalb und außerhalb Chinas die Diskussion um die „Fünfte Mo­dernisierung“ (Rechtsstaat – Zivilgesellschaft – Demokratie). Dass der sozialen Ausdiffe­ren­­zierung eine Um- und Neuformierung von Möglichkeiten der Interessenvertretung folgen muss, wird von der Führung der KPCh nicht bestritten.6 Die Frage ist allerdings, wie und mit welchem Ziel diese erfolgen soll und ob die bisherige – von der KPCh initiierte – Entwicklung zur Entstehung einer Zivilgesell­schaft in der Volksrepublik geführt hat. Dies hängt wiederum erheblich davon ab, was unter Zivilgesellschaft verstanden wird.

Die Anwendung eines „normativen Maxi­mal­konzeptes“ von Zivilgesellschaft auf die VR China ist fragwürdig. Nicht nur, weil es eine „sinnstiftende Klassifizierung“ der stattfindenden Veränderungsprozesse nicht zu­lässt.7 Eine Zivilgesellschaft, die wesentlich über ihre Unabhängigkeit vom Staat definiert wird, muss im chinesischen Kontext als In­strument zur Transformation bzw. An­gleichu­ng des politischen Systems der entwickelten kapitalistischen Länder begriffen werden. Die gegenwärtigen Bemühungen, in China eine „konsultative Demokratie“8 zur Stabilisie­rung der bestehenden politischen und sozialen Ordnung zu entwickeln, müssen aus dieser Perspektive kontraproduktiv erscheinen. Die Bewertung der zentralstaatlichen Bemühun­gen um eine graduelle Demokratisierung und Stabilisierung unter die Zielvorgabe der Abschaffung des politischen Systems der VR China im Sinne der Proteste von 19899 zu stellen, macht wenig Sinn; sie muss also aus den Denkmustern der Transformationsforschung gelöst werden.10 Es gilt, jenes stabilisierende Moment herauszuarbeiten, das Antonio Grams­ci als „robuste Kette von von Befest­i­gungswerken und Kasematten“ bezeichnet hat.11 In diesem Kontext ist die Einführung und Ausweitung von Dorfwahlen seit 1987, Wah­len von Belegschafts- bzw. Gewer­k­schafts­vertreter/innen in den Betrieben und die Organisierung städtischer Bewohner/in­nen in Nachbarschaftskomitees auf der untersten Verwaltungsebene zu verstehen.

Schon Anfang der 1980er Jahren wurde eine Reform des Kadersystems – also der Re­kru­tie­rung von Kadern in staatlichen Insti­tutionen, der KPCh und in den Massenor­ganisationen – vorgenommen, die die Krite­rien für die Ein­stellung und Beförderung von Kadern veränderte und so mehr und mehr fach­liche Quali­fikationen in den Vordergrund rückte.12 Ein Kern­bereich der aktuellen Be­strebungen, einen größeren Teil der Bevölke­rung aktiv in das politische System einzubeziehen, scheint mir die derzeitige Stufe der Reformierung der Massenorganisationen zu sein.

KPCh und Zentralregierung sind beim Aufbau einer dauerhaft stabilen „harmonischen“ Gesellschaft auf das Potential einer Zivilgesellschaft angewiesen, die als Pendant und nicht als Gegensatz zur politischen Gesellschaft13 fungiert. Dabei greifen sie auf die bereits bestehenden Massenorganisa­tio­nen zurück, die die Bevölkerung entlang ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihrer sozialen Zugehörigkeit zusammenfassen. Standen (und stehen) vor allem Frauenverband14 und Gewerkschaften in dem Ruf, Parteikader zweiter Klasse zu beschäftigen, so haben sie beim Übergang von der Plan- zur Markt­wirt­schaft in einigen Bereichen wichtige Funktio­nen übernommen (Aus- und Weiterbildung von Arbeits­losen, Arbeitsvermittlung, Unters­tü­tzung von Arbeiterfamilien ohne Ein­kommen z. B. nach Arbeitsunfällen, etc.). Die Gewerkschaften haben durch den von der Regierung forcierten Ausbau des Systems der Kollektivverträge zudem eine völlig neue, zentrale Funktion gerade im Bereich der Privat­wirtschaft erhalten und organisieren seit einigen Jahren gezielt Wanderarbeiter/innen, die aufgrund ihres temporären Aufenthaltsstatus bis Ende der 1990er Jahre nicht Gewerk­schafts­mitglieder werden konnten.15 Auch wenn diese Organisierung oftmals noch die Form einer „Faxgewerkschaft“ hat – d. h. eine komplette Belegschaft wird nach Verhand­lungen mit dem Management in die Gewerk­schaft aufgenommen und die Liste der Be­schäftigten an die übergeordnete Ebene des Gewerkschaftsverbandes gefaxt –, so können nun Wanderarbeiter/innen verstärkt auf die Ressourcen der ACFTU (All-China Fe­dera­­tion of Trade Unions, Zhonghua Quanguo Zonggonghui) zugreifen. Die Gewerkschaften ihrerseits sind damit konfrontiert, dass sie schnell und flächendeckend neue Strukturen auf­bauen müssen und mit Fragen in Be­rüh­rung kommen, in denen sie bisher kaum Kom­pe­tenzen hatten (z. B. Rechtsberatung, Sozial­ver­sicherungssystem, Wahlen im Be­trieb, Arbeits­konflikte). Trotz der Übergangsschwierigkeiten, die damit verbunden sind, ist die Organi­sierung der Wanderarbeiter/innen in den Pri­vat­betrieben ein wichtiger Schritt zur Ver­mit­tlung von Selbstbewusstsein, zumal sie nicht nach Herkunftsregionen erfolgt und den unsicheren Rechtsstatus des neuen Gewerk­schaftsmitglieds erkennbar beendet.

 

Legal oder egal? Besondere Lage der Wanderarbeiter/innen

Die Situation der 230 Millionen16 so genannten Wanderarbeiter/innen (Arbeiter ländlicher Herkunft, Nongminggong) kann als Grad­messer des sozialen Fortschritts in der VR China genommen werden, da sie beim Übergang von der planwirtschaftlichen Zu­weisung von Arbeitsplätzen bis hin zur Politik der Schaffung eines einheitlichen Arbeits­marktes für „Festlandchina“ (VR China ohne Macau, Hongkong und Taiwan) die größten Risiken zu schultern hatten und haben.

Ich will versuchen, an dieser Stelle einige Koordinaten zu liefern, die die soziale Situ­a­tion der Arbeiter/innen und die Reform der Gewerkschaften der ACFTU betreffen. Dies sind allerdings nur Anhaltspunkte, die je nachdem, wie die aktuelle Politik der KPCh insgesamt eingeschätzt wird, sehr unterschiedlich bewertet werden können.

Wenn wir uns die bisherigen Arbeitsver­hältnisse von ungelernten Wanderarbeiter/in­nen einmal genauer anschauen, dann gibt es eine Reihe von Faktoren, die immer wieder ge­nannt werden, die die Benachteiligung ge­genüber städtischen Arbeiter/innen verdeutlichen. Dies sind u. a.:

• kein allgemeiner Zugang zur städtischen So­zialversicherung

• kein allgemeiner Zugang zum städtischen Bildungssystem für die Kinder von Wander­ar­beiter/innen

• kaum Zugang zu dauerhaften Beschäfti­gungs­­verhältnissen (kein Arbeitsvertrag, kurz­­­fristige Beschäftigung, vorenthaltener Lohn, …)

• Grundlohn unter Mindestlohnniveau

• kein Zugang zu gewerkschaftlicher Ver­tre­tung

An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der Gesetzgeber aus seiner Sicht die meisten dieser Missstände bereits geregelt hat, und dass der formellen Angleichung eine tatsächliche folgen soll. So ist mit dem schrittweise erfolgten Aufbau eines – die Absiche­rung durch die Familie ergänzenden - Sozial­versicherungssystems in den ländlichen Ge­bieten eine teilweise Eingliederung in das bisher stark fragmentierte städtische Sozialver­sicherungssystem erfolgt, das bisher bei Ar­beits­platzwechsel eine Mitnahme von bereits erworbenen Rentenansprüchen in eine andere Provinz verhinderte.

Auch der Zugang zu städtischen Schulen wird den Kindern von Wanderarbeiter/innen nicht grundsätzlich verwehrt. Lokal können je­doch immer noch Schwierigkeiten bei der Zulassung zu öffentlichen Schulen auftreten, zumal sich Schulen seit dem Verbot von Schul­gebühren rasch auf Akquirierung zusätzlicher Finanzquellen ausgerichtet haben. Immer wich­tiger werden kostenpflichtige zusätzliche Bil­dungsangebote, die teilweise als obligatorisch betrachtet werden. Auch werden Spen­den und andere private Zuwendungen von El­tern und ehemaligen Absolventen wichtiger, sodass sich neben dem allgemeinen Zugang das Problem der Ausdifferenzierung des Bil­dungs­wesens in speziell geförderte und bei nationalen Prüfungen erfolgreiche „Schwer­punkt“-Schulen und gebührenfreie Schulen stellt.

Was die konkrete Arbeitssituation von Wanderarbeiter/innen in den Städten betrifft, so war das Inkrafttreten des AVG (Arbeits­ver­tragsgesetz) im Januar 2008 von großer Bedeutung. Zentral ist die Festlegung, dass jedem Arbeitsverhältnis ein schriftlich fixierter Arbeitsvertrag zugrunde liegen muss. Die Verantwortung dafür liegt beim Unterneh­men, sodass nun jedes faktische Arbeitsver­hältnis eindeutig unter die gesetzlichen Be­stim­­mungen fällt und Entlohnung, Arbeits­zeiten, Laufzeiten etc. deren Mindest­stan­dards nicht unterschreiten dürfen.17

Dass diese in der Praxis trotzdem immer wieder unterschritten werden, ist der Tatsache geschuldet, dass die Wanderarbeiter/innen aufgrund ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bisher kaum individuelle Möglichkeiten der Gegen­wehr hatten und kaum Institutionen zur Durchsetzung von rechtlichen Standards etabliert bzw. bestehende Institutionen mit den neuen Aufgaben nicht genügend vertraut sind. So werden Gewerkschaften im AVG explizit als Akteure zur Wahrung der rechtlich garantierten Arbeiter/innenrechte genannt, gleichzeitig sind aber die Gewerkschaften der ACFTU gerade im Privatsektor in den letzten Jahren sehr darum bemüht gewesen, Be­triebsgewerk­schaften überhaupt erst einmal zu gründen.

Die Unterstützung dieses Vorhabens durch die Zentralregierung hat zu einer raschen Ausweitung der gewerkschaftlichen Präsenz geführt.18 Dies kann jedoch nur der erste Schritt beim Aufbau von Betriebsge­werk­schaften sein, wenn diese der Forderung des Gesetzgebers „die legitimen Rechte der Ar­beiter“ zu vertreten, effektiv erfüllen sollen. Bisher fehlt es an Erfahrung, Kenntnis der Gesetzestexte und ihrer praktischen Relevanz sowie an einem erprobten Wahlverfahren, durch das Gewerkschaftsvertreter/innen auf Betriebsebene bestimmt werden. Für Ge­werk­schaftskader/innen auf Lokalebene handelt es sich ebenfalls um meist neu zu erschließendes Terrain, sodass eine Anleitung durch die ACFTU nur in Einzelfällen gegeben ist.

Mit einer Ausweitung der gewerkschaftlichen Präsenz in den Betrieben ist daher noch keine spürbare Abnahme der Fälle von Ar­beitsstreitigkeiten und vor allem kein Rück­gang von Streikaktionen verbunden. Es handelt sich laut Boy Lüthje um einen „Tri­partismus mit vier Parteien“, mit den Ge­werkschaften in der Vermittlerrolle zur nicht repräsentierten vierten Partei, den Lohna­b­hängigen (Lüthje, S. 474). Dies trifft insofern zu, als dass sich spontan organisierende Belegschaften kaum an ihre lokalen oder betrieblichen Gewerkschaftsorganisationen wenden, sondern sich eher durch Streikak­tionen oder Demonstrationen Gehör verschaffen. In jüngster Vergangenheit hat dies eine wachsende, positive Resonanz in den chinesischen Medien hervorgerufen.

Ich möchte den stattfindenden Übergang zu einer Politik der Duldung bzw. faktischen - (noch) nicht gesetzlich verankerten – Le­ga­lisierung von Streiks an einem bekannten Fallbeispiel verdeutlichen:

 

Der Streik bei Nanhai Honda

Am 17. Mai 2010 begann ein mehrwöchiger Streik bei Nanhai Honda in Foshan, Guang­dong, der im späteren Verlauf auf weitere Fabriken übergreifen sollte. Ausgelöst wurde er durch zwei Arbeiter, die sich bereits zur Kündigung entschlossen hatten und auf das Ende ihrer Vertragslaufzeit warteten, als sie die Idee einer betrieblichen Aktion unter Kollegen ins Gespräch brachten. Gefordert wurde dann eine substanzielle Lohnerhöhung und eine Verbesserung der Arbeitsbe­din­gungen für Studierende, die ein ausgedehntes Vollzeitpraktikum bei Honda absolvieren und 1/3 der Arbeitskräfte in der Fabrik stellen.

Chinesischen Medienberichten zufolge19 war die Streikaktion spontan, die Mehrheit der Streikenden beteiligte sich erst im weiteren Verlauf der Verhandlungen mit Unter­neh­mens­leitung und Betriebsgewerkschaft aktiv am Arbeitskampf. Es scheint in der Beleg­schaft von Nanhai Honda bis dato keine nennenswerten Streikerfahrungen gegeben zu haben. Über Tan Zhiqing, einem der beiden Anführer des Streiks, wird lediglich berichtet, er habe Gedichte Mao Zedongs gelesen und komme aus dessen Heimatprovinz. Ein Hin­weis auf den Ursprung seines rebellischen Cha­rakters.

Am Verlauf der Streikaktionen und Ver­handlungen mit der Unternehmensleitung bei Nanhai Honda lassen sich drei Punkte festmachen, die in China eine gewisse Allgemein­gültigkeit besitzen:

1. Die Streikenden hatten keine Streiker­fah­rung

2. Die Betriebsgewerkschaft hatte keine Streikerfahrung bzw. keine Erfahrung im Um­gang mit Streikenden

3. Die Unternehmensleitung hatte keine Erfahrung im Umgang mit Streikenden

Laut Darstellung in der China News Weekly (Zhongguo Xinwen Zhoukan) war die überwiegende Mehrheit der Belegschaft bei Nanhai Honda gewerkschaftlich organisiert. Der Beitritt wurde von Mitgliedern auf Nachfrage allerdings mit den materiellen Vor­teilen einer Mitgliedschaft begründet, die die zu zahlenden Beiträge bei weitem überstiegen würden. Bis zum Streik ist die Betriebs­ge­werk­schaft demnach insgesamt als reine Wohl­fahrtsor­gani­sation wahrgenommen worden, sodass die Unterstützung der Unterneh­mensleitung durch Gewerkschaftsvertreter die Streikenden überraschte. Das Auftreten der Gewerkschafts­vertreter bei den Verhand­lungen sowie der missglückte Versuch, die Streikenden – unter Zuhilfenahme einer von der lokalen Gewerk­schaft gerufenen Gruppe von Männern, die nicht zur Belegschaft gehörten – mit Gewalt zur Wiederaufnahme der Pro­duktion zu bewegen, führte dazu, dass sich die Streikenden mit der Rolle der Gewerk­schaft auseinandersetzten. Die Forderung nach „Umstruk­turierung der Gewerkschaft“ wurde nicht nur zu einer zentralen Forderung der Streikenden, sie beriefen sich darüber hinaus explizit auf entsprechende Regelungen im Gewerkschafts­gesetz, welches als Lektüre in der Belegschaft die Runde machte.20 Die Gewerkschaft nahm für sich selbst in An­spruch, bei den Ver­handlungen eine neutrale Vermittlerrolle eingenommen zu haben. Von China News Weekly befragt, warum sich die Gewerkschaft nicht für die Lohn­for­derungen der Streikenden einsetze, sagte ein Gewerk­schaftsvertreter auf kommunaler Ebene: „Es handelt sich hierbei um eine Angelegenheit zwischen Arbeitern und Unternehmen. Es wäre unangebracht, wenn die Gewerkschaft sich einmischen würde.“21

Der Streik bei Nanhai Honda endete er­folgreich: Eine Lohnerhöhung von 24 % und die Reorganisierung der Betriebsgewerk­schaft auf der Grundlage von Wahlen wurde zugesichert, u. a. deshalb, weil die Forde­run­gen der Streikenden überregional mediales Aufsehen erregten und letztendlich auch von der ACFTU Guangdong (Provinzebene) als legitim betrachtet wurden. Dafür war es wichtig, dass sich die Streikenden immer wieder auf geltendes chinesisches Recht berufen haben und ihre Aktionen mit der Forderung nach Einhaltung gesetzlicher Standards legitimierten. Die lokale Gewerkschaftsführung hingegen musste sich für ihr Verhalten offiziell entschuldigen, ebenfalls eine Forderung der Streikenden, der zumindest formal nachgekommen wurde.

Weitere von China Labor News Translation (CLNT) dokumentierte Fälle – bei Ole Wolff (Yantai), Nanchang Bayi-Filiale von Wal-Mart und Tonghuasheng in Beijing – belegen, dass der Aufbau von Betriebsgewerkschaften durch die Belegschaft von der ACFTU auf überregionaler Ebene durchaus unterstützt wird, während die lokalen Gliederungen sich mit der Gründung selbstständig arbeitender, konfliktfähiger Betriebsgewerkschaften schwer tun. Beides ist verständlich, wenn berücksichtigt wird, dass einem lokalen, im Normalfall streik-unerfahrenen Gewerkschaftskader so­wohl bei der Organisierung der Belegschaften als auch bei der Erfüllung lokaler Wirtschafts­ziele an der Kooperation der ausländischen und inländischen Investoren bzw. des Be­triebs­­managements gelegen sein muss.

Die Gewerkschaften der ACFTU auf na­tionaler und auf Provinzebene sind wiederum aktiv in die Umsetzung der Reformpolitik im Rahmen des Aufbaus einer „harmonischen Gesellschaft“ und des „sozialistischen Rechts­staats“ eingebunden. Für die Umsetzung brau­­chen sie die Unterstützung der Bele­g­­­­schaften und müssen mittelfristig auch mobilisierungsfähig werden.

 

Nationale Reformprojekte brauchen konfliktfähige Gewerkschaften

Mit dem 12. Fünf-Jahres-Plan (2011-2015) hat die chinesische Regierung verdeutlicht, wie sie ein weiteres rasches Wirtschaftswachstum erreichen will. Ich will an dieser Stelle zwei in diesem Zusammenhang wichtige Aspekte hervorheben:

1. eine stärkere Orientierung auf die Bin­nen­nachfrage

2. das Ziel, die Schere zwischen Arm und Reich schrittweise zu schließen22

Beide bedürfen der Fortsetzung der Re­gierungsmaßnahmen (Anhebung des Min­dest­lohns, Gesetzesreform, Konjunkturpro­gramme, Ausweitung der Sozialversicherung usw.) der letzten Jahre, die mit einer Orien­tierung auf eine wirtschaftliche Entwicklung Westchinas und der stetigen Verbesserung der Lebensbedingungen in den ländlichen Gebie­ten, zu einer Verknappung von ungelernten Arbeitskräften in den Wirtschaftszentren im Südosten des Landes geführt hat. Der erhebliche Anstieg der Reallöhne um 17,3 % im Jahr 2009 im Vergleich zum Vorjahr ist also sowohl auf eine wachsende Streikbereitschaft der Wanderarbeiter/innen als auch auf die Maß­nahmen der Regierung zurückzuführen.23

Die Selbstmorde von Arbeitern bei Fox­conn24 zeigen allerdings, dass die Höhe der Löhne nicht das einzige Problem in den riesigen Industriegebieten ist. Denn die relativ guten Löhne bei Foxconn kommen oft nur durch Arbeitszeiten zustande, die weit über dem liegen, was im Arbeitsvertrag vereinbart und gesetzlich zulässig ist.25 Konfliktfähige Be­triebsgewerkschaften, die sich „bottom-up“, also aus den Belegschaften heraus „von unten“ und teilweise gegen den Widerstand der Unternehmensleitung gegründet haben, sind erstens Ausdruck dieser Missstände und können zweitens zu deren Beseitigung beitragen. Dass chinesische Medien über diese Betriebsgewerkschaften berichten, ist sicherlich kein Zufall und ein Signal an die lokalen Gewerkschaften, sich um die Organisierung kämpferischer Belegschaften aktiv zu bemühen. Die Berichterstattung über Streikak­tionen in den chinesischen Medien vermitteln ein Bild sich verändernder Gewerkschaften, die gesetzlich dazu angehalten sind, die „legitimen Interessen der Arbeiter“ zu vertreten und zu wahren. Das kann Arbeiter/innen ermutigen, die sich eine konfliktfähigere Gewerkschaft wünschen.

Und auch innerhalb der chinesischen Ge­werk­schaften scheint sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass sich das (Selbst-)Bild wandeln muss: So machte eine Vertreterin der ACFTU die gewerkschaftlichen Basisorgani­sa­tionen öffentlich für die wachsende Anzahl von Streiks und Arbeitsrechtsklagen vor chinesischen Gerichten verantwortlich. Dies sei ein Zeichen ihrer Ineffizienz, Gewerkschaften sollten sich bei Lohnverhandlungen nicht nur als Vermittler verstehen.24 

Ob es allerdings gelingt, eine Organisie­rung von Belegschaften so zu gestalten, dass diese sich für die Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen in ihrem Interesse einsetzen, wird davon abhängen, ob die Gewerkschaften der ACFTU in der Lage sind, kämpferische Gewerkschafter/innen dauerhaft in ihre Reihe zu integrieren. Für die flächendeckende Umsetzung von Reform­vor­haben der Zentralregierung gewinnt die aktive Unterstützung der Gewerkschaftsor­gani­sationen in den Betrieben an Bedeutung. Streikende, deren Forderungen sich in diesem Rahmen bewegen, dürfen also auch in Zukunft auf eine wohlwollende Berichter­stattung in chinesischen Medien und auf Billi­gung ihres Vorgehens von Seiten Pekings hoffen; selbst dann, wenn sie vor Ort nicht die Unterstützung der Gewerkschaft haben.

 

 

1          Vgl.: Heberer, 2010, S. 263f.

2          Die These einer (turbo-)kapitalistischen Entwicklung dürfte die meisten Anhänger/innen haben. Hart-Landsberg und Burkett versuchen ihre These, die VR China sei kapitalistisch, anhand von Wirtschaftsdaten nach­zuweisen.  

3          Ministry of Foreign Affairs of the People‘s Republic of China – United Nation System in China (Hg.): China‘s Pro­gress towards the Millenium Development Goals – 2010 Report, S. 10.

4          Online Chat mit Wen Jiabao vom 28.2.09. Auszüge dieses Chats sind unter http://news.xinhuanet.com/english/2009-02/28/content_10918111.htm abrufbar.

5          Bericht vom 5. Plenum des 17. ZK der KPCh.

6          „Although China‘s political system reform avoided drastic political and social unrest, there are many accumulated problems, as the existing political system becomes increasingly unsuited to our economic development.” Zhou Tianyong, (Forschungsabteilung der Parteischule beim ZK der KPCh) in einem Interview mit der Global Times, Ausgabe vom 22.9.09)

8          „China‘s political reform on the right road“ Interview mit Fang Ning, Leiter des Instituts für Politikwissenschaft an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, erschienen in: Global Times vom 30.12.09.

9          Slavoj Žižek äußerte in Bezug auf die Perspektive eines Erfolges der Proteste am Tian‘anmen 1989: „Imagine the Communists in power giving way to the demonstrators. I claim - it‘s very sad things to say, but if Tiananmen demonstrations were to succeed, like the Communist Party allowing for true democratic reforms and so on, it would have been probably a chaos in China.“ Slavoj Žižek im Ge­spräch mit Amy Goodman (Democracy Now), abrufbar unter http://www.democracynow.org/2008/3/11/everybody_in_the_world_except_us.

10        Vgl.: Chandhoke, 1995, S. 27 ff.

11        Gramsci, Antonio: Zu Politik, Geschichte und Kultur, Leipzig 1980, S.273.

12        Zu den Veränderungen im Kadersystem im Übergang von der Kulturrevolution zur Reform- und Öffnungsperiode siehe Manion, Melanie: The Cadre Management System, Post-Mao: The Appointment, Promotion, Transfer and Removal and State Leaders, in: The China Quarterly, No. 102 (June 1985), S. 203-233.

13        Neubert, 2001, S.62.

14        Vgl.: Lipinsky, Astrid: Der chinesische Frauenverband, Bonn 2006.

15        Was nichts anderes bedeutet, als dass diese Arbeitskräfte in der Stadt dauerhaft registriert sind, ihr hukou also städtisch ist.

16        Nach Angaben der ACFTU arbeiteten 2008 insgesamt 230 Millionen Wanderarbeiter/innen ländlicher Herkunft, davon 130 Millionen in städtischen Gebieten. Siehe: Chi­nese Trade Unions (Zhongguo Gonghui), June 2009, S. 6.  

17        Zu weiteren Neuerungen des AVG, siehe: Mörking, Lars: The New Labor Contract Law – Who Benefits?, in: China Today, No.11/2007, S. 32-34.

18        Nach Angaben der ACFTU waren Ende 2009 226 Mil­lionen Arbeiter/innen in 1,84 Millionen Grundein­heiten organisiert.

19        Eine Gesamtdarstellung der Ereignisse in Foshan und Dokumentation ausgewählter Berichte aus chinesischen Medien ist unter http://www.clntranslations.org/article/56/ honda abrufbar.

20        Der Artikel der China News Weekly ist in englischer Über­setzung unter http://www.clntranslations.org/file_ download/116 abrufbar.

21        China News Weekly vom 2.6.2010, abrufbar unter http://www.clntranslations.org/file_download/115, eigene Übers. aus dem Englischen.

22        „Way forward in next five years”, aus: People‘s Daily Online vom 5.11.2010.

23        „The next China”, aus: The Economist July 31st, S. 58.

24        Eine Übersicht online verfügbarer Artikel zum Thema Foxconn ist unter http://labournet.de/internationales/cn/ foxconnindex.html abrufbar.

25        Breaking or Taking the Law – Studie des Dagongzhe Wor­kers Center zur Umsetzung des Arbeitsver­trags­gesetzes in China, aus: Redaktion express u.a., Bausstelle China, Ränke­schmiede No.17 (November 2008), S. 61-65.

26        „Bigger role for trade unions to ‘reduce strikes‘“, erschienen in: China Daily vom 10.9.2010.

 

Literatur

Bergmann, Theodor: Rotes China im 21. Jahrhundert, Ham­burg 2004.

Berthold, Rolf: Chinas Weg – 60 Jahre Volksrepublik, Berlin 2009.

Chandhoke, Neera: State and Civil Society – Explorations in Political Theory, New Delhi 1995.

Göbel, Christian / Heberer, Thomas (Hg.): Zivilgesell­schaf­t­liche Entwicklungen in China, Duisburger Arbeitspapiere Osta­sienwissenschaften No.64/2004.

Hart-Landsberg, Martin / Burkett, Paul: China and Socialism – Market Reforms and Class Struggle, New York 2005.

Heberer, Thomas, Chinabild und Medienberichterstattung aus politikwissenschaftlicher Perspektive, in: Richter/Gebauer, Schriften zu Bildung und Kultur, Band 5, Berlin 2010, S. 259-288.

Lüthje, Boy: Arbeitsbeziehungen in China in der Wirt­schafts­krise: „Tripartismus mit vier Parteien“?, in: WSI Mitteilungen 9/2010, S. 473-479.

Neubert, Harald: Antonio Gramsci: Hegemonie – Zivilge­sell­schaft – Partei, Hamburg 2001.

Peters, Helmut: Auf der Suche nach der Furt – Die VR China aus dem Mittelalter zum Sozialismus, Essen 2009.

Redaktion express u.a.: Baustelle China – Eindrücke und Fra­gen einer Studien- und Begegnungsreise, Ränkeschmiede No. 17, November 2008.