„Die Geschlechtsbeschneidung zu tolerieren ist Rassismus"

Ein Interview mit der Autorin und Menschenrechtsaktivistin Waris Dirie („Wüstenblume")

Waris Dirie (* 1965 in Somalia) ist Bestsellerautorin (Die Wüstenblume; Nomadentochter; Brief an meine Mutter; Schmerzenskinder) und Menschenrechtsaktivistin im Kampf gegen die Beschneidung von Frauen und Mädchen. 2002 gründete das Ex-Topmodel die Waris Dirie Foundation. Am 21.09.2010, dem neuen afrikanischen Friedenstag, hat sie ihre Projekte in Afrika präsentiert. Ihr fünftes Buch Schwarze Frau, weißes Land erschien im Mai 2010 im Droemerverlag. Sigrid Lehmann-Wacker hat die Frauenrechtlerin für die Graswurzelrevolution interviewt. (GWR-Red.)

Graswurzelrevolution (GWR): Frau Dirie, der Film Wüstenblume, der auf ihrer autobiografischen Erzählung basiert und ein Weltbestseller wurde, feierte im Juni 2010 seine Afrika-Premiere auf dem Internationalen Film Festival in Ad­dis Abeba. Wie ist er in Afrika aufgenommen worden?

Waris Dirie: Er ist sehr gut angekommen und hat eine öffentliche Diskussion in den äthiopischen Medien ausgelöst. Jeder Straßenhändler verkauft nun Raubkopien des Filmes. Man sieht die Kopien an je­der Straßenecke. Die Afrikanische Union ist an mich herangetreten, um den Film in ganz Afrika zu zeigen.

 

GWR: Sie sagten, Sie könnten Afrika nicht von Europa aus verändern. Zurzeit sind Sie in Äthio­pien. Wie geht es ihnen dort?

 

Waris Dirie: Ich habe in den letzten Tagen sehr viele interessante Gespräche mit Künstlern, Journalisten und Politikern aus ganz Afrika geführt, die zu einer Friedenskonferenz nach Addis Abeba gekommen sind. Sie alle wollen mich im Kampf gegen FGM (female genitale mutilation) unterstützen und finden, dass es höchste Zeit ist, dieses Thema in ganz Afrika auf die Agenda zu setzen.

 

GWR: Ihr neues Buch „Schwarze Frau, weißes Land" handelt von Ihrem widersprüchlichen Leben in Ihrer neuen weißen Heimat. Auf der einen Seite werden Sie als Star gefeiert, auf der anderen Seite als Fremde behandelt. Einmal wies Sie ein Taxifahrer wegen Ihrer Hautfarbe ab, Männer betrachteten Sie als Freiwild...

 

Waris Dirie: Rassismus gibt es überall, natürlich auch in Afrika. Meine Kritik in meinem neuen Buch richtet sich aber nicht so sehr gegen rassistische Handlungen von Einzelnen in Europa, sondern dagegen, wie Politiker und viele NGOs das wirtschaftliche Wachstum Afrikas behindern.

 

GWR: Einige Rezensionen zu ihrem neuen Buch sind bereits erschienen. Besonders in Frauenzeitun­gen wurde wieder vor allem die Story von dem Nomadenmäd­chen, das zum Supermodel avancierte, breit getreten, Ihre politischen Vorstellungen zu Afrika und Ihr Kampf für Frauenrechte fand dagegen kaum Erwähnung. Überrascht Sie das?

 

Waris Dirie: Natürlich ist das ein Problem für mich. Ich werde immer als die Frau, die gegen weibliche Genitalverstümmelung kämpft, wahrgenommen und in vielen Interviews einfach nur dazu befragt. Es hat aber auch lange gedauert, bis man mich als Autorin und Men­schenrechtsaktivistin wahrgenommen hat und nicht nur als „Supermodel", das Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung wurde. Ich bin zäh und alles braucht seine Zeit.

 

GWR: Ihre Vorträge, Bücher und Interviews haben in den letzten Jahren vieles geändert. 14 von insgesamt 28 Staaten, in denen die Genitalverstümme­lung praktiziert wird, haben diese unter dem internationalen Druck offiziell verboten. Hat das Verbot Einfluss?

 

Waris Dirie: Nein, das ist eindeutig zu wenig! Gesetze alleine verändern die Gesellschaft nicht. Es sind noch viele Anstrengungen von Seiten der Politik, der Medien notwendig.

 

GWR: Sie kämpfen seit mehr als zwölf Jahren gegen FGM. Schätzungsweise erleiden täglich zwischen 6000 und 8000 Mädchen weltweit diese unmenschliche Prozedur. Wie kann sich eine solche Grausamkeit in so vielen Ländern über einen so langen Zeitraum - 4000 Jahre - halten?

 

Waris Dirie: Es geht ja um die sexuelle Unterdrückung der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft. Leider akzeptieren viele Frauen in Afrika dieses System, sonst würde es nicht mehr existieren.

 

GWR: 1997 ernannte Kofi Annan Sie zur UNO Sonderbot­schafterin zur Beseitigung der weiblichen Geschlechtsverstümmelung. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass Sie erst sehr stolz auf diesen Titel waren, bis Sie merkten, dass Ihr Kampf gegen FGM sich in dieser Rolle auf das Repräsentieren beschränkte. Daraufhin gründeten Sie die Waris Di­rie Foundation. Sind Sie enttäuscht von Politikern?

 

Waris Dirie: Natürlich bin ich enttäuscht von Politikern und von der UN. Es gibt bloß viele schöne Worte. Die Taten fehlen. Es wird eindeutig zu wenig gegen das weltweit größte Verbrechen gegen Frauen getan. Mit meiner Foundation habe ich in den letzten Jahren versucht, möglichst weltweit die Menschen für den Kampf gegen weibliche Genitalverstümme­lung zu sensibilisieren und ha­be natürlich auch vielen Frauen direkt geholfen. Jetzt geht es darum, die afrikanische Ge­sellschaft nachhaltig zu verändern, indem Frauen den Stellenwert in der Gesellschaft er­halten, der ihnen zusteht. Das heißt, dass all diejenigen, die Gewalt gegen Frauen ausüben, bestraft werden. Das heißt aber auch, dass Frauen ein eigenes Einkommen haben, um finanziell unabhängig zu sein.

 

GWR: Letztes Jahr lud der arabische Sender Al Jazeera Sie in Rhiz Khans Talkshow ein. Sie sprachen das erste Mal auf einem arabischen Sender zu mehr als 100 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern zu dem Tabuthema FGM. Darauf folgte ein weiteres Bildungspro­gramm über FGM auf dem Pan Arabic Youth Channel. Ist es richtig, dass viele islamische Führer Ihren Kampf gegen FGM unterstützen?

 

Waris Dirie: Es gibt immer mehr islamische Führer, die erkennen, dass weibliche Genitalverstümmelung massive negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Frauen hat. Dies reicht von der hohen Mütter- und Kindersterblichkeit bis zur Unfruchtbarkeit. Jede dritte genitalverstümmelte Frau wird durch die ständigen Infektionen unfruchtbar. Dies hat natürlich massive Konsequenzen auf die Bevölkerung der betroffenen Länder. Ein noch nicht erforschter Aspekt ist die kollektive Traumatisierung von 150 Millionen Frauen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.

 

GWR: Gibt es von Seiten der Medien und Politiker eine steigende Unterstützung gegen die weibliche Genitalverstümme­lung?

 

Waris Dirie: Ja, eindeutig.

 

GWR: Sie bestreiten vehement, dass die Beschneidung Teil einer Kultur, Tradition oder Religion sei. Sie sagen den Menschen in den westlichen Ländern: „Die Geschlechtsbe­schneidung zu tolerieren ist Rassismus! Wenn weiße Mädchen oder sogar Männer da­von betroffen wären, solch ein Verbrechen würde nicht für eine einzige Sekunde toleriert werden."

 

Waris Dirie: Es geht nicht um schwarze oder weiße Hautfarbe. FGM ist vorsätzliche, schwere Körperverletzung an Schutzbefohlenen und eine Menschenrechtsverletzung. Das sollte jeder, egal ob Schwarz oder Weiß, verstehen.

 

GWR: Sie sagten in einem Interview, der einzige Grund warum FGM existiere sei „die männliche Machtbesessenheit". Niemand redet in Afrika über dieses Tabuthema. Wissen die afrikanischen Männer über den Schmerz und die Konsequenzen für die Mädchen und Frauen nach der Verstümmelung?

 

Waris Dirie: Ich habe in den letzten Wochen zahlreiche Dörfer in Äthiopien besucht und mit Menschen über dieses Thema gesprochen. Die Männer haben keine Ahnung. Wenn man mit ihnen darüber spricht, lehnen sie Genitalverstümmelung ab. Es geht um Aufklärung und Information.

 

GWR: In einigen Ländern wie Somalia oder Djibuti sind 95% der Mädchen und Frauen genitalbeschnitten. Aber FGM wird auch in Asien, Europa, Amerika und arabischen Ländern ausgeführt. In Ihrem neuen Buch schreiben Sie, dass die Anzahl der Opfer steigen würde. Wie kommt es dazu?

 

Waris Dirie: Die Zahl steigt, weil immer neue Länder, in denen Genitalverstümmelung praktiziert wird, dazukommen. Sei es der Irak, der Iran, Syrien, Kolumbien oder Brasilien sowie zahlreiche asiatische Staaten. Das Thema ist in allen Gesellschaften tabu und die Weltgemeinschaft tut we­nig, um Zahlen und Fakten zu recherchieren und um aufzuklären. Mit meinem Buch „Schmerzenskinder" habe ich weibliche Genitalverstümme­lung in Europa erstmals thematisiert. Ich habe mit meinem Team zwei Jahre lang in den af­rikanischen Communities in Eu­ropa zum Teil sogar undercover recherchiert, mit versteckten Mikrophonen und Kameras. Nach Erscheinen des Buches 2005 hat die Europäische Union das Thema FGM in Europa erstmals auf ihre Agenda gesetzt, da mindestens 500.000 Frauen in Europa genitalver­stümmelt sind. Die Dunkelziffer ist aber bedeutend höher.

GWR: Die American Academy of Pe­diatrics hat dieses Jahr vorgeschlagen, eine mildere Art der Beschneidung - das Kappen der Klitoris eines Mädchens in einer Arztpraxis - legal in den USA durchführen zu dürfen. Die Absicht war, die Mädchen vor der noch brutaleren Prozedur zu beschützen, die die Familien ihren Töchtern zumuten, indem sie sie zur Beschneidung nach Afrika schicken. Die Akademie hat den Vorschlag inzwischen wieder zurückgenommen...

Waris Dirie: Es hat gegen diesen Vorschlag der American Academy of Pe­diatrics einen Sturm der Entrüstung gegeben. Zu Recht. Ärzte sind doch dazu da, Menschen gesund zu machen bzw. durch Prävention zu schützen. Das ist einer der dümmsten Vorschläge, den ich je gehört habe, sogar die New York Times hat dagegen angeschrieben und man hat diesen schwachsinnigen Vorschlag auch sofort zurückgezogen.

 

GWR: Sie schrieben in „Schwarze Frau, weißes Land" dass Sie begeistert über das deutsche „BRAVO"-Magazin wegen seiner sexuellen Aufklärung für Jugendliche waren. In Afrika sei Sexualität ein großes Tabuthema. Nirgendwo würde dort darüber gesprochen, nicht unter Frauen, nicht in der Schule und schon gar nicht in der Familie.

 

Waris Dirie: „Bravo" macht in Deutschland den Job, den eigentlich Eltern machen sollten. Sie sorgt für die sexuelle Aufklärung der Kinder und Jugendlichen und das seit vielen Jahren. In Afrika fehlen solche Magazine und NGOs in Afrika klammern Sexualität so­wieso aus. Wie soll eine Frau über ihren Körper und ihre Sexualität lernen, wenn Sexualität komplett tabuisiert ist?

 

GWR: Sie schreiben, Sie würden Afrika lieben und Ihre Kindheit mit niemandem auf dieser Welt tauschen wollen, bis auf Ihre Beschneidung. Was lieben Sie am meisten an Afrika?

 

Waris Dirie: Afrika ist ein wunderschöner Kontinent. Man trifft trotz aller Probleme viele lebensfrohe Menschen. Die Natur ist weitgehend intakt. Viele Menschen, die einmal in Afrika waren, wollen wieder zurück. Ich lebe aber auch gerne in Europa. Als No­madin fällt es mir nicht schwer, immer zu reisen.

 

GWR: Ihre Kraft, so viel über Ihre traumatischen Erinnerungen zu sprechen ist bewundernswert. Sind Sie glücklich mit Ihren beiden Söhnen? Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie schon erreicht haben für Ihren Heimatkontinent?

 

Waris Dirie: Ich bin auf meine Söhne sehr stolz. Liebe und Respekt ist, was ich täglich predige. Für meinen Kontinent werde ich in Zukunft noch viel mehr tun. Die Afrikanische Union hat mich am 16.07.2010 zur Botschafterin für Frieden und Sicherheit für Afrika ernannt und ich hatte Gelegenheit, meine Vorschläge und Ideen dem Präsidium und den Kommissaren vorzustellen.

 

Interview: Sigrid Lehmann-Wacker

 

Interview aus: Graswurzelrevolution Nr. 352 (Libertäre Buchseiten), Oktober 2010, www.graswurzel.net