Die marxsche Anthropologie und ihre grundlegenden Konzepte
(Auszüge aus: Lucien Sève, «Penser avec Marx aujourd’hui», TOME II, «L'HOMME»? , Paris, La Dispute, 2008) *
Wenn es eine allgemeine Aussage über die menschliche Gattung gibt, deren Anwendung auf eine Tierart – ganz gleich welche – radikal unmöglich ist, dann ist es wohl die von Marx in seinem Brief an Annenkow: „ Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung.“ (MEW 4, 548)
Die Anwendung [auf eine Tierart] ist unmöglich aus zwei Gründen, die uns gleich zum Kern des Themas führen. Zum einen weil keine Tierart eine soziale Geschichte hat – wenn man darunter den kumulativ wirkenden Transformationsprozess versteht, den die kollektive Aktivität der Individuen von Generation zu Generation in das Leben der Gruppe einführt und der von Grund auf verschieden ist von der biologischen Evolution, durch die sich auf unvergleichlich viel langsamere und beschränktere Weise der tierische Organismus und das Verhaltensrepertoire der untersuchten Population verändert: es gibt keine Sozialgeschichte der Ameisenhaufen. Zum anderen weil es, was damit zusammenhängt, auch in keiner Tierart eine Geschichte der individuellen Entwicklung gibt – genauer gesagt: die zugleich genetisch regulierte und durch den Kontext modulierte Art und Weise, wie sich das Verhalten des Individuums im Laufe seines Lebens entwickelt, übernimmt in der Abfolge der Generationen nicht selbst kumulativ die Funktion einer Sozialgeschichte der Art. Diese ist [91] nicht vorhanden. Die Bienen, über die Vergil im vierten Gesang der Georgica spricht, sind nacheinander Fütterungsbiene, Baubiene, Sammelbiene, genau so wie die, welche von Frisch zweitausend Jahre später beobachtet.
Was im Gegensatz dazu in dieser Hinsicht die entwickelte menschliche Gattung charakterisiert, ist das unaufhörliche und unerschöpfliche Auftauchen von neuen individuellen physischen und psychischen Fähigkeiten, neuen Formen und Motiven der kollektiven Aktivität. Während der gleichen zwei Jahrtausende hat sich die Liste dessen, was die Menschen leisten können, unglaublich erweitert: Vulkanausbrüche verstehen und nicht mehr länger den Zorn der Götter fürchten, Differenzialgleichungen lösen, ein Werkstück aufbohren mit einer Präzision von einem Mikrometer, am offenen Herzen operieren, Millionen Menschen ins Krematorium schicken, im Zustand der Schwerelosigkeit experimentieren, einen Streik organisieren, ein Schaf klonen, Massen von Lohnempfängern zur Arbeitslosigkeit verdammen um die Profitrate zu erhöhen, sechs Meter beim Stabhochsprung überspringen, eine falsche Note der zweiten Violine eines Orchesters heraushören, eine Bestellung im Internet aufgeben, sich entschließen das Geschlecht zu wechseln . . . Eine ins Unendliche erweiterbare Aufzählung. Das Menschsein der Menschen ließe sich sogar definieren durch die Unmöglichkeit, es in einer Definition zu erfassen.
Was also dringend nach einer Erklärung verlangt, ist, dass dieses in mancherlei Hinsicht exponentielle Aufblühen der psychischen Aktivitäten und Fähigkeiten unter im Großen und Ganzen unveränderten genetischen Voraussetzungen erfolgen konnte, wenn als gegeben anzusehen ist, dass nicht von größeren Veränderungen in diesem Bereich gesprochen werden kann in einem Zeitabschnitt, der sich nicht wie die markanten biologischen Evolutionen nach Millionen Jahren bemißt, sondern in Jahrhunderten, das heißt in um den Faktor Tausend kleineren Einheiten. Hier haben wir ein bedeutsames Rätsel vor uns, das bisher weder durch genetische Herangehensweise noch durch die Lehre von angeborenen psychischen Fähigkeiten geklärt werden konnte.
Kann sich irgendjemand angesichts derartig neuer Fähigkeiten, wie wir sie oben an Beispielen benannt haben – nennen wir nur eine davon: die heutigen Formen der mathematischen Intelligenz – vorstellen, dass diese hätten entstehen können als mindestens zum Teil vererbbare Fähigkeiten, aus einer auf mysteriöse Weise zielgerichteten Selektion von zufällig erfolgten genetischen Mutationen, wobei sich dieser verblüffende Vorgang noch dazu innerhalb weniger dutzend Generationen vollzogen haben müßte? Die Sache klar zu formulieren genügt bereits, um ihren absurden Charakter zu verdeutlichen. Es existiert also, seltsamerweise von vielen stillschweigend akzeptiert und dennoch ganz außergewöhnlich, wenn man genauer hinschaut, ein fundamentaler Erklärungsnotstand gegenüber dieser ins Auge fallenden, massiven, unausweichlichen Gegebenheit: der beeindruckenden Entwicklung der psychischen Fähigkeiten der Menschen im Verlauf der letzten Jahrtausende. [92]
Dass die Fähigkeiten der Individuen sich derart entwickeln konnten wie sie es im Verlauf der letzten Jahrtausende getan haben und wie sie es auch in Zukunft ohne von vorneherein festgelegte Grenze und mit ständig zunehmender Geschwindigkeit tun werden, während nach allem, was man weiss, das menschliche Gehirn als genetisch definiertes biologisches Organ sich seit der Steinzeit nicht mehr weiter entwickelt hat – wie ist das möglich?
Die von Marx vorgebrachte völlig neue Antwort auf diese Frage ist, dass die menschlichen Fähigkeiten nicht nur als subjektive Aktivitäten der Individuen, sondern auch in objektivierter – oder genauer: vergegenständlichter - Form von „Produktivkräften“ existieren, - Arbeitsgeräten und Maschinerien, wo sich handwerkliches Können, wissenschaftliche Kenntnisse und technologische Prozeduren vereinigen, wo intellektuelle Vorgehensweisen Gestalt annehmen; ein außer-organischer Vorrat in lebhaftem geschichtlichem Wachstum, durch dessen stets singuläre individuelle Aneignung sich in jeder Generation die persönlichen Fähigkeiten ausformen. In dieser ständigen historischen Dialektik von Objektivierung / Subjektivierung liegt wohl das Geheimnis der grenzenlosen Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten bei gleichzeitig unverändertem neuronalem Potential der Individuen. Eine Sichtweise, die in den „Grundrissen“ wieder aufgenommen und präzisiert wird: „das eine Moment der gesellschaftlichen Tätigkeit – die gegenständliche Arbeit – [wird] zum immer gewaltigern Leib des andren Moments, der subjektiven, lebendigen Arbeit“ („Grundrisse“, MEW 42, 742) Aber im Kapitalismus „erlangen diese angehäuften Bedingungen der gesellschaftlichen Aktivität eine immer gigantischer werdende Autonomie“ [RÜ]* und stellen sich der Arbeit gegenüber „als immer stärker werdende fremde und beherrschende Macht“ [RÜ] dar: die Objektivierung ist zugleich Entfremdung. Eine Analyse mit außerordentlichen Konsequenzen, auf die später vertiefend eingegangen wird. Ohne Zweifel deutet sich hier bereits das Ausmaß des Umbruchs an, den diese Idee der historisch-sozialen Vergegenständlichung des Menschlichen in der Konzeption des Psychischen und Biographischen bewirkt. [40]
Marx ist noch ausführlicher immer wieder auf die Frage der menschlichen Individualität zurückgekommen und erörterte sie in ihrer umfassendsten historischen Perspektive. Die vierzig Seiten der „Grundrisse“, die unter dem deutschen Namen „Formen“ („Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen“) bekannt sind, skizzieren unter Mobilisierung der Ressourcen einer historischen Kultur von beeindruckendem Ausmaß die lange Entstehungsgeschichte des „freien Lohnarbeiters“, ausgehend vom Hirtenstand und nomadischer Wirtschaftsweise. Denn auch vom Menschen empfiehlt es sich zu sagen, dass er nicht als Individuum geboren wird, sondern sich dazu entwickelt. „Der Mensch vereinzelt sich erst durch den historischen Prozeß. Er erscheint ursprünglich als ein Gattungswesen, Stammwesen, Herdentier . . . Der Austausch selbst ist ein Hauptmittel dieser Vereinzelung. Er macht das Herdenwesen überflüssig und löst es auf.“ („Grundrisse“, MEW 42, 419).
Aber in dem gleichen Maße, in dem das Individuum sich von der Gemeinschaft loslöst, löst sich diese von ihm los, bis sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft „ihm gegenüberstellt“ als eine objektive Macht, „die er zu verschlingen versucht, die aber ihn verschlingt“. Daher ist das historische Hervortreten der entwickelten Individualität zugleich die lange Chronik eines Märtyrologiums. Was es zu verstehen gelte, so sagen uns die „Theorien über den Mehrwert“, ist, dass „diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obwohl sie sich zuerst auf Kosten der Mehrheit der Individuen und ganzer Klassen menschlicher Wesen vollzieht, dazu führt, dass dieser Antagonismus überwunden wird und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums, dass daher die Höherentwicklung der Individualität [46] erkauft wird um den Preis eines historischen Prozesses in dem die Individuen geopfert werden . . . “ („Theorien über den Mehrwert“, MEW 26.2, 111) Eine Schlußfolgerung, die im Band III des „Kapital“ so formuliert wird: „Es ist in der Tat nur durch die ungeheuerste Verschwendung von individueller Entwicklung, daß die Entwicklung der Menschheit überhaupt gesichert und durchgeführt wird in der Geschichtsepoche, die der bewußten Rekonstitution der menschlichen Gesellschaft unmittelbar vorausgeht.“ („Kapital“ Band III, MEW 25, 99) Wir befinden uns hier an der Orientierungstafel, wo die anthropologische Perspektive des marxschen Kommunismus in ihrer ganzen Breite erkennbar wird. [47]
So beginnt die anthropologische Lesart dieser Analysen hervorzutreten, eine Lesart, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts etwas völlig Neues darstellte, und auch im 21. Jahrhundert wird man sich als gut beraten erweisen, wenn man sie nicht unbesonnen als banal bezeichnet.
Die kapitale geschichtliche Neuerung, durch die die Menschheit Schritt für Schritt aus dem Tierreich herausgetreten ist, besteht in der Bedeutung, welche die Vergegenständlichung der menschlichen Tätigkeit erlangt . . . von dem Zeitpunkt an wo sie systematisch auf bestimmte Mittel zurückgreift, um ihre Ziele besser zu erreichen. Da sie gegenständliche Form haben, können diese Mittel als solche – ebenso wie ihre Produkte – über die subjektiven Tätigkeiten hinaus weiterbestehen, durch die sie hervorgebracht wurden, können sie erneut eingesetzt werden für neue Tätigkeiten, in denen sie verbessert und vervielfältigt werden, wodurch der kumulative Aufbau einer „Welt des Menschen“ in Gang gesetzt wird – nennen wir sie „die menschliche Welt“. Eine Welt physischer Vergegenständlichung: Werkzeuge, Landschaften, Verhältnisse, Ausrüstungen, Institutionen . . . und symbolischer Vergegenständlichungen: Sprachen, Gewohnheiten, Kenntnisse, Vorstellungen, Normen . . . zwei Gruppierungen, die je spezifisch sind und zugleich einander durchdringen und die das Individuum sich aneignet, indem es entsprechende Fähigkeiten bei sich selbst entwickelt auf dem Weg über die – unerläßlichen – Beziehungen zu denen, die darüber verfügen und deren Tätigkeit die lebendige subjektive Dimension der menschlichen Welt darstellen.
Von dieser Art ist die „Wirklichkeit des menschlichen Wesens“, welche die 6. Feuerbachthese etwas tastend das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nannte.
Formulieren wir die Sache anders: „Der Mensch“ – das ist Homo sapiens sapiens, anders gesagt, eine immense biologische Evolution, deren mehr oder weniger unveränderlichen Ergebnisse im Inneren unserer Genome gespeichert sind – wie bei jedem anderen lebenden Wesen – aber auf dieser Basis heißt das eben auch: heutiger Mensch, mit anderen Worten eine immense psycho-soziale Geschichte, deren evolutionäre Ergebnisse außerhalb unseres Organismus angesammelt sind in dieser Realität ohne den Schatten einer tierischen Entsprechung: der „Welt des Menschen“, - ein Übergang nach außen, der alles verändert hat. [98] Befreit von dem Zwang, sich in einem Genom einschreiben zu müssen, um zu überleben, können diese Errungenschaften sich in exponenziellen Prozessen entfalten, wo die relevante Zeiteinheit nicht mehr die Jahrmillionen der biologischen Revolution, sondern Jahrtausende, ein Jahrhundert, gar eine einzige Generation sind; und in Verbindung damit können sie immer weiter zunehmen und ohne Grenzen über das hinauswachsen, was ein einzelnes Individuum für sich genommen in der Lage ist sich anzueignen, ein materielles und symbolisches menschliches Universum von gigantischem Ausmaß ausbilden. Zweifellos beginnt man hier die außerordentliche Fehleinschätzung zu erkennen, zu der ein Verständnis „des Menschen“ führt, in dem all das unbeachtet bleibt.
Dass diese anthropologische Sichtweise Perspektiven von heute noch unerschöpfter Ergiebigkeit in die verschiedensten Richtungen eröffnet, werden wir im zweiten Teil dieses Buches zu zeigen bemüht sein. Gleich hier möchte ich aber zumindest ein Beispiel für eine bisher nicht untersuchte, womöglich noch nicht einmal wahrgenommene Frage anführen, die jedoch umwerfende theoretische und praktische Entwicklungen in Gang setzen könnte. Auf den wenigen Seiten des ersten Bandes des „Kapital“ führt Marx über den gerade erwähnten Arbeitsprozeß aus, dass alles in allem die menschliche Tätigkeit – im Unterschied zu jeder Tätigkeit von Tieren – in zwei gegensätzlichen Formen existiert, obwohl beide eine identische Grundlage haben. Die eine – die einzige die man im Auge haben dürfte, wenn man von menschlicher Tätigkeit spricht – ist die, die er „lebendige“, „mobile“ Betätigung nennt und die man auch die „subjektive“ nennen kann weil sie per Definition die von individuellen menschlichen „Subjekten“ ist. Die andere, deren Einbeziehung in die gleiche Rubrik wie eine Herausforderung an den gesunden Menschenverstand aussehen könnte, ist die anscheinend „tote“ Form „in Ruhe“, welche die Tätigkeit annimmt, wenn sie erst einmal in jene Daseinsart verwandelt ist, welche durch sie objektiv und in Dingform produziert wurde
„Während des Arbeitsprozesses“ - so Marx - „setzt sich die Arbeit beständig aus der Form der Unruhe in die des Seins, aus der Form der Bewegung in die der Gegenständlichkeit um.“ („Kapital“, MEW 23, 205) Schon in den „Grundrissen“ notierte er: „In der Produktion objektiviert sich die Person, in der Konsumtion subjektiviert sich die Sache.“ („Grundrisse“, MEW 42, 39)
Was hier vorgebracht wird, mit großer Kühnheit des Denkens und doch bar jeder Prahlerei, das ist, um es provozierend in die Form eines Oxymoron [rhetorische Figur, bei der eine Formulierung aus zwei gegensätzlichen, einander (scheinbar) widersprechenden oder gegenseitig ausschließenden Begriffen gebildet wird - zum Ausdruck des Komplexen, Unsagbaren] zu fassen, dass es eine Dingform der psychischen menschlichen Tätigkeit gibt. Oxymoron insofern [99], als es nur die psychische Aktivität - im strikten und bisher ausschließlichen Sinne des Wortes - eines individuellen Organismus ist; wo also in dem Ding das eigentlich Psychische ausgelöscht wird, und dennoch besteht das Spezifische dieses Dings darin, dass es nichts anderes als die Ruheform dieser psychischen Aktivität ist.
Man ahnt, auf welch kategorische Ablehnung die materialistische Dialektik einer solchen These unvermeidlich stoßen muss. Dass „der Mensch“ Werkzeuge und Zeichen produziert, danke sehr, wir brauchen keinen Marx für diese Erkenntnis. Dass man diese aber als objektiviertes Psychisches ausgeben will, ist keine Belanglosigkeit sondern eine Absurdität. (Dass die genetischen Sequenzen in einem gewissen Sinne etwas Psychisches in gegenständlicher Form sein könnten, scheinen viele ohne Probleme einräumen zu können; aber daß das auch auf gesellschaftliche Objekte zutreffen könnte, welche offensichtlich Produkte und zugleich Reproduzenten psychischer Aktivitäten sind, soll inakzeptabel sein.) [100]
„Der Mensch“, das sind - untrennbar verbunden - die „Welt des Menschen“ und die Menschen in ihrer Welt; die „Welt des Menschen“ ohne die Menschen, das ist der stumme Friedhof einer erloschenen Zivilisation; die Menschen ohne die „Welt des Menschen“ , das ist Homo sapiens an seinen Ursprüngen.
Diese außerordentliche Neuigkeit in der Evolution der Lebewesen: dass das Genom seine Rolle als Auslöser der Fähigkeiten der Spezies abgibt an eine externe Wirklichkeit von ganz anderer Art und von einer unvergleichlich viel höheren kumulativen Geschwindigkeit, wodurch sich diese Spezies selbst in eine noch nie dagewesene Wirklichkeit verwandelt: das Menschengeschlecht – in der Sprache der Philosophie besteht hierin die gesellschaftliche Exzentration [Verlegung des Zentrums nach außerhalb] des menschlichen Wesens, deren Entdeckung die 6. Feuerbachthese bezeugt – , diese Neuigkeit ist zugleich untrennbar verbunden mit einer anderen, symmetrischen und nicht minder erschütternden Neuigkeit. Biologisch als Exemplar von Homo sapiens sapiens geboren, wird das Menschenjunge dennoch nicht als Mensch in dem oben dargelegten Sinn geboren, liegt sein Menschsein doch fast ganz außerhalb seines Organismus: er muß es sich erst aneignen. Die Anthropologie, die zumindest virtuell auf dem marxschen Materialismus der Tätigkeit aufbaut, ist an zwei grundlegenden Konzepten zu erkennen, die ein Paar bilden: Vergegenständlichung und Aneignung. (Das Konzept der Aneignung ist im marxschen Werk allgegenwärtig: Der Index der MEW (Dietz, Berlin, 1989) listet Hunderte von Fundstellen auf, speziell in den Werken des reifen Marx.)
Das Menschenjunge muss sich nicht nur durch die Ausbildung der mitgegebenen Fähigkeiten komplettieren, wie jedes Tier auch, nicht nur sich anpassen an seine Artgenossen, wie teilweise die Großaffen, es muss erst noch im eigentlichen Sinn Mensch werden, indem es ausgehend von der Welt der Menschen jene psychischen Funktionen aufbaut, die der Begriff beinhaltet. [104] Ein Individuum der menschlichen Spezies, das sich außerhalb der menschlichen Welt entwickeln würde, hätte trotz seines großen Gehirns und seiner [105] psychischen Frühreife nichts anderes zu lernen als irgendein anderes höheres Wirbeltier. (Genau das zeigt in starker Zuspitzung der Grenzfall der sogenannten „wilden Kinder“ . . . Bei diesen Kindern haben sich die für die historisch entwickelte Menschheit typischen psychischen Funktionen nicht ausgebildet, mangels der Möglichkeit, sich diese in der „Welt der Menschen“ anzueignen. . . Sie zeigen uns im Großen und Ganzen nichts anderes als die alltägliche Beobachtung: die psychische Entwicklung eines jeden ist eine direkte Funktion des Reichtums seiner Aneignungsbeziehungen mit der Menschenwelt.)
Weder die Neotenie [psychische Frühreife] noch das große Gehirn können für sich genommen die entscheidende Tatsache erklären, dass sich das menschliche Individuum vor ein gigantisches spezifisches Feld des Lernens gestellt sieht, das es nur in dem Maße bewältigen kann, in dem es beginnt, sich dem vergegenständlichten Psychischen zu nähern, Zeichen und Werkzeuge – im weitesten Sinne dieser Begriffe – anzuwenden, Brauchtum, Gewohnheiten, Beziehungen, Wissen und Phantasie zu beherrschen, etc., Realitäten also, die alles andere als organischer Natur sind. Man wird es noch mehr als einmal wiederholen müssen: Wenn auch sicherlich jede spezifisch menschliche psychische Aktivität ebenso wie die der Tiere den Weg über neurobiologische Effektoren nimmt, deren – im schnellen Aufschwung befindliches – Studium daher keinesfalls überflüssig ist, so kann auf diesem Feld doch nichts begriffen werden, wenn man nicht ausgeht von dem außerhalb der Organismen historisch-sozial akkumulierten Psychischen der Menschenwelt, und von seiner biographisch je einzigartigen Aneignung durch jeden einzelnen, welche leider entschieden seltener Gegenstand der Forschung ist. Das nicht zu sehen bedeutet, Gefangener einer anthropologischen Vision zu bleiben, die durch den Beitrag von Marx von Grund auf überholt ist. [106]
Gebrauch und Mißbrauch der Abstraktion
Wenn man sagt „der Mensch“, dann versetzt man, ohne es zu sagen und sogar ohne es zu bemerken, ein nur in seiner Einbildung existierendes menschliches Wesen nach außerhalb der historisch-gesellschaftlichen Realität, und löst es damit aus seinen aus dieser Realität mit Notwendigkeit sich ergebenden wesentlichen Bestimmungen. Doch ein solches Patent-Wesen für jede Gelegenheit hat nie existiert und wird es nie geben: der Mensch ist stets der Mensch einer historischen Epoche, einer gesellschaftlichen Formation, und in dieser Formation Angehöriger einer ganz bestimmten sozialen Gruppe, etc. – Festlegungen, welche den größten Veränderungen unterworfen sein können beim Wechsel von einer Epoche, Gesellschaft, Klasse, etc., zu einer anderen. Es ist diese unbestreitbare Konkretheit, die zum Verschwinden gebracht wird durch den scheinbar unschuldigen Rückgriff auf die abstrakte Fiktion, die sich hinter dem vermeintlich so selbstverständlichen Wort „der Mensch“ verbirgt.
Der definitive Abschied vom Pseudo-Konzept „der Mensch“ , das alle bisherigen Philosophen gefangen hielt: das ist der erste Akt der marxschen anthropologischen Revolution. . .. Die „Deutsche Ideologie“ ist das Manifest dieser Revolution [56] , [dieser] marxschen Dekonstruktion des Menschen. [309]
Dort wo der Neoliberalismus thriumphiert setzt man den Arbeitslosen unter Druck, weil „der Mensch“ von Natur aus ein Faulenzer ist, verallgemeinert man die Konkurrenz, weil „der Mensch“ ein Krieger ist, vergrößert man die Ungleichheiten aller Art, weil „der Mensch“ durch angeborene Ungleichheit gekennzeichnet ist, füllt man die Gefängnisse, weil „der Mensch“ frei und damit [60] voll verantwortlich ist, führt man Krieg gegen das Böse, weil „der Mensch“ das Gute liebt und „Gott“ achtet . . . „Mensch“, welche Verbrechen in deinem Namen begangen werden! Die durch Marx in Gang gesetzte Revolution in der Anthropologie, der Abschied von „dem Menschen“, zu dem sie jeden anspruchsvollen kritischen Geist verpflichtet, markiert nicht nur ein Datum in der Geistesgeschichte, sondern stellt heute auch ein staatsbürgerliches Vademecum [unentbehrlicher Leitfaden] von größter Bedeutung dar. Man sieht, inwieweit die durch Marx in Gang gesetzte Revolution in der Anthropologie einmündet in eine klare Aufforderung, unser Vokabular zu reformieren, um es mit einer neuen Art des kategoriellen Denkens in Einklang zu bringen.
Gibt es also keinerlei Zusammenhang, in dem man berechtigter Weise von „dem Menschen“ sprechen dürfte? Soll Marx sich verpflichtet haben, den Begriff „der Mensch“ nicht zu verwenden, und uns aufgefordert haben, das Gleiche zu tun? Sicherlich nicht –Terrorimus des Vokabulars ist überhaupt nicht seine Art. [61] Gewiß kann man von „dem Menschen“ sprechen, wenn man zum Beispiel den Menschen in seinem globalen Gegensatz zur Natur im Auge hat, . . . die Spezies Homo sapiens sapiens in ihrem generellen Unterschied zur Tierwelt - mit den psychischen Funktionen, die sie ganz allgemein charakterisieren . . . Aber sowie es sich um Menschen in ihrer historisch-gesellschaftlichen Bestimmtheit handelt, bekundet und unterstützt man eine Ungenauigkeit oberster Größenordnung, wenn man, indem man „der Mensch“ sagt und schreibt – sollte man unter diesem Begriff mehr verstehen als den simplen Gattungsnamen des Handel treibenden Individums und sogar des englischen Krämers - von den wesentlichen Unterschieden abstrahiert, wie sie aus der Singularität der Epoche, der gesellschaftlichen Formation, der Klasse, der Kultur etc. ergeben.
Daher ist das Erbe, das uns Marx zu diesem Thema hinterlassen hat, von großer Bedeutung und sollte auch so behandelt werden in jeder anthropologischen Reflexion: Abschied ohne Wiederkehr von einer Abstraktion, die den irreführenden Sprachgebrauch schlechthin darstellt. [62]
Rätselhafte Unkenntnis
In seinem Brief vom Dezember 1846 an Annenkow, wo er die ganze „Deutsche Ideologie“ zusammenfassend darstellt, schreibt Marx (in einem etwas schwerfälligen Französisch):
„Man braucht nicht hinzuzufügen, daß die Menschen ihre Produktivkräfte — die Basis ihrer ganzen Geschichte — nicht frei wählen; denn jede Produktivkraft ist eine erworbene Kraft, das Produkt früherer Tätigkeit. [. . .] Dank der einfachen Tatsache, daß jede neue Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen, entsteht ein Zusammenhang in der Geschichte der Menschen, entsteht die Geschichte der Menschheit, die um so mehr Geschichte der Menschheit ist, je mehr die Produktivkräfte der Menschen und infolgedessen ihre gesellschaftlichen Beziehungen [23] wachsen. Die notwendige Folge: Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Ihre materiellen Verhältnisse sind die Basis aller ihrer Verhältnisse. Diese materiellen Verhältnisse sind nichts anderes als die notwendigen Formen, in denen ihre materielle und individuelle Tätigkeit sich realisiert.“ (MEW 4, 548) Ich weiß nicht ob der Leser das außerordentliche Ausmaß an Fremdartigkeit (im Brechtschen Sinne der Verfremdung) ermessen kann, mit dem ein derartiger Text im Umfeld der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts belastet war – und das er übrigens im Verlauf des unsrigen wieder erlangen könnte.
So war also für Marx „die Sozialgeschichte der Menschen“ im Grunde identisch mit der „Geschichte ihrer individuellen Entwicklung“? Das war es, was auf einen Schlag die ganze Willkürlichkeit gigantischer Postulate zerplatzen ließ, die sowohl der Psychologie als auch dem offiziellen Marxismus unterschoben wurden. Vorab ein Wort zum letzteren. Was man zur damaligen Zeit darüber lesen konnte, ließ überhaupt keinen Raum für Zweifel: der „historische Materialismus“, der „wissenschaftliche Sozialismus“ waren ausschließlich eine Angelegenheit von supra-individuellen und sogar unpersönlichen Realitäten – Produktivkräfte, Produktionsweise, Staatsapparate, Klassenkämpfe, Kräfteverhältnisse, Eroberung der Macht, Diktatur des Proletariats, Vergesellschaftung der Produktions- und Zirkulationsmittel . – . : nirgendwo trat dabei das Individuum in Erscheinung; und es einzubringen damit es dort eine wirkliche Rolle spiele, konnte nur dazu führen, dass das objektive Geschichtsverständnis im Psychologismus unterging, die politische Klarsicht im Subjektivismus, die proletarische Solidarität im Individualismus . . . – bis hin zu dem Punkt, dass ich mich fragte, wohin mich mein Festhalten an der Psychologie Politzers zu führen drohte, wenn ein Marxist in keinen anderen als in Begriffen von Masse denken durfte.
(Man wird verstehen, dass im Kontext eines kulturellen Stalinismus, der für wesensgleich mit dem Marxismus gehalten wurde, letzterem ständig und von allen Seiten als Hauptvorwurf vorgehalten wurde, er „vergesse den Menschen“. So erklärte Sartre im Jahre 1957 in „Questions de méthode“ (Gallimard 1960, p. 58) , dass – obwohl einverstanden mit einem intelligent verstandenen historischen Materialismus – er dennoch nicht beabsichtige, den Existentialismus „aufzulösen“ in einem Marxismus, der in seinen Augen „gänzlich den Sinn dafür verloren habe, was das ist: ein Mensch“, und dem „zum Schließen dieser Wissenslücke nichts besseres einfalle als die absurde Pawlowsche Psychologie“. Solange der Marxismus, fügte er hinzu, auf einer „inhumanen Anthropologie“ besteht und sich dadurch unfähig macht, eine überzeugende Theorie „des einzelnen Individuums“ zu entwerfen, „werden andere an seiner Stelle den Versuch unternehmen“.)
Doch da erlaubte sich Marx nun – in flagrantem Verstoß gegen das offizielle Marxverständnis – , nicht etwa in einer eher zweifelhaften Improvisation, sondern in einem wohl durchdachten Text zu schreiben: „ Die soziale Geschichte [24] der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung“ (MEW 4, 548). Eine erstaunlich abweichende Äußerung, die sogleich die Erinnerung an andere ähnliche wachruft – in „Die Deutsche Ideologie“: „Innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist, . . . “ („Die Deutsche Ideologie“, MEW 3 , 424); im „Manifest“: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ („Manifest“, MEW 4, 482); im vierten Buch des „Kapital“: „. . . diese Entwicklung der Fähigkeiten der Gattung Mensch, obgleich sie sich zunächst auf Kosten der Mehrzahl der Menschenindividuen und ganzer Menschenklassen vollzieht, endet schließlich damit, daß sie diesen Antagonismus durchbricht und zusammenfällt mit der Entwicklung des einzelnen Individuums . . . “ („Theorien über den Mehrwert“, MEW 26.2, 111); etc.
Es ist die Idee des historischen Materialismus selbst, die hier einen - durch die Bewahrer der reinen Lehre vollkommen verschwiegenen - entscheidenden Sinn bekommt: Materialismus mit doppeltem Antlitz, einem historischen auf der einen, einem biographischen auf der anderen Seite, wobei die Geschichte unserer sozialen Universen eben dadurch zugleich auch zur Geschichte der ganz persönlichen Aspekte unseres Lebens wird. [25]
Wenn das marxsche Werk sehr wohl das einzige ist, in dem sich auf diesem Gebiet eine theoretische Revolution von derart großer Tragweite entwickelt, wird man einräumen müssen, daß das fast überall verbreitete Bild von Marx ihm wirklich nur wenig ähnlich sieht. Lesen wir die große Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten, ziehen wir die Enzyklopädien zu Rate, blättern wir die Lehrbücher durch. Es herrscht die Vorstellung, Marx habe sich ausschließlich der objektiven Theoretisierung der Geschichte [140] gewidmet, der Kritik der Ökonomie, der Reflexion über Staat und Politik, den Blick auf eine Massenrevolution gerichtet, die die materielle Produktion in eine vollständig gesellschaftliche Tätigkeit umwandelt. Wenn es also um Fragen geht, bezüglich derer man sicher nicht riskieren würde, sich Erleuchtung bei einem solchem Autor zu holen, so sind das die Fragen der menschlichen Individualität, der psychischen Subjektivität, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Schicksal der Person - kurz alles, was um die anthropologische Frage kreist "Was ist der Mensch?“
Nun ist das, was ich im Vorhergehenden in aller Ausführlichkeit ausgebreitet habe, dem genau entgegengesetzt: das ganze Werk von Marx, im Kern selbst seiner ökonomischen Kritik des Kapitalismus und seiner historisch-materialistischen Theoriebildung, ist im gleichen Zug Kritik der herrschenden Anthropologie und Entwurf einer materialistisch-psychologischen Theoretisierung der menschlichen Individualität.
Sicher war Marx sein Leben lang durch die leidenschaftliche Sorge beherrscht, "die Welt zu verändern", was ihn unter den historischen Bedingungen seiner Epoche nur dazu bringen konnte, den Anstrengungen zur völligen Enthüllung der Wirkungsmechanismen der kapitalistischen Ausbeutung den Vorzug zu geben gegenüber Erkenntnissen psychologischer Art, die damals ebenso wenig entscheidend für die soziale Emanzipation wie reif für die wissenschaftliche Forschung erschienen. Sodaß die wertvollen Hinweise anthropologischen Charakters, die in seinem Werk so zahlreich vorhanden sind, meist im Zustand von Wartesteinen [vorstehender Stein eines Gebäudes zum Zweck eines künftigen Anbaus]** verbleiben und im allgemeinen der Aufmerksamkeit derer entgangen sind, die sie dort aus einem Vorurteil heraus nicht erwarteten.
Aber wie ist es zu erklären, dass ihr Vorhandensein selbst unter den Marxisten so wenig anerkannt oder auch nur bekannt ist? Denn Tatsache ist: weder die wichtigsten Marxisten der II. Internationale – von Kautsky bis Bernstein – noch die der III. – von Lenin bis Bucharin, von Stalin gar nicht zu reden, erwähnen – und sei es auch nur nebenbei – diese anthropologische Dimension des marxschen Denkens, deren kraftvolle Originalität soeben dargestellt wurde. Keinem von ihnen ist offensichtlich auch nur die Idee gekommen, daß der „Marxismus“ nicht nur eine Philosophie, eine Konzeption der Geschichte, eine ökonomische Theorie, eine politische Doktrin, sondern auch eine anthropologische Betrachtungsweise umfassen könnte. Daß Marx einen unmittelbaren Zusammenhang denkt zwischen der gesellschaftlichen Formierung und dem, was ich die individuelle Formierung genannt habe, dass das „Kapital“ an vielen Stellen im gleichen Atemzug auf die gesellschaftliche Produktionsweise wie auf die psychische Produktion und das historische Schicksal der Individualität Bezug nimmt, dass Kategorien wie die der Tätigkeit, Vermittlung, Vergegenständlichung, Aneignung eine bestimmte Konzeption des Mensch-seins strukturieren, worin einer der grundlegendsten theoretischen Beiträge von Marx zu sehen ist – das ist [141] der marxistischen Orthodoxie beinahe bis zu ihrem letztendlichen Untergang fremd geblieben. Ist das nicht beunruhigend? [142]
Dass es in dem weiträumigen Massiv der marxschen ökonomischen Schriften zahlreiche suggestive Hinweise und sogar grundlegende Analysen einer neuen Perspektive in Sachen theoretische Anthropologie gibt, dafür habe ich, denke ich, mehr als genug präzise Beispiele benannt, um jeden Zweifel daran auszuräumen. Aber es ist ebenso sicher, dass Marx' Hauptsorge in all diesen Arbeiten der Kritik des bürgerlichen ökonomischen Denkens und damit der Enthüllung der Widersprüche des Kapitals und der objektiven Voraussetzungen des Übergangs zu einer höheren Gesellschaftsform, die sich darin abzeichnen, gilt. Unter diesen kritischen und vorausschauenden Betrachtungen haben viele eine implizite oder manchmal auch ausdrückliche anthropologische Dimension, aber an sich ist diese Dimension nicht Marx' Gegenstand; und auch wenn offenkundig ist, dass er sie nie aus dem Auge verliert, wird sie doch nie oder fast nie für sich allein behandelt. Auch ist das Vorhandensein dieser Dimension nur für diejenigen evident, die sie bewußt verfolgen, zum Beispiel das „Kapital“ so lesen wie Wygotski, mit den Fragestellungen eines der historisch-materialistischen Anthropologie gegenüber offenen Psychologen – eine Art von Lektüre, die bis auf den heutigen Tag die Ausnahme geblieben ist.
Man kann also Marx lesen, sogar Marx studieren – das ist der Normalfall – , ohne diese Dimension dessen, was man liest, klar und deutlich wahrzunehmen. [144]
Ich meine, dass es gerade auch dieser für den „orthodoxen Marxismus“ unannehmbare entscheidende Stellenwert der Individualität ist, der für diesen die anthropologische Dimension des marxschen Denkens unsichtbar gemacht hat. . . In der sozialistischen Arbeiterbewegung der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, dann in der kommunistischen Bewegung der III. Internationale wird das Verbundensein mit der Sache des Individuums von vornherein als eine zutiefst bürgerliche Haltung oder als ein Geruch von Anarchismus aufgefaßt und in beiden Fällen mit Nachdruck zurückgewiesen. Dass ein Bourgeois, Anhänger der Konkurrenz und des privaten Profits, in den Begrifflichkeiten des Individuums denkt, liegt in der Natur der Sache; dass ein Anarchist dies auf seine Weise ebenfalls tut, begründet erhebliche Zweifel daran, was er [146] wirklich im Sinn hat; ein Sozialist, ein Kommunist gar denkt in Begrifflichkeiten des Kollektivs. Dass Marx hier und da mit der Individualität kokettiert, woran man seine bürgerliche Herkunft erkennen kann, sollte nicht allzu viel Aufmerksamkeit erregen: der immense Teil seines Beitrags betrifft die Sozialwissenschaft und erhellt die sozialistische Zukunft. Selbst ein so repräsentativer Theoretiker des Marxismus wie Bucharin kann seinem Lehrbuch über den historischen Materialismus ganz selbstverständlich den Untertitel „Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie“ geben.
Der historische Materialismus, verstanden als schlichte Soziologie, ist in der Tat das, was übrig bleibt von der marxschen Anthropologie, wenn diese erst einmal ihrer Dimension der Individualität beraubt ist.
Marx hatte die geniale Weitsicht, unter dem bürgerlichen Individualismus, dessen Klassencharakter er besser als jeder andere nachgewiesen hat, eine tiefer liegende historische Tendenz hin zum universellen Aufblühen des uneingeschränkten Individuums zu erfassen, verwurzelt in dem, was die Entwicklung der menschlichen Welt zusammenträgt, und damit den Sinn des kommunistischen Strebens aufs engste zu verbinden. Diese Sichtweise, die von unschätzbarer strategischer Bedeutung ist, hat der orthodoxe Marxismus, hat die kommunistische Bewegung von einst im Wesentlichen weder begriffen noch berücksichtigt. Wir sind hier an einer der Hauptquellen ihres unwiderruflichen Dramas. [147]
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Anmerkungen
* Der Text besteht aus Auszügen aus:
Lucien Sève, «Penser avec Marx aujourd’hui», TOME II, «L'HOMME»? , Paris, La Dispute, 2008, 587 pages [Lucien Sève, «Heute mit Marx denken» , Band II: «DER MENSCH»?]
- ausgewählt und übersetzt von Rolf Jüngermann; überarbeitet von Georg Polikeit
- [Zahlen] in eckigen Klammern geben die Seitenzahlen des Originals an.
- [RÜ] Nicht alle Marx-Zitate im Original konnten in den MEW lokalisiert werden. In diesem Fall mußten sie rückübersetzt werden.
** bildlich: „da. ... wir außerdem noch wünschen auf künftige Hefte, deren Herausgabe uns gegönnt sein möge! vorläufig hinzudeuten; so lassen wir Wartesteine vorragen, damit man ahne, daß da wo unser Gebäude ... unausgeführt erscheinen könnte, noch wohl mancher Flügel nach unserm Entwurf zu verbinden und anzubauen sein möchte“ (GOETHE, Naturw. Schriften 5, I, 404 (vgl. auch 405)) nach: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 16 Bde. [in 32 Teilbänden]. Leipzig: S. Hirzel 1854-1960.