Anti-Atom-Bewegung - wie hältst du's mit Parteien?

Eine kritische Betrachtung des Tschernobyl-Aktionstages 2010 und der Rolle von .ausgestrahlt

24 Jahre nach dem Super-GAU von Tschernobyl demonstrierten am 24. April 2010 in der Bundesrepublik fast 150.000 Menschen für den Atomausstieg (vgl. GWR 349). Am Brennelementezwischenlager (BEZ) Ahaus protestierten 7.000, vor dem AKW Biblis 20.000 und 120.000 beteiligten sich an der u.a. von der Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt organisierten, 120 Kilometer langen Menschenkette zwischen den Atomkraftwerken Brunsbüttel und Krümmel. Die Freude über diese bisher größte Anti-Atom-Demo der Geschichte ist innerhalb der Anti-Atom-Bewegung nicht ungetrübt. Der ehemalige GWR-Redakteur Bernd Sahler kritisiert, dass Parteien eingeladen wurden, die Demo als Wahl­kampfbühne zu instrumentalisieren. Wir stellen seinen Beitrag hier zur Diskussion (GWR-Red.).

Ein Nord-Süd-Gefälle oder: Ein Riss geht quer durch die Bewegung

Der 24.4. brachte eine überwältigend große Menschenmenge auf die Straße. Nach außen hin geht ein Frühling durch die Bewegung und doch nach innen auch ein Riss. Diesen Riss kann man an vielen Begebenheiten festmachen, nehmen wir nur mal die Umzingelung in Biblis ver­sus Menschenkette zwischen Krümmel und Brunsbüttel in den Blick. Während in Biblis die Veran­stalterInnen erklärtermaßen we­der Partei-Mitglieder als Red­nerInnen zuließen, noch ihnen auf dem Kundgebungs-Platz Stände einräumten, wurden auf den Bühnen zwischen den AKWs Brunsbüttel und Krüm­mel den Spitzen von SPD, Grünen und Linken die Mikrophone gereicht. Während Michael Wilk, als einer der Organisatoren der Um­zingelungs-Aktion in Biblis, in seiner Rede1  sowohl den so­genannten Atomkonsens von Rot-Grün scharf kritisierte und die Laufzeitverlängerung als „völlig falsche Diskussion" bezeichnete, wurde der „Atomkonsens" auf der Menschenkette von Rot-Grün als glorreiche Errungenschaft gefeiert, die es jetzt gegenüber Schwarz-Gelb und ihren Plänen zur Lauf­zeitverlängerung zu verteidigen gelte. Während in der Berichterstattung über Biblis die scharfen Attacken der RednerInnen auf die Atomindustrie zitiert wurden, z.B. die mit viel Applaus bedachte Rede von Michael Wilk, so beherrschten die Ver­treterInnen von SPD und Grünen die Medienberichterstat­tung im Umfeld der Menschenkette fast vollständig. Mitnichten stimmen alle, die sich an der Menschenkette beteiligt haben, den politischen Aussagen dieser Parteifürsten zu oder sind bereit, sich darun­ter subsumieren zu lassen. Aber das, was an dem Tag in den Medien von dort rüberkam, wurde auf die Message verkürzt: Anti-AKW-Bewegung steht auf gegen die Pläne zur Laufzeitverlängerung von Schwarz-Gelb. Sinnbildlich Hand in Hand mit SPD und Grünen tritt sie für das Festhalten am Ausstieg ein, wie er im Konsensvertrag vereinbart worden ist. Alle anderen Forderungen verblassten vor dieser Hauptschlagzeile.

Die unscharfe Trennungslinie

Auch in Bi­blis wurde grünes und sozialdemokratisches Spit­zenperso­nal gesehen, z.B. Schäfer-Güm­bel oder Tom Königs, maßgeblicher grüner Akzep­tanzbereiter der Kosovo- und Afghanistan-Kriege. Partei-AnhängerInnen besetzten bewusst und organisiert, corpo­rate designed in grünen oder roten T-Shirts und ausgestattet mit vielen Par­teifah­nen, die alles andere dominierten, den medial begehrten Platz vor der Bühne. Im Norden hingegen wollten sich viele, insbesondere aus dem Wendland, explizit nicht von .ausgestrahlt „an die (Menschen-)Kette legen" lassen, so der Original-Ton der Erklärung der BI Lüchow-Danneberg. (2)

Ein Bündnis (3), das um den „Krümmel-Treck" (www.kruemmel-treck.de) herum organisiert war, zog es vor, eine eigenständige Aktion zu machen. Karl-Heinz, ein Teilnehmer des Trecks, monierte in einem Radio-Interview4), dass die Veranstalter der Menschenkette ihre Forderungen vorauseilend in Rücksicht auf die Positionen der Parteien und Verbände formuliert hätten, statt wie in Biblis die „Sofortige Stilllegung aller Atomanla­gen" zu fordern und zu schauen, wer sich dem anschließt.

Außerdem kritisiert er, wie argumentiert und mobilisiert wurde: dass die NRW-Wahl in den Vordergrund gestellt würde und dass deswegen jetzt mobilisiert werden müsse. Für Karl-Heinz ist der Jahrestag Anlass genug, „um zu sagen, dass wir die AKWs heute stillgelegt haben wollen".

Bruch mit dem politischen Konzept der sozialen Bewegung

Was sich mit den Ereignissen am 24.4. manifestiert hat, hat nicht nur die Auseinandersetzung innerhalb der Anti-Atom-Bewegung verstärkt, sondern bedeutet auch einen Bruch mit ihrer Protestkultur und ihrem politischen Konzept als sozialer Bewegung. Besonders für die Anti-Atom-Bewegung war und ist die Unabhängigkeit (von Parteien und Gewerkschaften) ein konstitutionelles Merkmal. Der Satz: „Wir vertrauen auf un­sere eigene Kraft" ist keine Floskel, sondern hat programmatischen Charakter. Er ist Ausdruck eines politischen Selbstverständnisses, das auf Eigeninitiative setzt und darum weiß, dass gesellschaftliche Veränderungen nur von einer Bewegung durchgesetzt werden können, die von unten kommt und ganz andere Strukturmerkmale in sich trägt.

Dabei war in dieser Bewegung immer das Bewusstsein vorherrschend, dass Widerstand von Nöten ist, der in Abset­zung zum herrschenden politischen System zu führen ist. Parteien wurden als Gegenüber, ParteifunktionärInnen als politische GegnerInnen und nicht als PartnerInnen gesehen.

Außerdem ist diese Bewegung in ihrer Mehrheit mehr als eine Ein-Punkt-Bewegung. Sie weist über das Thema AKWs hinaus und hat sich immer als Teil einer größeren Sache verstanden, bei der es um tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung geht. Dass auf der Menschenketten-Aktion der Anti-Atom-Bewegung am 24.4. die obersten Ver­treterInnen staatstragender Parteien als RednerInnen auftreten konnten, stellt einen Rückschritt dar, dessen Tragweite noch nicht abzusehen ist. Denn dieser Fakt kann nicht als einzelnes isoliertes Phänomen gesehen werden, sondern spiegelt ein völlig anderes politisches Selbstverständnis als das oben skizzierte wider. Nun sagen vielleicht einige, warum diese Kritik an einer erfolgreichen Aktion, was machen schon diese paar Partei­hansel, warum können nicht alle Strömungen nebeneinander auf ihre Weise gegen die Atomenergie kämpfen? Meine Antwort: Weil sie nicht vereinbar sind und in zwei gegensätzliche Richtungen weisen.

Unvereinbarkeit der Strategien

Warum sind sie unvereinbar?

Es gibt mehrere Gründe, ein aus meiner Sicht besonders gewichtiger ist ein strategischer: Die Erfolgskriterien der einen Strategie untergraben die Erfolgskriterien der anderen. Was damit gemeint ist, wird vielleicht deutlich, wenn man sich die Geschichte der erfolgreichen Kämpfe der Anti-Atom-Bewegung vergegenwärtigt. Zum Beispiel jenen von Wyhl (1970-1982), der das damals dort geplante AKW verhinderte. Der damalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg und ehemalige Nazirichter Fil­binger hat dieser Bewegung vom Oberrhein ungewollt ein großes Kompliment gemacht, als er erklärte: „Wenn Wyhl Schule macht, ist diese Republik nicht mehr zu regieren." In diesem Satz sind zwei der wichtigsten Erfolgskriterien enthalten: a)... Schule machen und

b)... nicht mehr zu regieren.

Was Schule machen bedeutet, dürfte klar sein: Ein Modell des Widerstands wird von anderen übernommen, es breitet sich auf andere Regionen aus.

Dieses Kriterium hängt mit dem zweiten zusammen. Wenn an einem Punkt die Auseinandersetzungen dazu führen, dass größere Teile der Bevölkerung dergestalt von dem Konflikt erfasst werden, dass sie das Ge­samtsystem durchschauen und beginnen, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen, dann wird die Sache für die herrschenden Eliten nicht mehr steuerbar und gerät außer Kontrolle, dann läuft ihnen die Bevölkerung davon. So gesehen wird deutlich, dass Regieren mehr heißt, als nur for­mal ein politisches Mandat auszuüben, das per Wahl übertragen wurde. Regieren heißt vor allem, die geistige Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben. Das geht - zumindest in Formaldemokratien - nur auf der Grundlage von WählerIn­nen, die bereit sind, in der politischen Willensbildung den staatlichen RepräsentantInnen zu folgen. Dazu benötigen Staats-PolitikerInnen Ansehen und Autorität, Vertrauen, Legitimation, unhinterfragte Deu­tungshoheit in politischen Fragen (sozusagen zugestanden zu bekommen, dass sie auf dem Feld der Politik die Fachmänner und -frauen sind).

Eine solche Situation vor Augen, dürfte klar werden, warum eine Strategie, die auf die Zusammenarbeit mit zentralen TrägerInnen staatlicher Machtinstitutionen setzt, die Teil des politischen Systems sind, nicht vereinbar ist mit einer Strategie, die auf Unabhängigkeit und Nicht-Zusammenarbeit orientiert.

Denn geht es den einen gerade darum zu sagen, wir dürfen uns auf die PolitikerInnen - egal welcher Couleur - nicht verlassen, weil ihre leeren Versprechungen (in der Opposition) nichts wert sind, so erzeugt die Einladung von prominenten SpitzenpolitikerInnen als Red­nerInnen den gegenteiligen Effekt: Sie werden „beim Wort" genommen, ihnen wird Glaubwürdigkeit entgegengebracht, sie sammeln Sympathiepunkte.

Setzten also die einen darauf, eine Gegenmacht von unten aufzubauen, die ganz andere Strukturmerkmale und Prinzipien verkörpert, so zeigt sich der Protest rund um die Menschenkette als Bündnispartner staatstragender Parteien und damit als taktischer Mitspieler des herrschenden Politikbetriebes.

Eine Bewegung, die auf Unabhängigkeit bedacht ist, die für Selbstorganisation steht, die egalitäre Strukturen propagiert und Konsensentscheidungen praktiziert, ist schlicht unvereinbar mit einer Partei, die Stell­vertreterpolitik macht, hierarchisch strukturiert ist, in der Fraktionszwang und Mehr­heitsverhältnisse herrschen, deren Spitzenpersonal von den ökonomischen Interessen der Konzerne korrumpiert ist. Es ist deshalb nicht nur aus strategischen Gründen geboten, Parteien eine Abfuhr zu erteilen, es ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit gegenüber unseren eigenen Werten.

Aus der Perspektive einer unabhängigen Strategie geht es darum, den politischen Preis (für die Durchsetzung der AKWs) soweit in die Höhe zu treiben, dass die Herrschenden ihre Pläne fallen lassen (müssen). Je mehr Menschen das System selbst in Frage stellen, desto größer ist der Druck, den der Widerstand erzeugt.

Ein entscheidender Punkt ist erreicht, wenn eine Bewegung für das herrschende politische System unberechenbar wird, wenn dessen Krisen-Instrumentarium versagt und das Heft des Handelns aus der Hand ge­rät. Das ist dann der Fall, wenn ein Konflikt weder unterdrückt noch durch Integration bestim­mter Teile der Bewegung in herrschende Bahnen gelenkt noch durch Teil-Zugeständnisse in den Forderungen ruhiggestellt werden kann. Eine unversöhnliche, eine unregierbare Republik eben.

Ein Teil der Anti-Atom-Bewegung, wie sie sich größtenteils am 24.4. um die Menschenkette herum gezeigt hat, hat sich nicht als politisch eigenständige Kraft gegen die Herrschafts- und Machtstrukturen gestellt, sondern ein taktisches Spielchen innerhalb des parlamentarischen Systems betrieben: Opposition gegen Regierung in Stellung bringen; auf die Land­tagswahl in NRW orientieren. Von einer Bewegung unter solchen politischen Vorzeichen geht nicht die Gefahr der Un­regierbarkeit aus. Im Gegenteil: So wie der Aktionstag angelegt war, hat sie dem politischen Management eine Menge Möglichkeiten gelassen, den Protest zu entschärfen: Ab­schaltung von ein bis zwei der ältesten Reaktoren, Übertragung der Restkontingente auf andere Meiler, gleichzeitige Zu­sicherung längerer Laufzeiten für andere Reaktoren. SPD und Grüne übernehmen den Part der Abbremsung des Widerstandes, treten als Vermittlungsin­stanz auf. In NRW kommt es [voraussichtlich] zur großen Koalition aus SPD und CDU, aufgrund derer die SPD im Lichte ihrer neuen Regierungsver­antwortung und die Arbeitsplätze im Blick für Mehr-Zeit-Lassen beim Ausstieg plädiert, nicht ohne von RWE und Co. mit finanziellen Zuwendungen oder Anstellungsverträgen für die Zeit nach der politischen Karriere üppig bedacht worden zu sein.

Der emanzipatorische Aspekt

Die Anti-Atom-Bewegung war bislang unabhängig und emanzipatorisch. Eine Bewegung, die die eigene Krafterfahrung ermöglichte, in der ganze Generationen zu eigenverantwortlichem politischen Handeln ermutigt wurden, unzählige Gruppen, die sich selbst zu politischer Veränderung ermächtigt haben; in der wunderbare Menschen auftauchten mit einer erfrischenden Respektlosigkeit vor falschen Autoritäten, in der wir gelernt haben, unsere Angst vor staatlichen Autori­tätspersonen abzulegen und ih­nen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen: vor den Gerichten, vor der Polizei, vor PolitikerIn­nen.

Auch in dieser Hinsicht ist die Kungelei mit Parteien und Spi­tzenpolitikerInnen verkehrt; wird doch dem Irrglauben Vorschub geleistet, dass es letzt­lich auf die PolitikerInnen ankäme; dass sie es seien, die für unser Anliegen zuständig sind und für die Umsetzung unserer Forderungen „letztlich" sorgen würden. Statt das eigene politische Handeln als die entscheidende Instanz der Veränderung zu begreifen, werden Hoffnungen auf PolitikerInnen im Parlament gerichtet.

BerufspolitikerInnen bedienen sich nur allzu gerne dieser Hoffnungen, indem sie sich als parlamentarischer Ansprechpart­ner außerparlamentarischer Bewegungen anbieten. Denn damit geht für sie ein Bedeu­tungsgewinn einher. Nicht von ungefähr gab Trittin denn auch zum Besten: „Die Anti-AKW-Initiativen kämpfen wieder gemeinsam mit uns, weil sie erkannt haben, dass dies der schnellste Ausstieg der Welt ist."5)

Was wir gelernt haben, Lektion 1: Atomkonsens war eine gute Sache

Es ist ein unglaublicher Vorgang: Da organisiert die Anti-Atom-Bewegung eine der größten Aktionen der letzten Jahre und ausgerechnet den politischen Haupt-Verantwortlichen des sog. Atomkonsenses wird die Gelegenheit gegeben, ihren Deal mit der Atomindustrie als großen Fortschritt hinzustellen. Und Teile der Anti-Atom-Bewegung machen sich die Verteidigung dieser faktischen Bestandsgarantie noch zu Eigen! Entgegen dieser Ansicht muss klar gestellt werden, dass unter Rot-Grün kein Ausstieg in die Wege geleitet wurde. Weder der Baustopp neuer AKWs geht auf den Atomvertrag zurück noch ein schnelleres Ende. Unter Rot-Grün wurden die Zwischenlager an bestehenden AKWs genehmigt, die der Atomindustrie die Luft verschafften, ihre abgebrannten Brennelemente unterzubringen. Der Atomvertrag hat überhaupt erst dazu geführt, dass die Atomindustrie die Laufzeiten entsprechend der produzierten Strommengen flexibel gestalten konnte, nachdem die bis dahin anlagenbedingte Betriebsdauer 25 Jahre betrug. Es wurden eben keine Restlaufzeiten, sondern Reststrommengen festgelegt. Ein Beispiel dieses Vorteils ist die jüngste Übergabe der „Reststrommenge" des 2003 stillgelegten AKWs Stade (4,8 Terrawattstunden), die RWE von E.on gekauft hat und mit der sich Biblis A unter Volllast für mindestens ein halbes Jahr weiterbetreiben lässt.

Aber mehr noch als durch diesen Verfahrenstrick hat der Atomvertrag vor allem unter politischen Gesichtspunkten zum „ungestörten Betrieb der Anlagen" beigetragen, wie es im Atomvertrag von der Bundesregierung zugesichert wird. Dazu hat die rot-grüne Bundesregierung mit ihrem atomkriti­schen Image auf besondere Weise beigetragen. Durch den mit viel Tamtam verabschiedeten „Atomkonsens" wurde der Konflikt um die Atomkraft entschärft, ein Teil des gesellschaftlichen Protestes befriedet, und dem Weiterbetrieb der Atomanlagen eine neue Akzeptanz verliehen. (6)

Die Vorstellung vieler ist, dass die rot-grüne Bundesregierung der Atomindustrie Zugeständnisse abgerungen hat und es im Ringen um konträre Positionen zu einer Art Mittelweg gekommen ist. Genau dieses Bild vermittelt ja das täuschende Wort Konsens. Dass dem nicht so war, kommt klar im Kommentar des Chefredakteurs der Hannoverschen Zeitung, W. Mauersberg, vom 16.6.2000 zum Ausdruck, eines Atomenergie-Befürworters:

„... Neben­bei hat die rot-grüne Bundesregierung beurkundet, daß sie den Betrieb der Kraftwerke für verantwortbar und sicher hält, so daß keine wesentlichen neuen Sicherheitsvorkehrun­gen benötigt werden. Wenn die deutschen Kernkraftwerke so sicher sind, daß sie ohne Probleme noch Jahrzehnte betrieben werden können, leuchtet jedoch nicht ein, weshalb Deutschland in Zukunft über­haupt auf Kernenergie verzichten soll...

Aus Sicht der Konzerne stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis. Außer verbalen Zugeständnissen, die sie außerdem noch mit einem Vorbehalt versehen haben, mußten sie auf so gut wie gar nichts verzichten, dürfen sogar ihre immensen Geldrücklagen behalten. Da­für, daß sie ihre Unterschrift unter ein Papier mit der Überschrift ‚Ausstieg' gesetzt haben, bekommen sie von der Re­gierung ein umfassendes Leis­tungspaket, das Roten und Grünen noch viel Ärger mit ih­ren eigenen Anhängern einbringen wird. Denn die werden sich von dem merkwürdigen Produkt nicht täuschen lassen, bei dem außen auf der Pac­kung ‚Ausstieg' steht und innen ein ungestörter Weiterbetrieb der Atomenergie enthalten ist."

Man stelle sich vor, dieser Atomvertrag wäre mit gleichem Inhalt von einer CDU-FDP Regierung verhandelt worden. Es hätte ihn niemand als eine Referenz an die Anti-AKW-Bewegung angesehen.

Was wir gelernt haben, Lektion 2: Jeder politische Verrat wird uns verziehen

Wohl zur Überraschung des HZ-Kommentators hat sich seine Vorhersage nicht bewahrheitet. Weder haben die Anhänger von Rot-Grün die Packung durchschaut noch den Verantwortlichen in der Folge Ärger beschert. Schlimmer noch: Sie werden nicht nur von ihren Par­teianhängerInnen dafür gefeiert, sondern sogar, wie jetzt auf der Menschenkette geschehen, von der Anti-Atom-Bewegung in ihre Reihen aufgenommen, auf dass sie sich als PartnerIn­nen im Kampf gegen Atomkraft empfehlen können. Paradoxer geht es nicht mehr!

Angesichts des realen Outputs des Atomvertrages und unter dem Gesichtspunkt der Maßgabe, es den Herrschenden politisch so teuer wie möglich zu machen, müsste ihnen die gegenteilige Botschaft entgegenschlagen: Ihr seid unglaubwürdig, wir sind wütend auf euch, wir wollen Taten sehen statt Worthülsen hören. Es wäre ein politischer Flurschaden gerade für SPD und Grüne, wenn die viele Tausende mobilisierende Anti-Atom-Bewegung, aus der heraus sie z.T. ihre (historische) Identität begründet haben, sagen würde: Weil wir seit Jahren verarscht werden von euch, habt ihr bei uns verschissen. Wir entziehen euch die Legitimation, euch in unserem Namen mit dem Atomausstieg zu profilieren!

Man stelle sich vor, eine rot-grüne Landes- oder Bundesregierung wäre vor die Situation gestellt, ein Endlager zu genehmigen oder es zu verbieten, die Fraktionen kämen zusammen und würden es intern diskutieren. Die Antwort auf die Frage, wie hoch der politische Schaden für den Fall der Genehmigung sein würde, müsste lauten: Das können wir uns politisch nicht leisten; unsere Glaubwürdigkeit wäre irreparabel beschädigt; das würde uns die Anti-Atom-Bewegung nicht verzeihen; wir müssen mit einer großen Abwanderung der WählerInnen rechnen. Stattdessen machen sie die gegenteilige Erfahrung: Wir können uns verhalten, wie wir wollen, unser politischer Schaden ist gering, .ausgestrahlt wird uns das Nest warm halten.

.ausgestrahlt - es reicht!

Die Anti-Atom-Organisation .ausgestrahlt stieg nicht wie Phoenix aus der Asche in der Anti-Atom-Bewegung auf. Aber mit dem Mobilisierungserfolg vom 24.4.2010 ist ihr qua­si über Nacht der Durchbruch von einer Organisation, die einen bestimmten Teil der Bewegung angesprochen hat, zum zentralen bundesweiten Akteur der Anti-Atom-Bewegung gelungen. Sie ist damit nicht mehr ein Akteur unter vielen anderen, sondern einer mit einer herausragenden Stellung aufgrund seiner großen Mobilisierungs­kapazität. Die Entwicklung von.ausgestrahlt nimmt bedenkliche Formen an. Wenn man die Fahnen anschaut, wie sie alle das .ausgestrahlt-Logo enthalten, wenn man sich das „Merchandising", also den Verkauf ihrer Palette von Beiprodukten, anschaut, dann erinnert einen das daran, wie Marken aufgebaut werden. Auch die Finanzkraft von .ausgestrahlt ist beträchtlich. Wir haben es mittlerweile miteiner Anti-Atom-Organisation zu tun, in deren Händen sich viele Mittel konzentrieren. Damit ist die Situation eingetreten, dass ein Akteur der Anti-Atom-Bewegung Aktionen beschließen kann, ohne auf die Zustimmung anderer, vor allem kritischer Gruppen angewiesen zu sein. Sollte es dazu kommen, dass .ausgestrahlt seine schon geäußerte Absicht umsetzt, im Herbst eine zweite Menschenkette im Süden zwischen dem AKW Neckarwestheim und dem AKW Biblis aufzuziehen, wäre das eine Provokation für Anti-Atom-Gruppen im Südwesten, denn von dort kommt deutlicher Widerspruch zu diesem Plan.

Mit der Entscheidung, die Parteien an der Menschenkette zu beteiligen und die Auftritte der Redner Gabriel, Trittin und Ernst zuzulassen, hat „.ausgestrahlt" die Grenze des Tolerier­baren überschritten. .ausgestrahlt-Sprecher Jochen Stay hat dies mit den Worten gerechtfertigt, Parteien müssten, wenn man eine Breite wolle, da­bei sein. Sie wären aber nicht dominant. Entweder macht er sich was vor oder wollte den Eindruck bewusst verdecken - es hätte ja was Anrüchiges.

Gewiss waren sie nicht dominant in dem Sinne, dass sie im Trägerkreis der Menschenkette personell die Mehrheit gestellt hätten - sie waren wohl dort überhaupt nicht vertreten; es lässt sich aber nicht leugnen, dass fast die gesamte Medienwirkung dieses Tages von SPD und Grünen bestimmt und damit der Aktion ihr politischer Stempel aufgedrückt wurde.

Außerdem haben insbesondere SPD und Grüne viel Geld für die Menschenkette und Biblis gespendet. Mit welchem Betrag genau haben sie sich so kurz vor der NRW-Wahl kenntlich gezeigt dafür, so eine große Werbebühne zur Verfügung ge­stellt zu bekommen? Wie kam der Deal zustande, dass Trittin und Gabriel als Redner nominiert wurden? Wurden sie eingeladen oder forderten sie das ein? Mit welchen „Argumenten"? Wer hat darüber entschieden?

Man muss sich fragen, von welcher politischen Haltung .ausgestrahlt geleitet wird, wenn offensichtlich jede Distanz zu den RepräsentantInnen des herrschenden Staatsapparates aufgegeben wird. Welches Verständnis von Gewaltfreiheit hat eine sich selbst ge­waltfrei bezeichnende Organisation, wenn sie mit prominenten VertreterInnen staatlicher Macht, die für das staatliche Gewaltmonopol und die repressive Unterdrückung von Widerstand stehen, gemeinsame Sache macht? Warum hat diese Organisation keine Bedenken, mit PolitikerInnen zusammenzuarbeiten, die politisch mitverantwortlich für Kriegsverbrechen sind, welche die Bundeswehr im Kosovo oder Afghanistan verübt (hat)?

Mit Verlaub, KollegInnen: Gewaltfreiheit kann bei euch nicht grundsätzlich gemeint sein. Wer immer Gewaltfreiheit grundsätzlich meint, kann nicht trennen z.B. zwischen Friedens- und Anti-Atom-Politik; der/die kann nicht PolitikerInen als FreundInnen der Anti-Atom-Sache behandeln - nur weil diese gerade in der Opposition sind und aus parteitak­tischen Gründen wieder kämpferische Töne anschlagen - wenn diese gleichzeitig den po­litischen Auftrag für den kriegsbedingten massenhaften Mord an Menschen (in Afghanistan) erteilen. Solcher Art Gewaltfrei­heit ist nicht stimmig.

Die Anti-Atom-Bewegung muss sich emanzipieren, von Parteien und auch von .ausgestrahlt. Ich fürchte, dass .ausgestrahlt nicht von sich aus von seinem Kurs abrücken wird. Der Unmut über ihre Politik artikuliert sich aber allerorts und viele Menschen suchen nach eigenständigen Aktionen.

Auf diesen Aktionen sollte es selbstverständlich sein, dass SpitzenpolitikerInnen weder reden noch dass ihre Anwesenheit gewünscht wäre. Es sei denn, sie kämen bescheiden als integere Menschen und nicht in Parteifunktion. Sich bescheiden einzureihen würde u.a. bedeuten, bewusst keine Interview-Statements zu geben, die mit dem Thema der Demo/Aktion zu tun haben, sondern die Medien auf die Stimmen der Be­wegung zu verweisen.

Es geht nicht darum, Mitglieder von Parteien per se von Ak­tionen auszuschließen. Wir wissen zwischen Parteibasis und SpitzenpolitikerInnen zu unterscheiden. Aber: Sie sollen als Atomkraft GegnerInnen kommen und nicht als Partei-VertreterInnen. Das würde auch beinhalten, die Partei-Fahnen zu Hause zu lassen. Auf immer eingeprägt ist mir der Moment, wie wir im Morgengrauen des 4. Juni 1980, am Tag der Räumung der Bohrstelle 1004, nach nächtlicher Fahrt ins Wendland hineinfuhren und am Eingang eines Dörfchens an ei­nem Wahlplakat einer Partei vorbeikamen (ich weiß nicht mehr, welche es war, es ist auch egal), auf dem quer drüber gesprüht stand: „Wir glauben euch sowieso nichts mehr."

Herrlich! Da war sie wieder, Fil­bingers unregierbare Republik! Sie hatte Schule gemacht. Und wieder erklärte ein CDU-Ministerpräsident: Gorleben ist politisch nicht durchsetzbar. Besinnen wir uns auf unsere Stärke. Auch wenn 30 Jahre vergangen sind, die Essentials bleiben!

Bernd Sahler

Anmerkungen:

1) http://linksunten.indymedia.org/en/node/1950

2) www.bi-luechow-dannenberg.de/chronologisch/pressemitteilungen/bi-umweltschutz-kundigt-neue-anti-atom-proteste-an-wir-lassen-uns-nicht-an-die-kette-legen

3) BI Lüchow-Danneberg, BI Uelzen gegen Atomanlagen, contratom, Initiative gegen Leukämie Geesthacht u.a.

4) Interview: Aktionen rund um den Tschernobyl-Jahrestag. Redaktion RadioAktiv (Sender Freies Sender Kombinat Hamburg (FSK), 16.4.2010, www.freie-radios.net/portal/content-php?id=33494

5)   www.br.online.de/bayrisches-fernsehen/rundschau/atomkraft-protest-menschenkette-ID1272043984684.xml

6)  Siehe dazu meinen Beitrag: „Konsens als Waffe der Herrschenden", in: Konsens. Handbuch zur gewaltfreien Entscheidungs­findung. Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden 2004, S. 161-166; unter dem Titel „Atomkonsens. Eine Waffe der Herrschenden" in: GWR 293, Nov. 2004

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 350, Sommer 2010, www.graswurzel.net