Die Meldungen stehen nebeneinander. Zu Monatsbeginn haben die USA offiziell ihren unseligen Krieg in Irak beendet. Nicht ganz, 50.000 Mann sollen bis Ende 2011 im Lande bleiben, angeblich als Berater und Ausbilder für irakische Sicherheitskräfte. Obama war klug genug, diese Verwandlung nicht als Sieg zu verkaufen. Seit Bush den Überfall befahl, gab es alles in allem etwa 1,1 Millionen Tote und 4,5 Millionen irakische Flüchtlinge, davon innerhalb des Irak 2,6 Millionen und ins Ausland 1,9 Millionen. Das sind die Resultate der ethnisch-religiösen „Säuberungen" und Vertreibungen, die allesamt nach der US-Besatzung einsetzten. Das faktische Scheitern dieser USA-Kriegspolitik in der islamischen Welt wurde nun aber nicht mit Fluchtbildern wie aus Saigon 1975 untermalt, sondern es fand eine Flaggenzeremonie in Anwesenheit des US-Vizepräsidenten statt. Die Fahne kaschiert das Scheitern.
Zur gleichen Zeit blasen die antidemokratischen Rechten in den USA zur Zusammenrottung in New York am „Ground Zero" am 11. September, nicht etwa zum Zwecke stillen Gedenkens, sondern um gegen eine Moschee bzw. ein muslimisches Gebetshaus zu protestieren, das in der Nähe dieses Ortes errichtet werden soll. Ein christlicher Haßprediger namens Terry Jones will am 11. September in Florida hunderte Exemplare des Koran verbrennen lassen. Außenministerin Clinton warnt davor ebenso wie hohe Militärs, weil dies haßerfüllte Gegenreaktionen in der islamischen Welt zur Folge haben würde, doch die Zündler wollen sich nicht abhalten lassen: „Als kleine Kirche, die in einer kleinen Stadt Bücher aus ihrem Besitz auf ihrem eigenen Gelände verbrennt, sind wir nicht verantwortlich für gewalttätige Reaktionen, die irgendjemand als Vergeltung für unseren Protest unternimmt." Es scheint, als hätte der US-amerikanische Politologe Samuel Huntington mit seinem „Kampf der Kulturen" 1993 die Titelmelodie vorgegeben, und jetzt wird im Westen an der Orchestrierung gearbeitet.
Auch in Deutschland. Glaubt man den Medien, gedruckten wie gesendeten, diskutieren alle über Thilo Sarrazin und sein Buch: „Deutschland schafft sich ab". Zwischenzeitlich war der Titel nicht sofort lieferbar, die Auflage bewegt sich längst im sechsstelligen Bereich und das Werk erklimmt Spitzenplätze auf den Bestsellerlisten. Der Grundtenor: Die islamische Gefahr steht jetzt nicht vor den Toren des christlichen Abendlandes, wie einst der Türke vor Wien, sondern sie ist längst bei uns eingesickert, kriecht in die Poren unserer Gesellschaft und verwandelt sie bzw. uns, islamisch natürlich. Der Deutsche hat das Nachsehen. In den Bewertungen durch Leser bzw. Diskutanten auf den Webseiten großer Medien erhält das Buch meist fünf Sterne, also ein „Sehr gut". Es heißt, endlich spreche einer aus, was viele denken. Währenddessen hat die politische Klasse den Daumen gesenkt; Sarrazin soll aus dem Bundesbankvorstand entfernt und aus der SPD ausgeschlossen werden. Die üblichen Demonstranten halten Schilder hoch: „Sarrazin halt's Maul", die politische Korrektheit waltete bereits in einem Stadium, als kaum jemand mehr gelesen hatte als auszugsweise Vorabdrucke, ob aber eine wirkliche Debatte stattfindet zu den sozialen, kulturellen und politischen Zuständen dieser Gesellschaft, darunter zum Thema: Zuwanderung und Integration, ist offen.
Ob das Buch Sarrazins dazu beiträgt oder eher das Ressentiment der Fremdenfeindlichkeit bedient, ist hier nicht mein Thema. Mich interessiert zunächst, weshalb es derzeit eine derartige Medien-Allgegenwart dieses Mannes und seines Buches gibt. Im Jahre 2006 erschien ein Buch zum selben Themenkomplex: Henryk M. Broders „Hurra, wir kapitulieren! Von der Lust am Einknicken". Darin kritisierte er die Haltung der Regierungen Europas gegenüber Islamisten und meinte, die linken Intellektuellen in Deutschland würden gegenüber dem Islam Zurückhaltung und Selbstzensur üben. Der Westen würde sich gegenüber islamistischen Vorgaben beugen, aus Angst, Islamisten zu provozieren. Das Ergebnis sei ein einseitiger „Dialog der Kulturen", der unsinnig sein müsse, weil Respekt, Rücksichtnahme und Toleranz nicht die richtigen Mittel im Umgang mit Kulturen seien, die sich ihrerseits respektlos verhielten. Das Buch ging über die Ladentische, es gab jedoch keine große öffentliche Debatte. Jetzt ist im Internet zu lesen, der Titel sei derzeit nicht verfügbar. Offenbar sind die Restbestände auf der Sarrazin-Welle mitverkauft worden.
Zwei Jahre später, im Februar 2008, brachte „Welt Online" eine Satire, in der mitgeteilt wurde, Henryk M. Broder sei „zum Islam konvertiert". Er hätte erklärt, er gehöre nun „zu den 1,3 Milliarden Muslimen in aller Welt, die chronisch zum Beleidigtsein und unvorhersehbaren Reaktionen neigen. Ich habe das Gefühl, ich bin endlich zu Hause angekommen." Zudem fasziniere ihn die Profession des Haß-Predigers, die in der islamischen Welt eine ungleich höhere Verehrung genieße als „im durch die Aufklärung weichgespülten Deutschland mit seiner Differenzierungskacke". Das konnte ebenfalls jeder lesen, aber es passierte wieder nichts.
Anders jetzt in Sachen Sarrazin. Zunächst brachten der Spiegel und die Bild-Zeitung Vorabdrucke, dann gab es Pressekonferenzen. Der Spiegel schreibt jetzt (36/2010), es hätte drei Wellen der öffentlichen Wahrnehmung gegeben (die er selbst mit initiierte), die Politiker forderten jetzt, die Stimmung in der Bevölkerung aufzunehmen. Pflichtschuldigst wird in dem Titel-Text der Biologismus in Sarrazins Buch kritisiert und ihm attestiert, er sei überheblich. Geschenkt. Die Kampagne aber läuft weiter. Günther Nonnenmacher meint in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Zustimmung, die Sarrazin aus dem Publikum entgegenschlage, gelte nicht seinen schrägen oder falschen Thesen, sondern „einer Zustandsbeschreibung von Sozialstaatsmißbrauch und Integrationsverweigerung, für die fast jeder Beispiele kennt." Und nutzt dies gleich wieder zu einem Seitenhieb gegen die Linken: „Wenn ausgerechnet jene, die in Sachen Umwelt das Hohelied des Bewahrens singen und gegen die ‚Gentrifizierung‘ Berliner Stadtteile wettern, achselzuckend darüber hinweggehen, daß die Lebenswelt alteingesessener Kiezbewohner sich drastisch verändert oder untergeht, läßt sich das nur mit dem Wort ‚Politikversagen‘ beschreiben." Henryk M. Broder sagte dieser Tage über Sarrazin, er sei „ein kluger, zivilisierter, nachdenklicher Mensch, der in der Tat gerne seine Meinungen pointiert zuspitzt. Ein durchaus positiver Eindruck."
Die Debatten gehen weiter. Und während die Öffentlichkeit sich für oder gegen Sarrazin ereifert, hat die Bundesregierung ihr „Sparpaket", das vor allem die Armen real belastet und für die Wirtschaft eher Verhandlungsoptionen offen hält, durchgewinkt, hat Militärminister zu Guttenberg die Weichen in Richtung einer real kriegsführungsfähigen Bundeswehr gestellt und die Kanzlerin den Energiekonzernen zusätzliche Milliardeneinnahmen aus der Verlängerung der Laufzeiten ihrer Atomkraftwerke zugeschanzt. Die Öffentlichkeit, und das gehört wohl zu ihren inneren Logiken, diskutiert zu einem Zeitpunkt immer nur einen Skandal. Und wo Sarrazin ist, kommen die eigentlichen Skandale nicht auf die Tagesordnung. Wenn sich das jemand PR-mäßig ausgedacht hätte, wäre dies ein bemerkenswerter Streich.