Von der Freiheit zur Freiheit der Wahl

Wie der Kapitalismus unser Sexualverhalten formt

Kritik am Kapitalismus richtet sich meist entweder auf strukturelle Aspekte wie Konkurrenz, Monopolbildung, Globalisierung und fallende Profitraten oder auf kulturelle Anomien: dass die kapitalistische Rationalität tatsächlich zutiefst irrational ist; das Aushöhlen verbindlicher Moralvorstellungen; die Organisation der Identität ausschließlich um die ökonomischen Fixpunkte Arbeit und Konsum. Seltener hingegen wird kritisiert, dass der Kapitalismus die von Romantikern wie Konservativen geschätzte Institution der Familie prägt: Frauen verschieben die Mutterschaft, weil sie Karrierepfaden in kapitalistischen Unternehmen folgen; die meisten Mütter arbeiten, weil Arbeit zur Selbstverwirklichung gehört und zwei Einkommen zur Haushaltsführung erforderlich sind. Der Kampf der Frauen zwischen Beruf und Familie und die Streitereien im Schlafzimmer über Kinderbetreuung und Hausarbeit sind also auch ein Ergebnis des Kapitalismus. Und schließlich sind Familienbeziehungen inzwischen fast ausschließlich durch eine in Massenproduktion hergestellte Freizeit organisiert: Urlaub, Filme oder Fernsehen sind das Ergebnis der Kommerzialisierung der Freizeit. All dies sind Beispiele für die Art und Weise, wie sich der Kapitalismus auf die Familienstruktur auswirkt.

Doch vielleicht noch weniger beachtet ist die Tatsache, dass der Kapitalismus den scheinbar unberechenbaren Prozess der Paarbildung umgestaltet, das heißt, wie sich Männer und Frauen begegnen, die an Sex und Romantik interessiert sind, wie sie Sex haben und sich dafür oder dagegen entscheiden, sich aneinander zu binden. Der Feminismus hat uns in den letzten 30 Jahren gelehrt, (heterosexuelle) Partnerwahl und Liebeswerben zumeist in Hinblick auf das Patriarchat zu denken. Doch ich möchte behaupten, dass der Kapitalismus eine ebenso mächtige Ursache für das Durcheinander der Liebesbeziehungen ist.

Ein Teil unserer Beziehungen entsteht auf Basis unserer Umwelt (z. B. Beziehungen zu Kollegen), als Ergebnis kultureller Konventionen (z. B. den nervigen Onkel zum Geburtstag einladen), aufgrund unerklärlicher Eingebung (z. B. sich verlieben) oder nach wie vor als Akt des bewussten Willens, z. B. wenn wir uns dafür entscheiden zusammenzuziehen oder zu heiraten. Bis vor kurzem war die Paarbildung fast überall in Europa explizit sozial geregelt: Jean Paul Sartre, der überragende Repräsentant sexueller Freizügigkeit, war mit 23 Jahren verlobt – die Eltern des Mädchens lösten die Verlobung, als er die Zugangsprüfung für das Amt des Gymnasiallehrers nicht bestand (Agrégation). Offensichtlich erfolgte die Paarbildung unter der Bedingung, dass der Mann in der Lage ist, Status und Einkommen zu bieten und wurde demnach sorgfältig überwacht.

Paarbildung, das Zusammensein zum Zwecke der Reproduktion, zur sexuellen Befriedigung und Gemeinschaft, ist eine elementare Dimension von Gesellschaften. Paarbildung erfolgt auf viele mögliche Weisen: aufgrund einer elterlichen oder einer individuellen Entscheidung, sorgfältig überwacht oder zwanglos, rein sexuell oder auf dem Austausch von Geschenken beruhend, im institutionellen Rahmen der Ehe oder außerhalb von ihr, lebenslang oder zeitweise. In vielen vormodernen Gesellschaften ist die Paarbildung von entscheidender Bedeutung für die soziale Ordnung, weil sie Fragen wie die Übertragung von Eigentum, den rechtlichen Status von Frauen und Kindern oder die biologische Reproduktion regelt.

Beziehungen und Paarbildung erfolgen unter den Bedingungen der Ökologie der Wahl; diese ist das Bündel der nicht sichtbaren Kräfte (geographische, soziale, wirtschaftliche), die bestimmen, wer und was uns tatsächlich zur Wahl steht sowie die Art und Weise, auf die wir tatsächlich eine Wahl treffen. Vormoderne Menschen trafen endogame Entscheidungen, sie heirateten Menschen, der gleichen religiösen, ethnischen, nationalen und sozioökonomischen Gruppe. Moderne Menschen haben eine viel größere Auswahl: Angehörige aller Ethnien, Religionen, Nationalitäten, sexuellen Orientierungen, Schichten. Auch wenn in der Praxis letztendlich ein ähnlicher Partner gewählt wird, geschieht dies in einem scheinbar unbeschränkten Markt der Möglichkeiten. Vormoderne Menschen trafen die Partnerwahl auf der Grundlage sozialer Verpflichtungen und Konventionen, moderne Menschen streben danach, ihr inneres Selbst zu verwirklichen. In der Vormoderne fühlte man sich nach einer Liebeserklärung oder einer Zeit des Werbens einander verbunden, moderne Menschen wollen sich alle Optionen offen halten, fühlen sich durch Worte nicht verpflichtet und betrachten selbst nach der Heirat die getroffene Entscheidung als eine offene Frage. Der Kapitalismus wirkt sich auf die Ökologie der Partnerwahl aus: wie Menschen zusammenkommen, einander begegnen und Entscheidungen für oder gegen Beziehungen treffen.

Die vormoderne Ehe war für Männer ebenso wichtig wie für Frauen, um ihren sozialen Status festzuschreiben, Grundbesitz zu erwerben, einen Haushalt zu führen und Kinder zu bekommen. Das Patriarchat war aufs Engste mit der Institution der Familie verknüpft. Im Kapitalismus verkaufen Männer ihre Arbeitskraft auf dem Markt, ihr ökonomisches Überleben ebenso wie der soziale Status und die männliche Identität sind länger von der Familie abhängig. Vielmehr besteht das Patriarchat in kapitalistischen Gesellschaften darin, über Menschen – Männer und Frauen – in Unternehmen zu verfügen. In kapitalistischen Patriarchaten behaupten sich Männer durch Unabhängigkeit und soziale (nicht patrimoniale) Herrschaft.

Frauen haben im Kapitalismus einen viel ambivalenteren Status. Weil sie weniger in die Ökonomie integriert sind und Mutterschaft eine enorme Rolle in der Selbstdefinition von Frauen spielt, sind sie viel stärker als Männer auf die Institution der Familie angewiesen. Es entsteht eine neue Situation: Männer behaupten ihre Männlichkeit in einer Welt voller konkurrierender Männer, während Frauen mit „Heiraten“ und Kindern beschäftigt sind. Gleichzeitig ist die Auswahl für Männer erheblich größer, weil Sexualität nicht länger mit der Ehe verknüpft ist und asymmetrische soziale Normen Männer in die Lage versetzen, sich für wesentlich jüngere Partnerinnen zu entscheiden. Frauen, die für ihre sexuelle Freiheit und Gleichberechtigung kämpften, begegnen nun Männern auf einem Schauplatz, auf dem es hinsichtlich der Sexualität kaum Einschränkungen, Normen und Tabus gibt. Jungfräulichkeit, Ethnie, Religion, sogar sozialer Stand spielen zumindest der Form nach keine Rolle bei der Auswahl der Sexualpartner. Es ist also so, dass a) Männer sowohl mehr Zeit als auch mehr Wahlmöglichkeiten haben; b) Sexualität ein Zweck an sich ist und Paarbindung in Form von Geschlechtsverkehr erfolgt; c) nicht nur sozialer Stand (Bildung), sondern viele Kompatibilitätskriterien – sexuelle, psychische, emotionale, Lebensweise – für eine Partnerwahl erfüllt werden müssen. Die Partnerwahl wird so zu einem komplexen Prozess des Vergleichens, der formaler und regelgebundener ist als das informelle Entstehen von Bindungen durch wiederholte Interaktionen. Bei heutigen Verabredungen wird die Wahlmöglichkeit stark betont. Mehr noch als in der Konsumsphäre verlangt die zeitgenössische Kultur der Sexualität und der Paarbildung das Ausüben einer Wahl, die Vorstellungen von Freiheit verändert. Freiheit ist das Vermögen, über sich selbst zu bestimmen, unabhängig zu sein, dem eigenen Verstand und Ansprüchen zu folgen. Wahlfreiheit steht für das Vermögen, etwas zu optimieren, das beste Angebot herauszufinden.

Der vormoderne Mensch, der sich mit der ersten verfügbaren Gefährtin, die „gut genug“ war, zufrieden gab, scheint ein Einfaltspinsel im Vergleich zum zeitgenössischen Menschen zu sein, der von der Jugend an ein elaboriertes Set an Kriterien entwickelt, um eine/n Partner/in auszuwählen. In einer Welt der übergroßen Auswahl wird die Partnerwahl durch formale Regeln in einen über-rationalisierten Prozess verwandelt, was besonders auffällig im Bereich des Online-Datings ist. Die romantische Begegnung wird hier zu einer Begegnung zwischen einem überaus anspruchsvollen Verbraucher und einer weiteren Ware auf dem Markt. Das Internet stellt auf einem sehr unübersichtlichen Schauplatz in unterschiedlicher Weise Ordnung her:

Das psychologische Profil ist eine Aufzählung von Eigenschaften, die erkannt und beobachtet werden können und so unbewusste Erfahrungen zum Gegenstand bewusster Überlegungen machen (Intellektualisierung). Da es im Internet eine weit größere Menge an möglichen Interaktionen gibt als im wirklichen Leben, sind die Nutzer gezwungen, Standardtechniken zu entwickeln, um alle Kontakte effizienter verwalten zu können (Rationales Management der Kontakte). Die Tatsache, dass das Feld der Kandidaten tatsächlich auf einen Blick erfasst werden kann, lässt den früher nur virtuell vorhandenen Partnermarkt im Internet real werden. Die Anordnung der verschiedenen Auswahlmöglichkeiten verlangt einen bewussten Auswahlmodus, der aus der ökonomischen Sphäre stammt; Visualisierung ist einer der bedeutendsten Faktoren, der zur Rationalisierung der romantischen Bindung beiträgt. In einem Prozess der Kommensuration werden qualitative Eigenschaften und „Werte“ (sozioökonomischer Status und Bildungsniveau genau so wie das Äußere, das psychologische Profil und der Lebensstil) in quantitative Werte transformiert und somit messbar und vergleichbar. Der offensichtlichste Effekt der Visualisierung ist die Möglichkeit, Ranglisten der potentiellen Partner zu erstellen, um Menschen anhand ihrer vorher gemessenen Eigenschaften zu bewerten und mit anderen verglichen werden kann (Konkurrenzdenken). Das Internet stellt jeden Menschen, der nach jemandem sucht, auf dem freien Markt in einen freien Wettbewerb mit anderen und radikalisiert die Vorstellung, dass (potentielle oder tatsächliche) Partner grundsätzlich austauschbar sind. Schließlich fördert die Technologie in Übereinstimmung mit der Logik der Konsumkultur eine zunehmende Differenzierung und Verfeinerung des Geschmacks, die von dem Bestreben angetrieben wird, die beste Auswahl zu treffen (Nutzenmaximierung). Das Streben nach Maximierung der Ergebnisse ist zu einem Ziel an und für sich geworden und ebenso allgegenwärtig wie die geistige Lähmung, die es auslöst.

Die Aporien von Liebe und Sexualität sind somit Aporien einer zur Wahlfreiheit transformierten Freiheit, die sich in drei Formen äußert: Willensschwäche (dem Fehlen von Wünschen und Begehren), Ambivalenz (dem Begehren zweier gegensätzlicher Objekte) und Bindungsangst (nicht für die Zukunft einstehen zu können). Wahlfreiheit erweist sich so als das Gegenteil von Freiheit, da sie den Willen paralysiert und damit die Möglichkeit von Autonomie untergräbt. Das Subjekt wird unfähig klare und starke Neigungen zu entwickeln, da sich diese nicht in einem Prozess der rationalen Suche und Optimierung entwickeln, sondern in einem dichten Netzes von Bewertungsskalen verankert sind.

 

Eva Illouz ist Soziologin und arbeitet an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sie erforscht gesellschaftliche Einflüsse auf die Bildung von Emotionen und den Zusammenhang von Kapitalismus und Konsumgesellschaft im Hinblick auf die Produktion und Transformation emotionaler Muster. Den Text übersetzte Christiane Graf.