Helga Baumgarten im Gespräch mit Yaak Pabst über die Politik der Hamas und die Voraussetzungen für Frieden im Nahen Osten
marx21: Der israelische
Verteidigungsminister Ehud Barak meint, der Krieg gegen die
Palästinenser in Gaza sei gerecht, weil die Hamas Israel vernichten
wolle. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der Hamas die "alleinige
Schuld" an diesem Krieg gegeben. Was denkst Du darüber?
Helga Baumgarten: In der Geschichtsschreibung werden
üblicherweise die Angreifer als die Schuldigen an einem Krieg
betrachtet. Im Konflikt zwischen dem Staat Israel und den
Palästinensern haben wir eine erstaunliche Verdrehung der Realität: Die
Opfer werden zu Tätern und die Täter zu Opfern. Es wird völlig
ausgeblendet, wer nun wen unter Besatzung hält, wer seit Jahrzehnten
systematisch internationales Recht verletzt, sich ständig über klare
Forderungen der internationalen Gemeinschaft hinwegsetzt und für sich
beansprucht, über dem Gesetz und über dem geltenden internationalen
Recht zu stehen. Das macht Israel und nicht die Hamas.
Aber die Hamas hat doch die Waffenruhe aufgekündigt und Israel mit Raketen beschossen?
Das ist zwar richtig. Aber der Grund dafür war, dass Israel zuvor
seinen Teil der Verpflichtungen nicht eingehalten und die Abriegelung
des Gazastreifens nicht aufgehoben hat. Und nicht nur das: Am 4.
November brach die israelische Armee einseitig die Waffenruhe - ohne
provoziert worden zu sein. Sie zerstörte ein Haus in der Nähe von Deir
el-Balah und tötete sechs Hamas-Mitglieder. Außerdem riegelte Israel
Gaza vollständig ab. Die Versorgungssituation war so alarmierend, dass
UN- und Menschenrechtsorganisationen vor dem Ausbruch einer humanitären
Katastrophe warnten. Die Hamas antwortete auf die israelischen Angriffe
mit der Aufkündigung der Waffenruhe und beschoss israelische Gebiete
mit selbst gebastelten Qassam-Raketen. Die israelische Reaktion darauf
war der Gaza-Krieg. Israel führte ihn mit aller Macht und Brutalität
und ohne das internationale Kriegsrecht, die Genfer Konvention und das
internationale humanitäre Recht zu respektieren. Dieser Krieg war seit
langem geplant und ist ursächlich nicht mit der Aufkündigung der
Waffenruhe verknüpft. Sie bot der israelischen Armee jedoch einen
willkommenen Anlass, um Gaza anzugreifen und zu zerstören.
Der amtierende israelische Ministerpräsident Ehud Olmert behauptet,
auch die humanitäre Katastrophe in Gaza liege in der Verantwortung der
Hamas. Immerhin ist Gaza seit 2005 nicht mehr von Israel besetzt. Die
Hamas selbst würde die Menschen in die Katastrophe treiben. Hat die
Hamas versagt?
2005 hat Israel die Armee an die Grenzen des Gazastreifens abgezogen
und Siedlungen in Gaza abgebaut. Damit hat es aber die Besatzung nicht
beendet. Vielmehr hat sich die Qualität der Besatzung geändert: Israel
hält den Gazastreifen jetzt "besetzt", indem es ihn von außen
vollständig kontrolliert und abgeriegelt hält. Israel übt nach wie vor
die Macht über den Gazastreifen aus. Es kann über den Zugang zu dem
Gebiet und dessen Versorgung mit Elektrizität und Wasser nach Belieben
bestimmen. Israel hält die Ausstellung von Personalausweisen und Pässen
in der Hand und hat eine Seeblockade verhängt. Die Liste könnte ich
beliebig fortsetzen. Damit ist Israel nach wie vor Besatzungsmacht und
trägt damit die volle Verantwortung für die humanitäre Katastrophe in
Gaza.
Bei der von der Hamas gebildeten Regierung beobachte ich immense
Anstrengungen, für die Menschen in Gaza bessere Bedingungen zu
schaffen. Der internationale Boykott und die Abriegelung des
Gazastreifens durch Israel haben dies zu einer regelrechten
Sisyphus-Arbeit werden lassen. Die Hamas hat es jedoch trotz dieser
widrigen Umstände geschafft, eine gewisse Sicherheit für die Menschen
im Alltag herzustellen. Seitdem können die Menschen in Gaza sich frei
bewegen, ohne in Angst vor bewaffneten Überfällen, Entführungen, Gewalt
und Missbrauch zu leben. Sicherheit gegen Angriffe von Außen konnte
sie, wie wir seit dem 27. Dezember tagtäglich erleben mussten, nicht
herstellen.
Die Hamas wird von der Europäischen Union, den USA und anderen
westlichen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft. Kannst Du
dieser Definition folgen?
Eher nicht. Was sind meine Gründe: Die Hamas entstand 1987 aus der
Muslimbruderschaft. Israel hatte in den siebziger und achtziger Jahren
den Muslimbrüdern in Palästina freie Hand gelassen. Sie konnten ihre
religiösen, sozialen und politischen Vorstellungen in der
palästinensischen Gesellschaft unter der Besatzung ungehindert
verbreiten. Israel wollte einen Konkurrenten für die bis dato
hegemoniale PLO und gegen die Fatah aufbauen. Damals nannte Israel die
PLO den "terroristischen Feind". Die erste Intifada hat die Hamas noch
ähnlich wie die verschiedenen Organisationen der PLO geführt. Der
gewaltlose Widerstand wurde akribisch eingehalten. Erst die
Niederschlagung der Intifada durch das israelische Militär hat die
Hamas zusehends in Richtung des bewaffneten Widerstandes getrieben. Bis
1994 war dieser praktisch ausschließlich gegen die israelische Armee
gerichtet.
Als die Hamas israelische Soldaten tötete, wurde sie zuerst von Israel
und kurz danach auch von den USA als terroristische Vereinigung
eingestuft. Die EU folgte dieser Einschätzung zunächst nicht. Sie
differenzierte vielmehr zwischen dem bewaffneten Flügel der Hamas und
der Hamas als einer politischen Bewegung. Erst im Herbst 2003, übrigens
absurderweise gerade zu einem Zeitpunkt, als die Hamas deutliche Fühler
ausstreckte in Richtung EU und wohl auch andeutete, zu einer
Anerkennung Israels bereit zu sein, stempelte die EU die gesamte Hamas
als Terrororganisation ab. Nach dem Wahlerfolg der Hamas 2006 hatte
eben diese Entscheidung von 2003 verhängnisvolle Folgen. Denn zu einer
Terror-Organisation durfte die EU keine politischen Verbindungen
aufnehmen. Damit nahm man der Hamas jede Möglichkeit, als neu gewählte
palästinensische Regierung positiv aktiv zu werden. In Europa war es
lediglich die Schweiz, die mit der Hamas-Regierung diplomatische
Beziehungen aufnahm und sie auch heute weiterpflegt. Als einziger
europäischer Staat wies sie darauf hin, dass die Hamas in freien,
geheimen und demokratischen Wahlen an die Macht gekommen ist.
Wer und was ist die Hamas?
Die Hamas ist eine politische Bewegung. Sie ist eine
religiös-nationalistische Organisation - mehr nationalistisch als
religiös. Ihr Ziel ist die Beendigung der israelischen Besatzung der
palästinensischen Gebiete und die Errichtung eines unabhängigen
Staates. Ich halte die Hamas und ihre gegenwärtige Führung für eine
Partei mit einer eher pragmatischen Ausrichtung. Sie ist bereit zu
Kompromissen. Deswegen sollten mit der Hamas politische Beziehungen
aufgenommen werden. Bis heute ist die Hamas nicht bereit, die
nationalen politischen Ziele der Palästinenser zu verraten. Im
Gegenteil: Für das Ende der Besatzung ist sie bereit, mit Waffen zu
kämpfen. Auch wenn das aus einer Position der vollständigen
Unterlegenheit heraus und vor dem Hintergrund der bekannten
asymmetrischen Machtverteilung in der Region geschieht.
In den westlichen Medien wird davon gesprochen, dass die Hamas
Israel das Existenzrecht abspricht. Will und kann die Hamas Israel
"vernichten"?
Es geht der Hamas nicht um die Zerstörung Israels. Sie kämpft um die
Anerkennung des Existenzrechts der Palästinenser, genauso wie Israel
dies für sich fordert. Zwar ist in der Charta der Hamas noch die Rede
von einem palästinensischen Staat an der Stelle des 1948 errichteten
Staates Israel. Im politischen Programm der Hamas von 2005/06 findet
sich jedoch eine klare Positionierung für einen palästinensischen Staat
in den von Israel 1967 besetzten Gebieten. Die Hamas-Führung bietet
Israel seit Jahren einen langjährigen Waffenstillstand an. Ein solcher
Waffenstillstand setzt die Anerkennung Israels voraus. Wir übersehen
immer wieder, dass kaum ein Palästinenser zugestehen wird, dass Israel
ein Recht hatte, im historischen Palästina als Staat gegründet zu
werden - auf Kosten der palästinensischen Bewohner und Eigentümer des
Landes. Aber praktisch alle Palästinenser gehen davon aus, dass es
einen Staat Israel gibt, der eine politische Realität ist und mit dem
man politische Beziehungen aufnehmen muss. Die PLO hat diese
völkerrechtliche Anerkennung Israels 1993 in den Osloer Verträgen
ausgesprochen. Die Hamas besteht bis dato noch auf einer Anerkennung
Israels im Rahmen eines langjährigen Waffenstillstandes.
Wie steht die Hamas zu Selbstmordattentaten?
Die Hamas führte Selbstmordattentate zum ersten Mal 1994 durch. Sie
waren eine Reaktion auf das Massaker, das ein jüdisch-israelischer
Siedler in der Ibrahims-Moschee in Hebron an betenden palästinensischen
Gläubigen verübt hatte. 29 Menschen wurden von ihm niedergemetzelt. Die
Hamas antwortete mit den ersten beiden Selbstmordattentaten auf
israelischem Boden. Daran schloss sich ein Angebot der Hamas an: Sie
schlug Israel vor, die Zivilbevölkerung aus den Kämpfen herauszuhalten.
Die israelische Antwort war negativ. Die Hamas startete daraufhin eine
Serie von Selbstmordattentaten - zumeist gegen Zivilisten. Im Herbst
1997 stoppte der Gründer der Hamas, Scheich Ahmed Yassin, die
Anschläge. Danach gab es vier Jahre lang keine Selbstmordattentate.
Erst im Frühjahr 2001, nach Monaten der Auseinandersetzungen zwischen
palästinensischen Demonstranten und israelischer Armee, mit Hunderten
von Toten auf der palästinensischen Seite - fast nur Zivilisten (die
israelische Menschenrechtsorganisation Btselem nennt die Zahl von 365
Opfern bis Mitte Februar 2001) - begann die Hamas wieder mit diesen
furchtbaren Selbstmordattentaten, als "Rache" für die von der
israelischen Armee getöteten Palästinenser. Im Frühsommer 2003 folgte
ein erneuter Stopp.
Nach Angaben des israelischen Außenministeriums hatte die Hamas bis
dahin über 200 Israelis, darunter auch viele Zivilisten, getötet. Eine
detaillierte Untersuchung aller palästinensischer Selbstmordattentate
(also nicht nur von der Hamas) gibt für die Periode 2001 bis 2003 die
Zahl von 36 Selbstmordattentaten mit 220 Opfern an. Seitdem setzt die
Hamas zuerst und vor allem auf die Politik - ohne aber die Option des
bewaffneten Widerstandes aufzugeben.
Oft wird übersehen, dass auch andere palästinensische Organisationen
Selbstmordattentate durchgeführt haben, unter anderem die der Fatah
angehörigen al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden. Die Selbstmordattentate auf
Schulbusse, Einkaufsmärkte oder andere zivile Einrichtungen sind nicht
zu rechtfertigen und eine klare Verletzung des internationalen Rechtes.
Sie sind aber auch Verzweiflungsaktionen, die, auch wenn sie nur Leid
erzeugen, ohne einen Weg aus der Unterdrückung zu weisen, gleichzeitig
Ausdruck eines asymmetrischen Konflikts sind, in dem die übermächtige
israelische Armee immer wieder ein Vielfaches an Opfern unter der
palästinensischen Zivilbevölkerung verursacht. Heute können wir nur
hoffen, dass die Hamas nicht wieder zu diesen menschenverachtenden
Selbstmordattentaten greift.
Sari Nusseibeh, der palästinensische Präsident der Al-Quds
Universität in Jerusalem bezeichnet die Gründungscharta der Hamas von
1988 als ein Dokument, das danach klinge, "als sei es direkt dem
'Stürmer' entsprungen". Wie nah liegen die Ideen der Hamas zu den
antisemitischen Hetzparolen der Nazis?
Es gibt in der Charta Passagen, die mit Topoi des europäischen
Antisemitismus arbeiten. Allerdings ist der Vergleich mit dem
Antisemitismus der Nazis eher irreführend. Der arabisch-islamische
Antisemitismus unterscheidet sich grundsätzlich von seinen
christlich-westlichen Vorgängern. Er entstand als Resultat des
iraelisch-arabischen Konfliktes etwa in den fünfziger und sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts und ist die Folge eines realen politischen
Konfliktes über die Verteilung von Land. Seine Grundlage sind nicht
arabische Ressentiments gegen Juden. Vielmehr wurde er als eine Waffe
im Kampf gegen Israel entwickelt. Die wesentliche Komponente des
modernen westlichen Antisemitismus fehlt in der arabisch-islamischen
Version: nämlich der Rassismus.
In der Charta finden sich auch Passagen, in denen es heißt, dass "unter
dem Islam (...) die Angehörigen der drei Religionen Islam, Christentum
und Judentum in Sicherheit und Ruhe miteinander leben" konnten und
können. Wichtiger ist aber, dass die Charta im palästinensischen
Kontext und auch innerhalb der Hamas völlig irrelevant ist. Heute
dominiert das politische Programm der Hamas, in dem keine
antisemitischen Polemiken, welcher Art auch immer, zu finden sind.
Manche werfen der Hamas vor, den Holocaust zu leugnen, und
behaupten, die Hamas sei eine faschistische Organisation. Wie siehst Du
das?
Erst im Mai 2008 hat Bassem Na'im, der Informations- und
Gesundheitsminister der Hamas-Regierung im Gazastreifen, den Vorwurf
der Holocaustleugnung zurückgewiesen. Er schrieb in der englischen
Zeitung Guardian: "Weder die Hamas noch die palästinensische Regierung
in Gaza leugnen den Holocaust der Nazis. Der Holocaust war nicht nur
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern eines der
abscheulichsten Verbrechen der Neuzeit. Wir verurteilen den Holocaust,
so wie wir jedes Vergehen gegen die Menschlichkeit und alle Formen der
Diskriminierung aufgrund von Religion, Rasse, Geschlecht und
Nationalität verurteilen."
Bis heute wird allerdings der Holocaust immer wieder von
Intellektuellen in der arabischen Welt und sicher auch von einzelnen
Hamas-Anhängern als israelische Propaganda abgetan. Wer jedoch die
Hamas als faschistische Organisation bezeichnet, hat sich
offensichtlich nie mit dem Faschismus beschäftigt. Das sind primitive
Polemiken, die jede sachliche Auseinandersetzung verhindern wollen. Der
Faschismus ist verantwortlich für 50 Millionen Opfer im Zweiten
Weltkrieg, die Palästinenser dagegen sind, wie es der ehemalige
deutsche Aussenminister Genscher einmal formuliert hat, die Opfer
unserer Opfer.
Wie steht die Hamas zur Gleichberechtigung von Frauen?
Die Hamas sagt, dass nach dem Koran Männer und Frauen gleichberechtigt
sind. Sie argumentiert weiter, dass die Frau berechtigt ist, gegen
Unrecht und Besatzung zu kämpfen. Weder ihr Mann noch ihre Familie
dürfen sie daran hindern. Ansonsten platziert die Charta der Hamas die
Frau jedoch ausschließlich im Kontext von Ehe und Familie. Inzwischen
hat sich hier vieles verändert. Die soziale Realität in Palästina ist
längst eine andere als jene, die viele der Männer, die die Hamas bis
heute dominieren, gerne sehen. Es scheint vielmehr, dass sich die
Frauen in der Hamas zusehends ihren Platz erobern und sich langsam auch
durchsetzen. Zum anderen sollte nicht übersehen werden, dass viele
Phänomene, die von außen als Aufoktroyierung von Hamas-Vorstellungen
interpretiert werden, einfach Teil einer zutiefst konservativen
Gesellschaft sind und mit der Hamas nichts zu tun haben. Anders
formuliert: Die palästinensische Gesellschaft wird in den nächsten
Jahren sicher noch viele Veränderungen durchlaufen müssen, ehe Frauen
in jeder Hinsicht gleichberechtigte Mitglieder dieser Gesellschaft
sind. Dafür kämpfen viele palästinensische Frauen. Und sie können das
besser, als wenn sich von außen Besserwisser einzumischen versuchen,
die konsequent vergessen haben, welche Probleme Frauen auch in den
Gesellschaften des Nordens bis heute noch haben.
Politiker der Fatah wie Mahmud Abbas werden oft als „gemäßigte"
Palästinenser dargestellt. Haben sie deshalb das Vertrauen der
Bevölkerung verloren?
Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas und die Fatah-Elite in
seinem Umfeld haben das Vertrauen der Palästinenser nicht verloren,
weil sie gemäßigt sind. Sie haben vielmehr das Vertrauen der
Bevölkerung regelrecht verspielt, weil sie korrupt sind. Sie führen ein
Leben, das völlig abgehoben vom Leben und vom Lebensstandard der
einfachen Bevölkerung ist. Sie haben aber auch das Vertrauen der
Bevölkerung verloren, weil sie in den mehr als 15 Jahren seit Aufnahme
des Osloer Verhandlungsprozesses nicht das Geringste erreicht haben.
Ganz im Gegenteil: Die Lage der Palästinenser hat sich seit Oslo 1993
kontinuierlich verschlechtert. Die israelische Besatzung expandierte.
Es wurden mehr israelische Siedlungen gebaut, mehr palästinensische
Häuser zerstört und es wurde mehr palästinensisches Land enteignet.
Ebenso sind tausende von Palästinensern in israelischen Gefängnissen
inhaftiert. Das Oslo-Abkommen hatte versprochen, dass Gefangene
freigelassen würden. Für jeden Freigelassenen aber wurden und werden
zehn andere Palästinenser festgenommen. Seit dem Spätsommer 2006 werden
in israelischen Gefängnissen die Mehrzahl der im Januar 2006 gewählten
Hamas-Abgeordneten und auch zahlreiche ihrer Minister sowie der
Parlamentspräsident festgehalten. Der gegen sie erhobene Vorwurf:
Mitgliedschaft in der Hamas. Inzwischen hält auch die palästinensische
Autorität unter Mahmud Abbas und seinem Premier Salam Fayyad hunderte
von Palästinensern, vor allem Hamas-Anhänger, in ihren Gefängnissen
fest.
Stimmt es, dass die Hamas sich in Gaza an die Macht geputscht hat?
Was Gaza betrifft, ist es etwas abwegig, von einem Putsch zu reden.
Denn die Regierung, die in Gaza sitzt, wurde von der Bevölkerung
gewählt und vom Parlament in ihrem Amt bestätigt. Folgt man der
palästinensischen Verfassung genau, dann ist die Regierung Haniyeh so
lange zur Amtsführung der Regierungsgeschäfte legitimiert, bis der
Präsident eine neue Regierung ernannt hat und dieser vom Parlament das
Vertrauen ausgesprochen wurde. Und eben dies ist bis heute nicht
geschehen. Wir haben also im besten Fall eine Regierung in Gaza, deren
Legitimität in Frage steht, genau wie wir eine Regierung in Ramallah
haben, deren Legitimität umstritten ist. Letztendlich ist es eine Frage
der Macht und der Unterstützung von außen. Da der gesamte Norden, allen
voran die USA und die EU, Salam Fayyad und Mahmud Abbas unterstützen,
ist deren Position eine weit stärkere als die der Regierung Haniyeh in
Gaza, die dort eingesperrt ist, deren Abgeordnete im Westjordanland in
israelischen Gefängnissen festgehalten werden und die vom Norden
boykottiert wird.
Was passierte dann in Gaza im Juni 2007?
Die Fatah, die bis dato alle Sicherheitsorgane in Gaza kontrollierte,
weigerte sich, diese Verantwortung an die Hamas-Regierung zu übergeben.
Und nicht nur das: Mit direkter und massiver amerikanischer
Unterstützung wurden die Fatah-Milizen vorbereitet für einen Coup gegen
die gewählte Hamas-Regierung. Die Hamas kam diesem Coup mit einem
massiven Schlag gegen die Fatah-Milizen zuvor. Diese wurden ebenso wie
ihre Anführer und wie eine Reihe politischer Führungspersönlichkeiten
der Fatah im Juni 2007 aus dem Gazastreifen vertrieben.
Nun kann man sicher darüber diskutieren, wie und mit welchen Mitteln
die Hamas gegen die Fatah vorging. Und man muss ganz massiv Kritik
daran üben, dass nicht nur Militante, sondern auch Zivilisten
angegriffen und getötet wurden. Von Fällen der Folter ist ebenfalls die
Rede. Deshalb gab und gibt es nicht zuletzt innerhalb der Hamas viel
Kritik an dem, was im Juni 2007 in Gaza geschehen ist.
Der Konflikt erscheint vielen als nie endende Gewaltspirale. Müssen
sich die Palästinenser von der Hamas lossagen, damit es Frieden in der
Region gibt?
Nun, es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Wir vergessen leider sehr
schnell, wie sich die Geschichte entwickelt hat. Israel hat die
palästinensischen Gebiete 1967 besetzt. Damals gab es keine Hamas. Es
gab aber Verhandlungs- und Lösungsangebote aus Jordanien. Der ehemalige
US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger schreibt, dass er nicht
verstehen könne, wie Israel die Friedens- und Kooperationsmöglichkeiten
mit dem jordanischen König Hussein habe abschlagen können. Seit Mitte
der siebziger Jahre hat die PLO unter Yasir Arafat die Fühler in
Richtung einer Verhandlungslösung mit Israel ausgestreckt. Der
inzwischen verstorbene israelische Politologe und frühere militärische
Abwehrchef Yehoshafat Harkabi argumentierte in seinem Buch „Fateful
Decisions", dass Israel mit der PLO eine Verhandlungslösung erreichen
und Frieden schließen könne und müsse - auf der Basis eines
vollständigen Abzuges aus den 1967 besetzten Gebiete. Nichts
dergleichen ist passiert. Auf der palästinensischen Seite sind die
Positionen deswegen klar abgesteckt. Man fordert den vollständigen
Abzug der israelischen Armee, ein Ende der Besatzung und die Freiheit,
einen unabhängigen palästinensischen Staat zu errichten. Damit stehen
die Palästinenser voll auf der Basis der UN-Sicherheitsratsresolution
242 vom November 1967. Strittig sind die Positionen zur Rückkehr der
1948 vertriebenen Palästinenser aus dem Exil und die Zukunft der
israelischen Siedlungen. Hier sind Mahmud Abbas und seine Fatah-Elite
sehr viel kompromissbereiter als die Hamas, aber auch als die winzige
palästinensische Linke. Die Bevölkerung steht dabei sehr viel eher
hinter der Hamas und den Linken als hinter Abbas. Man will endlich die
Siedlungen mit ihren immer gewalttätigeren Siedlern loswerden. Vor
allem aber besteht man auf dem Recht der Rückkehr für die Palästinenser
im Exil.
Frieden in der Region kann es letztendlich nur geben, wenn diese für
alle verhängnisvolle Besatzung endlich beendet wird. Und Frieden kann
und soll man mit allen Palästinensern schließen - egal, ob von der
Fatah oder von der Hamas oder von einer Regierung der nationalen
Einheit angeführt. Der politische Wille dafür scheint allerdings bei
den israelischen politischen Eliten derzeit nicht vorhanden zu sein.
Zur Person:
Helga Baumgarten lebt in Ostjerusalem und ist Professorin für
Politikwissenschaft an der palästinensischen Universität Bir Zeit. Sie
ist Autorin von "Hamas. Der politische Islam in Palästina" (Diederichs
2006).
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