Paradigmenwechsel in der Ostdeutschlandforschung.

Eröffnungsbeitrag auf dem Workshop des Netzwerks Ostdeutschlandforschung am 8. April 2005

Für unsere Initiative "Ostdeutschlandforschung" gab es zwei Ausgangspunkte. Zunächst den Eindruck, daß die Entwicklung in Ostdeutschland einige Rätsel aufgibt, ...

die man nur schlecht lösen kann, wenn man sagt: Es wird schon werden, es dauert nur länger, kostet etwas mehr und muß besser kommuniziert werden.
Zweitens aber auch den Eindruck, daß es einen zunehmenden Unwillen gibt, die empirische Sozialforschung in Ostdeutschland als Herausforderung und Möglichkeit für Erkenntnisse und Gestaltungsperspektiven anzunehmen und weiterzuentwickeln. Während der Osten Anfang der 1990er Jahre "in" war und sich viele auf das neue Feld und die dazu aufgelegten Drittmittelprogramme stürzten, wird die Ostdeutschlandforschung heute zuweilen als Sackgasse behandelt. Globalisierung ist wichtiger - aber sind wir hier nicht mittendrin?

Bedenklich scheint, daß wir noch mehr als vor zehn Jahren von der Hand in den Mund forschen, daß die Situation schlechter ist, als sie zu Zeiten der KSPW und der Sonderprogramme der DFG und anderer Stiftungen war. Anfangs standen der Untergang des Staatssozialismus, die Aufarbeitung der SED-Diktatur, der Institutionentransfer und die Transformation als Wechselwirkung transferierter Institutionen, mitgebrachter Verhaltensmuster und Mentalitäten sowie der Vergleich zwischen den verschiedenen Transformationsstaaten auf der Agenda, da gab es noch vergleichsweise gute Forschungsfinanzierungen. Heute, wo es darum geht, die Entwicklung der ostdeutschen Regionen in einem weitreichenden Umbruchprozeß zu bearbeiten, sind das Interesse und die Forschungsmittel deutlich zurückgegangen.
Es wird insgesamt zu wenig geforscht, und die Forschung ist zu sehr vereinzelt. Auch die Art und Weise der Forschung muß kritisch hinterfragt werden. Es gibt eine ganze Reihe von Studien, die sehr wichtige Erkenntnisse mit hohem Erklärungswert gebracht haben und aus denen auch praktische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können. Auf unserer Internetseite haben wir einige zusammengestellt. Insbesondere problemorientiertes multidisziplinäres Vorgehen hat sich bewährt. Allerdings leidet die Auftragsforschung an zuweilen sehr eingeschränkten Fragestellungen, die die Komplexität des sozialen Wandels in Ostdeutschland nur wenig erkennbar machen.
Die sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung hingegen ist zumeist disziplinär angelegt und verfolgt in vielen Fällen zwar ambitionierte und methodisch zuweilen raffinierte Fragestellungen, aber eben meistens sehr spezielle, die den sozialen Zusammenhang der verschiedenen Entwicklungen nicht im Auge haben. Trotz interessanter Ergebnisse muß man daher auch hier eine Vereinzelung konstatieren, die manche Lücken läßt - Lücken, von denen wir zuweilen noch nicht einmal wissen, daß es sie gibt und wo sie liegen.
Das Netzwerk Ostdeutschland ist ein Versuch, die Kooperation und den Austausch zwischen den empirisch forschenden Instituten und Wissenschaftlern in Ostdeutschland zu verbessern, Ressourcen zu bündeln, einen disziplinübergreifenden Überblick über den Forschungsstand zu bekommen und die Ergebnisse in einem konzeptionellen Zusammenhang zu diskutieren.
Der Fokus dieses Beitrags liegt nicht auf einem umfassenden Überblick oder der Darstellung einzelner Befunde und Forschungsstände, sondern auf der Frage nach einem Paradigmenwechsel und neuen Forschungsstrategien, nach Wegen, das Nichtwissen zu verringern, vor allem aber, eine Sicht zu gewinnen, die verschiedene Befunde und Beobachtungen besser zu einem Verstehen und Erkennen der Probleme verbinden kann.

Gesellschaftlicher Umbruch vs. Nachbau West
Mit welchen Paradigmen, welcher Sicht auf Ostdeutschland operieren wir in der Forschung? Haben wir es in Ostdeutschland mit Regionalforschung zu tun? Oder geht es um eine nachholende Modernisierung? Oder stehen hier einige sehr grundsätzliche Fragen des Umbruchs und der Entwicklung moderner Gesellschaften auf der Agenda, deren Bedeutung über die Region hinausgeht und auch auf den Westen des Landes, Westeuropa und die Globalisierung verweist?
Die dominante politische Vorstellung der deutschen Vereinigung und insbesondere auch der ostdeutschen Bevölkerung war, daß Übernahme des westdeutschen Institutionensystems auch Übernahme des erfolgreichen "Modells Deutschland" bedeuten würde: des Wohlfahrtsstaates, der arbeitsgesellschaftlichen und sozialstaatlichen Regelungssysteme, der Renten, der pluralistischen Kultur einschließlich der Fernsehprogramme auch für den Raum Dresden, einer starken Zivilgesellschaft und einer demokratischen Verfaßtheit der Politik - und etwas zeitverzögert auch der Einkommensniveaus und Infrastrukturstandards.
Die Institutionen wurden weitgehend und fast unverändert übernommen, eine breite selbsttragende wohlfahrtsstaatliche Dynamik, ein zweites Wirtschaftswunder aber entstanden nicht. Statt dessen beobachten wir fragmentierte Entwicklungen: das Nebeneinander von einzelnen aufsteigenden Unternehmen und einer Mehrheit zurückbleibender Betriebe; gut verdienenden Arbeitnehmern auf der einen, vielen schlecht bezahlten und prekär Beschäftigten sowie zwanzig bis dreißig Prozent Arbeitslosen auf der anderen Seite; sanierten Städten und Dörfern bei abwandernder Bevölkerung, leerstehenden Wohnungen und kultureller Verödung - ein makroökonomisches Ungleichgewicht, das durch Transfers für Sozialleistungen, Infrastruktur, öffentliche Haushalte und Investitionen ausgeglichen werden muß, Transfers, deren Ende nicht abzusehen ist.
Warum funktioniert die Übernahme des westdeutschen Wohlfahrtsmodells nicht richtig, jedenfalls nicht so, wie man es sich gedacht hatte? Eine häufige Erklärung lautet, daß die ostdeutschen Handlungsmuster nicht zu den Institutionen passen; eine These, die in verschiedensten Varianten in der Debatte ist. Nennen wir es die These der ostdeutschen Mentalitätshindernisse: es fehlen die Unternehmer, der Geist der Selbständigkeit, das Bürgertum, die Zivilgesellschaft, die Konfliktfähigkeit, die demokratische Kultur, bzw. diese sind unterentwickelt, und es dauert deshalb länger. Man kann dem einen gewissen Erklärungswert nicht absprechen, nur muß man dann in die Details gehen. Manches Argument hat sich bei der konkreten Untersuchung als Ideologie erwiesen. Gut funktionierende Betriebe, Vereine und Initiativen der Bürger zeigen, daß es Gegenbeispiele gibt. Die eigentliche Frage aber wäre, ob die These der Mentalitätshemmnisse als hinreichende Erklärung gelten kann. Ich meine nicht.
Eine zweite gängige Erklärung verweist auf die Fehler der Übergangsphase: die Wirtschafts- und Währungsunion, den Umtauschkurs, der mal als zu hoch, mal als zu niedrig kritisiert wird, den gewählten Privatisierungskurs (Rückgabe vor Entschädigung, Privatisierung vor Sanierung und vor Innovation) und die Treuhandpolitik, die zu schnelle Lohnangleichung, die Übernahme des komplexen und komplizierten bürokratischen Regelwerks und ähnliches. Auch hier sind viele Argumente im einzelnen zu prüfen, und manches ist nicht von der Hand zu weisen. Aber erklären sie die Probleme hinreichend?
Machen wir ein Gedankenexperiment, eine Gegenprobe. Nehmen wir an, die deutsche Vereinigung wäre in die Hochzeit des fordistischen Wirtschaftswunders gefallen, in die Zeit also, aus der die Kernstrukturen des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells der Nachkriegszeit praktisch stammen. Einer Zeit mit schnell expandierenden, aber eben nicht gesättigten Märkten, einer sich schnell ausweitenden fordistischen Massenproduktion, steigender Produktivität, mit hohem Wachstum, steigenden Einkommen, steigenden Staatseinnahmen und nicht zuletzt meistens Jahr für Jahr wachsenden Budgets des Bundes, der Länder und der Kommunen. Es spricht vieles dafür, daß die Ausdehnung dieses Wirtschafts- und Sozialmodells damals sehr viel besser funktioniert hätte, nicht ohne Anpassungsprobleme - nicht ohne Mentalitätsdifferenzen und nicht ohne politische Fehler, aber doch ohne die uns heute bedrückende Zähigkeit. Die Betriebe hätten sich auch schneller auf den Märkten etablieren können, der Aufbau Ost wäre nicht mit dem Umbau West kollidiert. Eine selbsttragende Entwicklung scheint mir unter diesen Bedingungen jedenfalls schneller erreichbar.
Nehmen wir nun provisorisch an, das zentrale Problem der ostdeutschen Entwicklung bestehe darin, daß Ostdeutschland das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell zu einer Zeit übernommen hat, als die Bedingungen für sein Funktionieren nicht mehr, jedenfalls nicht mehr hinreichend, bestanden. Daß die Probleme des wirtschaftlichen Wachstums, der neuen globalen Wettbewerbskonstellation, der Sozialsysteme, der Schulen und Universitäten schon vor der deutschen Vereinigung erkennbar waren, ist kaum umstritten. Auch ohne die deutsche Vereinigung hätte das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell umgebaut werden müssen. Vielleicht wäre es im Westen ohne die deutsche Vereinigung leichter gegangen und hätte weniger gekostet, aber das kann keiner genau wissen.
Jedenfalls scheint klar: Die deutsche Vereinigung wurde nicht innovativ als Prozeß der Reform und der Überarbeitung eines Wirtschafts- und Sozialmodells gestaltet. Das westdeutsche Modell wurde nicht nur auf den Osten übertragen, sondern dabei auch noch für einige Jahre konserviert, die Transformation hat den Umbau verzögert. Es mag dafür Gründe gegeben haben; oft wird gesagt, das war politisch nicht anders machbar. Das mag aus der Sicht der Regierungen stimmen, aus der Sicht der Akteure stimmt es nicht. Denn dieser konservative Weg der Vereinigung hat die gerade im Herbst 1989 entstandenen Selbstorganisationskräfte der Ostdeutschen lahmgelegt und Strategien der gesellschaftlichen Selbstorganisation bei den Bürgern, aber auch und gerade in den Betrieben, Verwaltungen, Vereinen und Organisationen verzögert, verschleppt und erschwert. Wenn heute zuweilen bei den Ostdeutschen ein Mangel an Selbstorganisation konstatiert wird, so hat das nicht nur mit der DDR, sondern auch mit dem "privilegierten" ostdeutschen Transformationspfad zu tun. Jeder Versuch, etwas anders zu machen, wurde lange beargwöhnt, diffamiert, verhindert. Die größte Errungenschaft des Eigensinns war der grüne Pfeil für rechtsabbiegenden Verkehr. Nein, nicht ganz: Die Landwirtschaft wäre noch zu nennen - die einzige Wirtschaftsbranche, deren Produktivität und deren betriebliche Einkommen deutlich über dem deutschen Durchschnitt liegen.
Wenn der Nachbau West in einer Zeit des Umbruchs nicht funktionieren konnte - was wäre die Gegenthese? Der Erfolg hing und hängt nicht davon ab, ob und wie schnell es gelingt, das westdeutsche Wirtschafts- und Sozialmodell im Osten nachzubauen und zum Funktionieren zu bringen. Er hängt vielmehr davon ab, ob und inwieweit es gelingt, die Entwicklung in Ostdeutschland zu nutzen, um herauszufinden, welche neuen Strukturen in Wirtschaft, Sozialsystemen, Kultur, Bildung und Zivilgesellschaft einen funktionsfähigen, tragfähigen, sich selbst tragenden und integrativen Zusammenhang bilden könnten. Nicht von der Übernahme, sondern von der Fähigkeit zum kreativen Um- und Neubau hängt die künftige Entwicklung ab. Aufbau Ost und Umbruch der Wirtschafts- und Sozialsysteme sind nicht zu trennen, und darin besteht die Bedeutung der Forschung in Ostdeutschland.
Das heißt nicht, daß alles, was wir hier beobachten, schon auf die Strukturen der Zukunft verweist. Wir haben es mit einem komplizierten Knäuel von vorausgreifender Modernisierung, ambivalenten, spontanen und unbeherrschten Modernisierungsfolgen, aber auch mit Rückständigkeiten und Transformationsbesonderheiten zu tun. Dieses Knäuel kann nur durch Forschung auseinandergelegt werden, muß Stück für Stück entwirrt werden durch Untersuchung empirischer Fragestellungen, wissenschaftliche Vergleiche und eine theoretische Diskussion, die die Ergebnisse verschiedener Problemfelder in Beziehung bringt.
Das Problem einer Forschung aktuell ablaufender Umbrüche aber ist, daß es keine eindeutigen Maßstäbe gibt; weder aus dem westdeutschen Vorbild noch andere, an der Zukunft orientierte Normen können einfach herangezogen werden. Wir wissen nicht, welche der beobachteten Entwicklungen in die Zukunft weisen können, was Sackgassen sind, wo Neues entsteht. Niemand kann wissen, wie die neuen Strukturen am Ende aussehen werden. Das sehen wir schon daran, daß uns ein gehaltvoller Name für das Ergebnis der Umbrüche nicht einfällt, daß wir mit Postfordismus, zweiter Moderne, Globalisierung und Neoliberalismus operieren, also mit Begriffen, die entweder nur negativ bestimmen, was vorbei oder nicht ist, oder die nur einen Aspekt der Entwicklung der 1980er und 1990er Jahre für das Ganze nehmen.
Gesellschaftliche Umbrüche sind Fundsachen, die in komplizierten und schmerzhaften Suchprozessen aus scheinbar vielen einzelnen Innovationen und Strukturmutanten herausselegiert werden müssen, und dies war in der Geschichte leider häufig nicht nur schmerzhaft, sondern ging einher mit Mord und Totschlag, mit Zusammenbrüchen, Pyrrhussiegen und zuweilen eher unerwarteten Erfolgen. Werfen wir einen Blick zurück. Aus der Sicht des bereits etablierten fordistischen Wohlfahrtskapitalismus, also "von hinten" auf die Geschichte gesehen, scheint es einfach zu erklären, welche zentralen Elemente den Erfolg des Wirtschafts- und Sozialmodells der Nachkriegszeit in seinen verschiedenen nationalen Varianten ausmachen. Man verweist auf den New Deal, auf Henry Ford und auf Keynes, auf die soziale Marktwirtschaft und vielleicht noch auf 1968. Ganz anders sähen diese Komponenten aus der Perspektive von 1931 und 1932 aus. Obwohl Ford seine These von der billigen Massenproduktion und den steigenden Löhnen schon ausgesprochen hatte, obwohl die Gewerkschaften schon um eine Ankopplung der Löhne an die Produktivitätsentwicklung rangen und Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung schon vorlag, die den Zusammenhang von Innovationen, Unternehmung, Kreditgeld und Konjunkturzyklen hervorhob - die fordistische Wohlfahrtsökonomie konnte niemand im Kopf haben, bevor es sie dem Prinzip nach schon gab. Sie wurde erst unter dem Namen der sozialen Marktwirtschaft erfunden, als ihre Grundlagen schon existierten.
Der Suchprozeß nach den Konturen einer erneuerten Moderne, einer auf Zeit wieder entwicklungsfähigen Ökonomie und einer die Werte der Moderne auf neue Art aber doch universell tragenden Gesellschaft hat erst angefangen - auch und gerade in Ostdeutschland - so wenig Lust man auf Experimente auch gehabt haben mag. Und diese Suche ist nicht nur deshalb kompliziert, weil das Ergebnis erst erzeugt werden muß, also vorab nicht bekannt ist. Er ist vor allem auch deshalb kompliziert, weil die Variation und Rekombination gesellschaftlicher Innovationen in wirtschaftlichen Strukturen, in Sozialsystemen, in Kultur und Bildung oder gar im politischen System die Interessen aller in Frage stellt, heiß umkämpft ist und natürlich auch von nicht wenigen Interessengruppen mehr oder weniger bewußt funktionalisiert wird, um das eigene Schäfchen möglichst lange im Trocknen zu halten oder gar noch etwas aufzufüttern. Die Geschichten des Aufbaus Ost sind voll davon.
Experimente und nachdenkliche Beobachtung ihrer Wirkungen, gründliche und möglichst vorurteilslose Analyse, bedächtige Korrektur von Fehlern, mehr Spielraum für die handelnden Menschen, Vereinfachung statt Verkomplizierung, Sicherung gegen Risiken statt Sicherung von Besitzständen - dies scheinen einige, aber eben nur abstrakte Prinzipien zu sein, an denen man sich orientieren könnte, wenn man Neuland betritt. Die naßforsche Art mancher Politiker, einiger Medien und vieler Ideologen, schon immer zu wissen, was andere falsch machen, immer zu wissen, was richtig gewesen wäre, und die Leute mit simplen Rezepten irre zu machen - dies alles verdirbt das Denken, die Diskussionskultur und die Erkenntnisfähigkeit und treibt die Leute von links nach rechts und wieder zurück und hin und her, von einem Ressentiment zum nächsten Scharlatan.
Wenn wir es aber tatsächlich mit einem offenen gesellschaftlichen Umbruch zu tun haben, dann ist Forschung als Suche und Analyse des Neuen gefordert!
Suchprozeß und Umbau bedeuten nicht einfach Abriß. Eine erneuerte Moderne wird die Ergebnisse des fordistischen Wohlfahrtskapitalismus in sich aufnehmen, aber wir wissen noch nicht und können noch nicht wissen, wie und auf welche Weise diese dabei reproduziert und modifiziert werden. Trotzdem haben wir natürlich einige Ausgangspunkte, Beobachtungen aus den Entwicklungen der 1980er und 1990er Jahre, die nach meiner Meinung zwar noch kein kohärentes Gesamtbild einer neuen langen Welle sozialökonomischer Entwicklung ergeben, aber doch Anhaltspunkte. Ich will einige nennen, muß mich dabei aber auf Felder beschränken, die ich wenigstens ansatzweise kenne.

1. Bereits aus den 1980er Jahren kennen wir die These, daß die fordistische Massenproduktion durch "flexible Spezialisierung" oder auch differenzierte Qualitätsproduktion" abgelöst wird. Es ist interessant, daß genau dieser Punkt auch in der Studie von Michael Behr und Rudi Schmidt (2005) über die Erfolgsfaktoren im verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands eine zentrale Rolle spielt. Nun geht es bei der fordistischen Massenproduktion um ein Produktionsmodell, um Techniken und Technologien, aber nicht nur. Massenproduktion war ein sozio-ökonomisches Modell, das eine bestimmte Wirtschafts-, Konsum- und Lebensweise miteinander verband: Ressourcen der Produktivitätsentwicklung und des Wachstums wurden verbunden mit Massenkonsum, steigenden Einkommen, am Lebensstandard orientierten sozialen Sicherungssystemen, nicht zuletzt mit Vollbeschäftigung und einer bestimmten Rolle des Staates in der Wirtschaftspolitik und bei der Regulierung der Nachfrage.
Wenn wir die Veränderung der Produktionsmodelle in den letzten 20 bis 30 Jahren beobachten, drängen sich einige Zusammenhangsvermutungen auf, die freilich nur in Ansätzen untersucht sind. Ich finde frappierend, daß sie gerade für die Situation in Ostdeutschland einiges erklären, obwohl das eigentlich naheliegt. Ostdeutschland hat im Zuge einer Deindustrialisierung große Teile seiner marode gewordenen, alten Massenproduktion verloren oder stark reduziert. Die sanierten oder neu entstandenen Betriebe haben sich nicht alle, aber doch zu großen Teilen an den neu entstehenden Produktionsmodellen orientiert. Dies ist für mehrere Problemkreise von Belang: für die Beschäftigung und die Arbeitsmarktsituation, für die Struktur lokaler Produktionscluster und die Rolle überregional agierender Betriebe in ihnen, für an lokalen Märkten orientierte Regionalwirtschaft. Ich meine schon, daß die ambivalenten Folgen des Modernisierungsschubs, der aus der Deindustrialisierung folgte, einen großen Teil der Probleme in Ostdeutschland erklären. Freilich sind dies auch die Anknüpfungspunkte, an denen die weitere Entwicklung ansetzen muß, beispielsweise eine Wirtschafts- und Industriepolitik, die es möglich macht, Modernisierungen voranzubringen und ihre Wirkungen sozial positiv zu gestalten.

2. Meinhard Miegel (1997) sprach vom Ende der "kolonnenhaft" organisierten Erwerbsarbeit. Wenn der Rückgriff auf die Ressourcen "Wissen, Kompetenz, Qualifikation" im Zentrum der Dynamik eines entstehenden neuen Produktionsmodells stehen sollte, dann kann man begründete Zweifel daran haben, ob der aus den 1960er und 1970er Jahren altvertraute Gleichklang von Produktivität, Wachstum und Massenbeschäftigung, von steigenden Einkommen, steigenden Sozialausgaben und wachsenden Budgets, der die Basis der Vollbeschäftigung war, sich wieder einstellen wird. Die Dienstleistungen, die sinnvoll und effizient mit kapitalistischer Erwerbsarbeit organisiert werden können, scheinen die Rationalisierungseffekte in der Industrie bislang nicht auszugleichen. Natürlich stellen sich einige vor, man könne nicht nur rationell organisierbare moderne Dienstleistungen, sondern jedwede irgendwie nützliche Arbeit - auch die Eigenarbeit, die Arbeit für die eigenen Bedürfnisse - als Erwerbsarbeit organisieren und in bezahlte, ggf. subventionierte Jobs verwandeln. Dabei werden aber die Voraussetzungen meist nicht bedacht, denn die in Dienstboten-Jobs verwandelte Eigenarbeit setzt eine vormoderne, qualitative Schichtung der Gesellschaft voraus und war im Kapitalismus nur möglich, solange es einen starken traditionellen, also per se nicht kapitalistisch organisierten Markt gab.
Wenn der Rückgang der notwendigen Erwerbsarbeit trotz moderatem Wirtschaftswachstum und zunehmendem Dienstleistungssektor anhält, muß man anfangen, die disponible Zeit nicht als Übel, sondern als Ressource zu begreifen, die individuell wie gesellschaftlich nützlich verwendet werden kann, auch ohne zur bezahlten Erwerbsarbeit werden zu müssen. Jedenfalls ist der Wandel der Arbeit - der Erwerbsarbeit wie auch aller anderen Formen der Arbeit und ihres Zusammenhangs untereinander - eine der zentralen sozialwissenschaftlichen Herausforderungen. Ostdeutschland bietet dafür ein breites Forschungsfeld. Dabei geht es auch darum, ein gesellschaftlich akzeptables und hinter das Niveau moderner Vorstellungen von Partizipation nicht zurückfallendes Verständnis der Flexibilisierung von Arbeit zu entwickeln und zu erproben. Unsere Beobachtungen ostdeutscher Erwerbsverläufe zeigen, daß derzeit ein spontaner Prozeß abläuft, der die gesellschaftliche Integration in Frage stellt: Gerade das flexible Segment des Arbeitsmarktes hat die niedrigsten Einkommen, die geringsten Sicherheiten und trägt die größten Risiken. Neue Formen der Flexibilisierung, der Qualifikation und der Erwerbsarbeit positiv zu gestalten, das wäre wichtig.
In Ostdeutschland werden wir in den nächsten Jahren mit keinem bedeutenden Rückgang der Arbeitslosigkeit rechnen können. Aber auch nach 2013, wenn die Zahl der Rentenabgänge die der in den Arbeitsmarkt eintretenden Jungen übersteigt, wird es meines Erachtens keine einfache Umkehr der jetzigen Situation geben. Die heute überflüssigen Jungen werden dann zu einem Drittel ohne typische arbeitsgesellschaftliche Lebensführung und Erfahrung ins mittlere Alter kommen und vermutlich arbeitslos bleiben. Zudem werden sich bis dahin die Arbeitsmärkte nach Ostmitteleuro-pa öffnen. Vermutlich werden wir mit einer Gleichzeitigkeit von struktureller und regionaler Arbeitslosigkeit, gepaart mit Überalterung und den Abwanderungsfolgen auf der einen Seite und einem selektiven Arbeitskräftemangel auf der anderen Seite, zu rechnen haben. Insofern ist Ostdeutschland ein Platz für Avantgarde, wenn es darum geht, wie neue gesellschaftliche Zugänge zu Erwerbsarbeit und zu disponibler Zeit entstehen, wie sich entsprechende Formen der Kombination von Erwerbs- und anderen Einkommen herausbilden und welche Anpassungen der Sozialsysteme wie auch der Steuern und Abgaben damit verbunden sein werden.

3. Ein weiterer Aspekt ist die Reorganisation der lokalen, regionalen und überregionalen Produktionskomplexe und ihres Zusammenhangs mit regionalen und überregionalen Wirtschaftskreisläufen. Er wird zumeist sehr abstrakt mit dem Stichwort Globalisierung und dem Verweis auf abwandernde Betriebe und verlagerte Arbeitsplätze debattiert, also in der Form eines Ressentiments. Mit scheint, daß dahinter ein objektiver Wandel industrieller Strukturbildung steht, den man nüchterner und gründlicher analysieren muß.
Neuartige Muster der Industrieentwicklung und ihrer räumlichen Gliederung erklären vielleicht die Ursachen der zu beobachtenden Fragmentierung der ostdeutschen Wirtschaft, speziell die Rückstände, die die Regionalwirtschaft bei der Produktivität zu verzeichnen hat. Wir beobachten, daß die erwarteten Synergieeffekte zwischen modernen, überregional agierenden Betrieben und der Regionalwirtschaft unter den Erwartungen bleiben, daß die Fahrstuhleffekte fehlen, und dies trotz massiven Ausbaus der wirtschaftsnahen Infrastruktur. Eine bekannte These ist, daß die Konzernzentralen fehlen, die einen großen Teil der wirtschaftsnahen Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Das ist sicher nicht falsch, ich glaube aber, daß damit nur die Oberfläche des Problems erkennbar wird.
Wenn die Regierung tatsächlich eine auf Clusterbildung zielende Förderstrategie umsetzen will, sind die Synergieeffekte in Produktionskomplexen eine der wichtigsten Forschungsfragen. Dafür gibt es bekanntlich eine Studie des IWH (2004). Sie hat festgestellt, daß eine auf Cluster zielende Förderung genaue Fallstudien für den zu fördernden Komplex voraussetzt, die feststellen, wo die Schlüsselpositionen für die Entwicklung liegen. Erst dann kann zielgerichtet gefördert werden. Hier gibt es einen großen Bedarf für qualifizierte und anwendungsorientierte Fallstudien. Bislang wird die neue Strategie eher negativ genutzt; man fördert nicht die Schwerpunkte, aber man streicht Mittel da, wo man keine Schwerpunkte sieht.

Diese drei eher wirtschaftssoziologischen Überlegungen sollen nur exemplarisch zeigen, welche Möglichkeiten die sozialwissenschaftliche Forschung bei der Erklärung der ostdeutschen Probleme und der tatsächlichen Gestaltungsspielräume hat, wenn sie die Prämisse des Nachbaus West als Forschungsparadigma aufgibt und fragt, inwieweit in Ostdeutschland ein neues und in vielen Punkten ambivalentes, auch prekäres Modernisierungsszenario abläuft, das gesellschaftliche Reflexion ebenso wie eine Analyse der Gestaltungsvarianten dringend nötig macht.
Man könnte auf weitere soziale Prozesse verweisen, in denen sich Mixturen von beschleunigter Modernisierung, ambivalenten und divergenten Wirkungen, Rückständigkeiten und Transformationsdesiderate ausdrücken - etwa auf die Migrationsmuster oder die Familienstrukturen. Auch die Genderforschung wäre hier zu nennen.

Ich plädiere für einen Perspektivwechsel in der Forschung zu Ostdeutschland. Es geht nicht darum, wie weit wir beim Nachbau West vorangekommen sind oder wie groß der Abstand noch ist, sondern um Innovationen, vor allem auch soziale Innovationen, aber natürlich auch um Ambivalenzen in diesen Innovationen. Wo und wie entstehen hier neue, vielleicht entwicklungsfähige Strukturen, die für den Umbau der europäischen Wirtschafts- und Sozialmodelle bedeutsam sein können? Wie und unter welchen Voraussetzungen wird von verschiedensten Akteuren ein gesellschaftlicher Wandel in Gang gesetzt, inwieweit hat er intendierte Folgen, inwieweit widerspricht er den Intentionen der Akteure? Und wo sind die Möglichkeiten dieses Wandels für eine integrative, partizipatorische, den Voraussetzungen einer auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität gegründeten Moderne entsprechende Entwicklung? Wie sehen Bewältigungsstrategien aus, wann haben sie innovative Wirkungen, wann wirken sie konservierend?
Wenn wir den "Aufbau Ost" nicht als Nachbau, sondern als offenen Prozeß gesellschaftlicher Entwicklung sehen - welche Gestaltungsoptionen ergeben sich daraus, was würde die Sozialwissenschaft über die Handlungsoptionen der Akteure sagen können? Diesen Fragen sollten wir uns verstärkt widmen.

Literatur
IWH (2004): Forschungsprojekt "Innovative Kompetenzfelder, Produktionsnetzwerke und Branchenschwerpunkte der ostdeutschen Wirtschaft" im Auftrag des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Projektleiter Prof. Dr. Martin Rosenfeld, Endbericht; Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
Meinhard Miegel (1997): Arbeitsgesellschaft der Zukunft; in: Schwalbacher Gespräche, 7.10.1997
Michael Behr, Rudi Schmidt (Hg.) (2005): Aufbau Ost - Betriebliche und überbetriebliche Erfolgsfaktoren im verarbeitenden Gewerbe Jenaer soziologische Beiträge, Heft 16

Dr. Rainer Land, Wirtschaftswissenschaftler, Thünen-Institut Bollewick