Buchtitel wie „Neue Nazis“ oder „Rechtsextremismus im Wandel“ legen ein beredtes Zeugnis davon ab, dass der organisierte Neonazismus der BRD in den letzten Jahren und Jahrzehnten Veränderungen erlebt hat. Weitgehender Konsens innerhalb der wissenschaftlichen Literatur ist dabei, dass dieser Wandel mit einer – partiellen – Modernisierung des Neonazismus einherging und dass diese Modernisierung eine Reaktion auf ihm äußere Bedingungen ist. Welche Bedingungen dies sind, ist dabei jedoch strittig.
Dieser Artikel soll zunächst diesen Wandel darstellen, um im Anschluss daran die gängigsten Erklärungshypothesen aufzuführen und zu systematisieren. Er ist damit als Vorarbeit für die Thematisierung des – so die Vorannahme – bisher nicht ausreichend erklärten Wandels der organisierten radikalen Rechten zu verstehen.
Aufgrund der Schwierigkeiten, den der Rechtsextremismusbegriff mit seiner Verknüpfung zum politisch geprägten Extremismusansatz mit sich bringt, wird hier provisorisch von der radikalen Rechten gesprochen, ohne sie klar zu umreißen. Gegenstand des Artikels ist jedoch der organisierte Neonazismus in der BRD. Unter Neonazismus wird jener Teil der radikalen Rechten verstanden, der sich inhaltlich und teils symbolisch in die Tradition des Nationalsozialismus stellt und sich heute im Regelfall als „nationale Sozialisten“ versteht (vgl. u.a. Funke 2009: 22; Thein 2009: 33ff.; Häusler/Schedler 2011).
Betrachtet wird dabei nur organisierter Neonazismus. Individuelles Verhalten, Einstellungen, mehrheitspolitische Diskurse und etwa Rassismus in Institutionen der BRD werden – allein aus Platzgründen – nicht berücksichtigt und sich somit auf den „harten Kern“ konzentriert. (vgl. zu Einstellungen die Arbeiten der Heitmeyer-Gruppe, aktuell Grau/Heitmeyer 2013, und die „Mitte“-Gruppe, aktuell Decker et.al. 2012. Zum Wahlverhalten: Arzheimer 2008.)
Der Wandel der organisierten radikalen Rechten
Bei Darstellungen von Wandlungsprozessen eröffnet sich nahezu in jedem Fall das Problem, wo zu beginnen ist. Gesellschaftliche Entwicklungen haben nie eine „Stunde Null“, von der aus alle Entwicklung ihren Ausgang nimmt. Diese Darstellung des organisierten Neonazismus beginnt daher in den 1980er Jahren, da sich zumindest viele der noch heute prägenden Entwicklungen vor dem Hintergrund der damaligen Situation in Bewegung setzten. Prägende Akteure dieser Entwicklungen erlebten in diesem Jahrzehnt ihre politische Sozialisation und zudem ist es die gängige Narration der Rechtsextremismus-Literatur, dass sich für „die Entwicklung des politischen Rechtsextremismus […] seit den 1980er Jahren eine Reihe von Modernisierungsprozessen beobachten“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 29) lassen.
Nach dem Verbot der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ 1980 und der „Aktionsfront Nationaler Sozialisten“ (ANS) um Michael Kühnen und Thomas Brehl 1983 wurde die „Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei“ (FAP) zur bedeutendsten Gruppierung des Neonazismus, da Kader und viele Mitglieder der ANS in die FAP eintraten. Bis 1987 wuchs so die Mitgliederzahl der FAP auf fast 500. Zusätzlich wurde mit der „Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front“ (GdNF) eine Kaderorganisation gegründet, die die Aktivitäten der ANS fortführen und in den Wendejahren eine bedeutende Rolle spielen sollte.
Kühnen vertrat, im Gegensatz zur alten FAP und auch etwa zur NPD dieser Zeit, „sozialrevolutionäre“ Positionen, also solche, die sich stärker an den Positionen der Strasser-Brüder orientierten als an denen Hitlers und der NSDAP nach 1934. Er stellte einen sich kapitalismuskritisch gebärdenden „nationalen Sozialismus“ ins Zentrum seiner Weltanschauung. Zwischen den Anhängern dieser Position und den Hitleristen innerhalb der FAP kam es während eines Haftaufenthalt Kühnens 1985 zum Bruch, der sich an der Homosexualität Kühnens entzündete, und der zu einer Spaltung innerhalb der FAP und der GdNF führte. Neben der FAP und der GdNF prägte mit der „Nationalistischen Front“ (NF) um Friedhelm Busse eine weitere sich an den Strasser-Brüdern orientierende Gruppe den Neonazismus dieser Zeit.
Diese vorherrschenden Organisationen wie auch weitere, kleinere Gruppierungen hatten gemein, dass sie einer streng autoritären Führung unterlagen, von Neumitgliedern ein bereits gefestigtes neonazistisches Weltbild verlangten und über formelle Mitgliedschaften organisiert waren. So waren die Eintrittshürden in die Organisationen hoch und diese von der Restgesellschaft scharf getrennt (vgl. Thein 2009: 78ff.).
Neben diesen die radikale Rechte in den 1980er Jahren prägenden Organisationen sind zwei weitere zu nennen, die öffentlichkeitsfern wirkten und zentrale Bindeglieder der Szene bildeten: Zum einen die 1952 entstandene „Wiking Jugend“ (WJ), die dem Prinzip der Hitlerjugend folgte und in der zahlreiche spätere Kader organisiert waren. Die WJ war völkisch ausgerichtet und verstand sich als Elitenschule der Bewegung. Sie wurde 1994 verboten, die 2000 gegründete „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) führte ihre Arbeit bis zu ihrem Verbot 2009 fort (vgl. Röpke 2007). Zum anderen ist die 1979 gegründete „Hilfsgemeinschaft für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.“ (HNG) zu nennen, die sich um inhaftierte Neonazis kümmerte und in der bis zu ihrem Verbot 2011 praktisch alle relevanten Akteure der radikalen Rechten Mitglied waren.
Der Neonazismus in der DDR wurde der BRD-Öffentlichkeit mit dem Überfall auf ein Konzert in der Zionskirche in Berlin 1987 bekannt. In der DDR gab es jedoch schon seit ihrer Gründung vereinzelte (neo)nazistische Gruppierungen. Seit dem Ende der 1970er Jahre tauchte – wie auch in der BRD – ein subkultureller Neonazismus auf, vor allem im Skinhead- und im Fußball-Milieu. (vgl. Stöss 2000: 64) In den 1980ern verstärkte sich diese Entwicklung, den „DDR-Behörden waren 1986 1500 rechtsextremistische Jugendliche bekannt.“ (Staud 2006: 45) Durch den Freikauf von politischen Häftlingen durch die BRD gelangten ostdeutsche Neonazis in die BRD und knüpften so bereits vor der Wende Kontakte zwischen den beiden Szenen, so dass es ab „Mitte der 1980er Jahre […] rege Verbindungen der [ostdeutschen, P.S.] Neonazis zu rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen in Westdeutschland“ (Thein 2009: 55) gab.
Nach dem Mauerfall führten diese Kontakte zur raschen Orientierung der westdeutschen Neonazis gen DDR, auch da die Integration der westdeutschen, mit dem Neonazismus sympathisierenden Skinheads nur sehr begrenzt gelang (vgl. Langebach/Raabe 2011: 39). Sowohl ehemalige DDR-Bürger als auch die Aktivisten der GdNF, unter ihnen Thomas Wulff und Christian Worch, wurden also schon vor der Wiedervereinigung in der DDR aktiv. Letztere bauten nach dem Vorbild der „Deutschen Alternative“ (DA), die 1989 in Bremen gegründet worden war, eine Reihe von Kleinorganisationen auf, die unter dem Dach der GdNF gebündelt werden sollten. Zeitweise war die DA, insbesondere im Raum Cottbus, mit knapp 700 Mitgliedern eine der mitgliederstärksten Organisationen. Mit der „Nationalen Alternative“ (NA) gründete sich unter Hilfe Kühnens in der DDR eine Gruppe, die in der DDR als Partei registriert wurde, in Berlin ein Haus besetze, zeitweilig 600 Mitglieder hatte und zur Abgeordnetenhauswahl Ende 1990 antrat. Darüber hinaus wurden zahlreiche weitere Kleinstorganisationen gegründet, mit dem Ziel, ein erneutes Verbot zu erschweren.
Der Aufbau in Ostdeutschland war erfolgreicher als der bisherige organisierte Neonazismus in Westdeutschland, blieb aber „gemessen an dem vorhandenen Potenzial an ostdeutschen Aktivisten […] nur unzureichend.“ (Thein 2009: 55f.) Zudem zerstritten sich die Gruppierungen häufig um die Frage der Führerschaft. Die Hinwendung zur Skinhead-Subkultur war also nur begrenzt erfolgreich, aber prägend für den Neonazismus selbst.
Auch andere Akteure der radikalen Rechten gingen in dieser Zeit in den Osten. Als beispielhaft kann hier der damals 30jährige Michael Andrejewski gelten, der in den 1980er Jahren in Hamburg Aktivist der NPD und DVU war und im Zuge der Wiedervereinigung nach Rostock umzog. Dort baute er eine Gruppe auf, mit der er Flugblätter gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Flüchtlinge verteilte und damit einer der Wegbereiter des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen wurde. Heute sitzt er für die NPD im Schweriner Landtag.
Ab Herbst 1991 kam es in Deutschland zu einer Welle an Pogromen und Brandanschlägen gegen Vertragsarbeiter- und Flüchtlingswohnheime und gewalttätigen Übergriffen gegen (vermeintliche oder tatsächliche) Ausländer. Offene Ausschreitungen mit teils mehreren hundert Tätern fanden vor allem in Ostdeutschland statt, etwa in Greifswald, Leipzig-Grünau oder Cottbus, aber auch im Westen, etwa in Mannheim. Klandestine Brandanschläge gab es dagegen in Ost wie West – von 1990 bis 1994 insgesamt 1540 (vgl. Neubacher 1998: 34). Klimax dieser Welle der fremdenfeindlichen Gewalt war das mehrtägige medial begleitete Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, bei dem über Tage hinweg die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Gastarbeiterwohnhaus von hunderten Menschen angegriffen wurden, die „die Unterstützung tausender Schaulustiger aus der unmittelbaren Nachbarschaft fanden“ (Prenzel 2012: 5).
Neben der faktischen Abschaffung des Rechts auf Asyl reagierte der Staat auf diese Gewalt, die häufig von klaren neonazistischen Selbstpositionierungen der Akteure begleitet wurde, mit einer Welle von Vereinsverboten. „Über zehn Organisationsverbote wurden von den Innenministern des Bundes und der Länder erlassen“ (Pfahl-Traughber 2006: 61). Die DA, aber auch die NF, die WJ und die FAP wurden zwischen November 1992 und Februar 1995 verboten. Die übrigen mit der GdNF assoziierten Gruppen verschwanden in der Bedeutungslosigkeit und die GdNF selbst stellte ihre Aktivität weitestgehend ein, noch bevor sie 1994 gerichtlich als Nachfolgeorganisation der ANS gewertet wurde.
Neben den genannten Gruppen nahm ein weiterer für die deutsche radikale Rechte zentraler Akteur in dieser Zeit Einfluss auf die Skinhead-Subkultur: Die 1987 in England von verschiedenen Rechtsrock-Bands gegründete Gruppe „Blood & Honour“ (BH), die ab 1991 auch in Deutschland Konzerte veranstaltete und deren deutscher Ableger sich 1994 gründete. BH versteht sich als Eliteorganisation innerhalb der rechten Skinhead-Szene. Ihre Haupttätigkeit bestand in der Organisation von Konzerten und dem Vertrieb von Tonträgern, aber auch in der internen Schulung und Strategiediskussion. Anfang der neunziger Jahre traten BH-Mitglieder auch mit eigenen Transparenten auf Demonstrationen auf und führten gemeinsame bewaffnete „Wehrsportübungen“ durch. Deutschlandweit umfasste die Organisation inklusive ihrer Jugendorganisation „White Youth“ ca. 240 Mitglieder, bis sie im September 2000 verboten wurde. Die Organisationsstrukturen von BH bestehen regional dennoch bis heute, wenn auch das Verbot die zentralistische Organisationsführung schwächte, und sind weiterhin im Musikgeschäft und der sonstigen organisierten Kriminalität aktiv (vgl. Weiss 2002: 79-88).
Neben der organisierten Kriminalität mit wirtschaftlichen Interessen spielt BH eine zentrale Rolle im Rechtsterrorismus. Unter dem Label „Combat 18“ propagierte BH den bewaffneten Kampf und verbreitete Anfang der 1990er Jahre Strategiedebatten und Anleitungen zum Bombenbau. Nach dem Ende der massenhaften offenen Straßengewalt und der Verbotswelle gewannen rechtsterroristische Konzepte für Neonazis an Attraktivität. Dementsprechend gab es in den 2000er Jahren zahlreiche Razzien, bei denen Waffen und Sprengstoff gefunden wurden. Ein Sprengstoffanschlag der „Kameradschaft Süd“ um Martin Wiese auf das Jüdische Kulturzentrum in München konnte 2003 vereitelt werden, die Anschlags- und Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), der wohl „erfolgreichsten“ rechtsterroristischen Gruppe der BRD, bis 2006 flog jedoch 2011 nur zufällig auf.
Die Verbotswelle bewirkte eine Phase der Inaktivität, in der Mitte der neunziger Jahre eine Neuorientierung des organisierten Neonazismus erfolgte. Zum einen wurden neue Aktionsfelder erschlossen. Maßgeblich war hier die sogenannte „Anti-Antifa-Arbeit“, also das Auskundschaften und Angreifen des politischen Gegners, und die Gedenkdemonstrationen für Rudolf Heß, die in den 1990er Jahren Bindefunktion für die gesamte Szene übernahmen (vgl. Pfahl-Traughber 2006: 62f.). Zum anderen wurde das Organisationskonzept revidiert: Führende Kader reagierten auf die Verbotswelle, indem „man sich bereits zu diesem Zeitpunkt am politischen Gegner“, den „linksradikalen Autonomen“ (Schedler 2011: 19) orientierte, und deren dezentrale, voneinander unabhängige Zellenstruktur ohne formelle Vereinsstrukturen als Vorlage für die „freien Kameradschaften“ wählte.
Das Kameradschaftsmodell sollte sowohl durch diese Struktur drohende erneute Verbote unterlaufen als auch die starre Orientierung auf eine bestimmte Führungsfigur hin beenden, die bei Haftaufenthalten dieser die Organisation empfindlich schwächte. Dieses Konzept wurde zunächst in Westdeutschland angewandt, in Ostdeutschland entstand Anfang des Jahres 2000 „ein Geflecht an funktionstüchtigen neonazistischen Kameradschaften“ (Thein 2009: 121), womit das Modell bundesweit als das vorherrschende durchgesetzt war (vgl. Schedler 2011: 20ff.). Parallel zu dieser dezentralen Struktur wurden die neuen Kommunikationstechniken – Mailboxsysteme wie das „Thule-Netz“ und später das aufkommende Internet – zum zentralen Vernetzungs- und Propagandamedium des organisierten Neonazismus.
Die neuen Organisationsstrukturen waren besser dafür geeignet, subkulturell sozialisierte Neonazis in ihre Strukturen zu integrieren, so dass „sich nach Gründung der ersten Freien Kameradschaften Mitte der 1990er Jahre ein Annäherungsprozess zwischen der subkulturell orientierten Skinheadszene und dem neonazistischen Spektrum“ (Thein 2009: 82) einstellte. Einstiegshürden wie die formelle Mitgliedschaft wurden aufgegeben und die Einstiegserfordernisse, was etwa die ideologische Vorbildung anging, sanken. Gleichzeitig führte die lokale Verankerung und Orientierung der Kameradschaften zu lebensweltlicher orientierten Aktivitäten. Viele Neonazis dieser Zeit kamen dementsprechend aus der Skinhead-Szene. Mit dieser Öffnung veränderten sich auch die Geschlechterrollen innerhalb des Neonazismus: War bis 1990 die Rolle der Frau klar auf die Freundin und Mutter begrenzt, führte der Einfluss der Skinhead-Subkultur dazu, dass Frauen auch als politische Aktivistinnen denkbar wurden, obwohl ihnen weiterhin überwiegend geschlechterstereotype Aufgabenfelder innerhalb der Gruppen zugeordnet wurden (vgl. Rommelspacher 2011: 59f.).
Ergänzt wurden diese lokalen Kameradschaften durch übergeordnete Vernetzungsstrukturen, sogenannte „Aktionsbüros“, die dazu dienten, gemeinsame Aktivitäten zu koordinieren und zu größeren Demonstrationen zu mobilisieren. Regional bildeten sich auch wieder engere Zusammenschlüsse aus, wie beispielsweise der „Thüringer Heimatschutz“ (THS), der 1993 entstand und unter Beteiligung dutzender V-Personen und – so der zentrale Kader Tino Brandt nach der Enttarnung seiner V-Mann-Tätigkeiten, für die er insgesamt etwa 200.000 Mark erhielt – mit finanzieller Unterstützung des Thüringer Verfassungsschutzes (vgl. hierzu auch Hübner 2011: 14; Bernhardt 2012: 42) zu einer thüringenweiten Organisation mit bis zu 170 Mitgliedern ausgebaut wurde, zu denen mindestens bis zu ihrem Abtauchen auch die NSU-Terroristen gehörten. Nach dem Auffliegen einiger der V-Personen, die im THS Führungspositionen innehatten, wurde es ruhiger um die Gruppe. Zahlreiche Mitglieder wandten sich der Thüringer NPD zu und übernahmen diese faktisch. Die Funktion des THS wurde vom 2007 gegründeten „Freien Netz Mitteldeutschland“ übernommen, das jedoch auf einer weniger dichten Verknüpfung seiner lokalen Gruppen beruht (vgl. Hübner 2001; Quent 2011).
Die Skinhead-Subkultur und die Kameradschaften waren weitestgehend parteifern, was nicht zuletzt an der Schwäche der radikal-rechten Parteien lag. Die NPD stand 1991 vor ihrer Auflösung und sollte nach Ansinnen der damaligen Parteiführung mit der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ (DLVH) fusioniert werden. In einer Kampfabstimmung setzte sich der JN-Vorsitzende Günter Deckert gegen diese Linie durch und wurde neuer Parteichef. Er radikalisierte die Politik der NPD durch offensiven Revisionismus und führte die Partei damit vorerst in die Bedeutungslosigkeit (vgl. Staud 2006: 43).
Die DVU erzielte in den 1990er Jahren einige aufsehenerregende Wahlerfolge, so zog sie dank der Sonderregelung für Bremerhaven dreimal in die Bremer Bürgerschaft ein, schaffte 1992 den Einzug in den Landtag von Schleswig-Holstein, 1998 in den von Sachsen-Anhalt und 1999 in den Brandenburgs. Die Partei war aber weitestgehend eine Wahlpartei ohne lokale Strukturen und Einfluss, die von den millionenschweren Wahlkämpfen lebte, die ihr Dauervorsitzender Gerhard Frey finanzierte.
Ebenfalls Anfang der neunziger Jahre zogen die Republikaner in Landtage ein – 1989 in Berlin und 1992 in Baden-Württemberg –, sie waren jedoch nur in Baden-Württemberg ernsthaft verankert. Die Abwahl des Parteivorsitzenden Franz Schönhuber 1994 stürzte die REP in eine Krise, von der sie sich nicht erholte. Zwar gelang ihr 1996 der erneute Landtagseinzug in Baden-Württemberg, Erfolge im übrigen Bundesgebiet blieben aber aus. Die Partei erlebt seitdem einen kontinuierlichen Niedergang (vgl. Stöss 2005: 127).
Der Kontakt der NPD mit Neonazis außerhalb der Parteien und Parteistrukturen wurde erst 1996 mit der Wahl Udo Voigts zum Parteivorsitzenden wieder ernstlich intensiviert. Stück für Stück näherte sich die Partei dem Kameradschaftsspektrum an. Programmatisch fasste die NPD ihre Strategie, angelehnt an die frühe NSDAP, als „3-Säulen-Programm“ des „Kampfes um die Köpfe“, „die Straße“ und „die Parlamente“. Mit einer Kampagne gegen die Wehrmachtsausstellung gelang der NPD 1997 ihre erste Großdemonstration mit ca. 5000 Beteiligten in München (vgl. Pfahl-Traughber 2009: 85). Inhaltlich betonte die NPD ab Ende der 1990er Jahre die „soziale Frage“ und schloss so an das Erbe Kühnens an (vgl. Staud 2006: 24; Thein 2009: 62).
Diese Entwicklung wurde durch das NPD-Verbotsverfahren ab 2000 gebremst, da die NPD zur Verringerung der Angriffsfläche die Kooperation mit den Kameradschaften eindämmte und sich verbal entradikalisierte. Aus dem Scheitern des Verbotsverfahrens 2003 ging die NPD aber letztendlich gestärkt hervor. Die Annäherung an die Kameradschaften und an die DVU wurde unter dem Namen des „Kampfs um den organisierten Willen“ wieder aufgenommen (vgl. Hübner 2006: 30) und mündete 2005 in den „Deutschlandpakt“: eine Wahlabsprache zwischen NPD und DVU, die vom Eintritt führender Kameradschaftler in die NPD begleitet wurde. Schon 2004 zog die DVU in den brandenburgischen und die NPD in den sächsischen Landtag ein. 2006 folgte nach einem von den regionalen Kameradschaften massiv unterstützten Wahlkampf der Einzug in den Schweriner Landtag und zwei von sechs Sitzen der Landtagsfraktion wurden von Kameradschaftlern besetzt.
Auch in der Kameradschaftsszene fand die inhaltliche Verschiebung hin zu sozialen Fragen statt. Mit ihr gewannen ab 2000 Antikapitalismus, Antiamerikanismus und antizionistischer Antisemitismus gegenüber der Fremdenfeindlichkeit an Bedeutung. Ab 2003 kamen die Anti-Hartz-IV-Proteste hinzu, und Kameradschaften versuchten in die vielerorts stattfindenden Montagsdemonstrationen zu intervenieren – ebenso wie die NPD das Thema aufgriff. Gleichzeitig blieb aber Revisionismus, vor allem das Gedenken an Heß wie die Thematisierung der Bombardierungen im 2. Weltkrieg, vorherrschendes Thema für regelmäßige Aktionstage und Großdemonstrationen.
Wie erwähnt bildeten die Heß-Demonstrationen Anfang der 1990er Jahre das zentrale, verbindende Ereignis des deutschen Neonazismus. Waren Demonstrationen „in den 1980er Jahren […] Ausnahmeereignisse“ (Virchow 2006: 68), etablierte sich diese Aktionsform in den Neunzigern. Die Heß-Demonstrationen erreichten Anfang des Jahrzehnts bis zu 2000 Teilnehmer, bis sie im Zuge der Verbotswelle ihr Ende fanden; eine ähnliche Relevanz hatten die ebenfalls mehrere tausend Teilnehmer starken Demonstrationen am Volkstrauertag in Halbe, bei denen toter Wehrmachts- und SS-Soldaten gedacht wurde. Ab 2001 gab es wieder eine Heß-Demonstration in Wunsiedel mit bis zu 4500 Teilnehmern. 2005 erfolgte das erneute Verbot (vgl. Virchow 2006: 97f.), so dass die Demonstration anlässlich des Jahrestages der Bombardierung Dresdens die zentrale Demonstration des deutschen Neonazismus wurde. Waren an der ersten im Jahr 2000 nur 500 Personen beteiligt, stieg die Zahl bis 2005, zum runden Jahrestag und unter Führung der NPD, auf 6500. In den Folgejahren steigerte sich die Teilnehmerzahl noch weiter, bis die Demonstration durch massive Gegenproteste und Blockaden ihre Attraktivität einbüßte.
Durch die Wende der NPD hin zu den Kameradschaften gewann die Aktionsform Demonstration auch abseits der Großdemonstrationen zu revisionistischen Themen Relevanz. Neben kleineren regionalen Demonstrationen anlässlich von Bombardierungsjahrestagen wurden auch zunehmend aktuelle Themen aufgegriffen. Fanden 1997 noch 25 Demonstrationen im Bundesgebiet statt waren es 2001 107. Seitdem ist die Zahl weitgehend konstant (vgl. Virchow 2006: 76). Die Demonstrationen übernehmen dabei wichtige Aufgaben sowohl bei der Vernetzung bestehender regionaler Kameradschaftsstrukturen als auch bei der Vernetzung mit der NPD sowie bei der Festigung der Zugehörigkeit zur Neonazi-Szene; sie stellen neben Konzerten einen wichtigen Faktor der Erlebniskultur des Neonazismus dar.
Einhergehend mit der Etablierung des Kameradschaftsmodells und durch den Einfluss der Orientierung an subkulturellen Lebenswelten, setzte sich eine Orientierung auf den lokalen Sozialraum durch (vgl. Döring 2006: 177). Zum medialen Schlagwort für diese lokale Orientierung wurde die „National befreite Zone“ (NBZ). Unter diesem Konzept wurden ursprünglich Räume verstanden, in denen Neonazis die faktische Herrschaft übernommen, die staatliche Exekutivmacht verdrängt und eigene ökonomische Strukturen errichtet haben. Das Konzept der NBZ fand Anfang der 1990er Jahre allerdings wenig Resonanz im deutschen Neonazismus, bis es ab 1997 von deutschen Qualitätsmedien wieder aufgegriffen wurde, um durch Neonazis geschaffene Angsträume zu thematisieren. Von dort aus fand es auch wieder verstärkt Thematisierung in radikal-rechten Medien (vgl. Döring 2006: 199ff.). Ungeachtet der Tatsache, dass NBZs im engeren Sinne nirgends verwirklicht sind, hat die lokale Orientierung eine zentrale Funktion in der Strategie des Neonazismus übernommen, insbesondere in Ostdeutschland. Sowohl das Aufgreifen lokaler Themen als auch Aktionen im vorpolitischen Raum sowie die Schaffung von Schwerpunktorten und -regionen, auch durch den Zuzug von Neonazis, bilden Bestandteile der neonazistischen Politik heute. Die Schaffung eigener ökonomischer Strukturen, also von Betrieben, die vorrangig oder ausschließlich Neonazis beschäftigen, und der Erwerb eigener Immobilien, die als Schulungszentren, Veranstaltungsorte und für „nationale Wohngemeinschaften“ dienen, finden gezielt statt (vgl. Röpke 2009).
In Regionen, in denen eine solche Verankerung nicht möglich war, gewann in den letzten zehn Jahren ein anderes Konzept an Bedeutung. Ab 2002 kam es, vor allem durch Mitglieder der mittlerweile verbotenen „Kameradschaft Tor“ in Berlin, zu einer Orientierung am Kleidungsstil und Bezugnahme „auf die Autonomen und deren militantes Selbstverständnis“ (Schedler 2011: 30). Seit 2003 wurde auch auf Demonstrationen die Aktionsform des „schwarzen Blocks“ übernommen und die Selbstbezeichnung „Autonome Nationalisten“ (AN) verwendet. Das Konzept wurde vor allem in Nordrhein-Westfalen aufgegriffen, das sich zur Kernregion der AN entwickelte. 2007 sprach Worch von etwa 1000 AN in ganz Deutschland (vgl. Schedler 2001: 32), was auch etwa der heutigen Stärke dieser Strömung entspricht. Das Konzept der AN brachte eine oberflächliche Modernisierung des Erscheinungsbildes des Neonazismus mit sich, die mit antikapitalistischen Parolen und selbstbewusster Militanz verknüpft wird. Damit etablierte sich das Konzept vor allem in westdeutschen Großstädten.
Innerhalb der radikalen Rechten führte diese Strategie durchaus zu Spannungen. Zum einen, da die Adaption von englischsprachigen Parolen und Elementen der Hardcore- und Hip-Hop-Subkultur in Konflikt mit der Ideologie völkisch orientierter Neonazis geriet, zum anderen, da schwarze Blöcke und das Suchen der Auseinandersetzung mit der Polizei auf Demonstrationen dem Bild, das etwa die NPD auf Demonstrationen vermitteln wollte, widersprach (vgl. Klärner 2010: 50f.). Ein Spannungsverhältnis, das sich mit der Gründung der Partei „Die Rechte“, die sich nicht zuletzt auf AN-Gruppen aus Nordrhein-Westfalen stützt, verschärfte, auch wenn die angestoßene optische Modernisierung der Kameradschaften mittlerweile auch weit über AN-Kreise hinaus stattfindet.
Abseits dieser Spannungen war der Aufstieg der NPD aber bis 2007 eine Erfolgsgeschichte: Die Mitgliederzahl stieg auf 7200 Personen, und zumindest in Mecklenburg-Vorpommern erwies sich die Landtagsfraktion als arbeitsfähig und die Zusammenarbeit mit den Kameradschaften funktionierte vergleichsweise reibungsarm. Ab 2008 bekam dieser Aufstieg Risse, nachdem das Verwaltungsgericht Berlin Strafzahlungen wegen Unregelmäßigkeiten im Rechnungsbericht der Partei bestätigt und 2009 die Bundestagsverwaltung erneut millionenschwere Strafzahlungen gegen die NPD verhängt hatte. Nachdem die DVU bei der Europawahl nur 0,9 Prozent der Stimmen erhalten hatte, kündigte die NPD schließlich, wohl auch aus finanziellen Erwägungen, den Deutschlandpakt und trat in Thüringen und Brandenburg zur Landtagswahl an. Sie scheiterte aber in Brandenburg mit 2,5 Prozent deutlich und in Thüringen mit 4,3 Prozent unerwartet, während in Sachsen der Wiedereinzug mit deutlichen Verlusten gelang. 2011 gelang auch der Wiedereinzug in Mecklenburg-Vorpommern, der Einzug in Sachsen-Anhalt scheiterte knapp. Die flächendeckende Etablierung als Parlamentspartei in Ostdeutschland war somit vorerst gescheitert. Die ausbleibenden Wahlerfolge und die finanziellen Probleme verringerten auch die Bindekraft für die Kameradschaften, so dass es innerhalb der Partei Spannungen um eine verbale Radikalisierung gab, die mit der Wahl des um verbale Seriosität bemühten Holger Apfel als neuen Parteivorsitzenden beantwortet wurden.
Die Schwäche der DVU mündete, nach dem Rückzug des Gründers und Finanziers Frey 2009, in den Versuch, die weitestgehend inaktive Partei in die NPD zu integrieren. Um die geplante Fusion gab es innerhalb der DVU massive Auseinandersetzungen, die juristisch geführt wurden und schließlich zum Ende der DVU führten. Während Teile der Partei zur NPD wechselten, schlossen sich andere Teile 2012 der von Worch neugegründeten Partei „Die Rechte“ an. Die aktuelle Situation im Verhältnis zwischen Parteien und Kameradschaften ist also ambivalent und regional stark unterschiedlich. Während etwa in Mecklenburg-Vorpommern die Kooperation fusionsartig eng ist, sind in anderen Regionen Kameradschaften auf Distanz zur NPD gegangen oder betreiben, wie in Nordrhein-Westfalen, mit der „Rechten“ ein Gegenprojekt.
Ebenfalls mit Nordrhein-Westfalen, genauer mit Köln, ist eine zweite Tendenz in der deutschen radikalen Rechten verbunden, die in den letzten Jahren an Relevanz gewann und gleichsam ein zweites Lager innerhalb dieser darstellt: „Charakteristisch für diese ‚neue radikale Rechte’ ist die Verbindung einer rechtsautoritären und zuwanderungsaversiven Haltung mit marktradikalen, anti-etatistischen Positionen“, ihr Hauptthema ist „der Widerstand gegen eine angebliche ‚Islamisierung Europas’“ (Edathy/Sommer 2006: 45). Mit „pro Köln“ gewann dieses Milieu 1996 eine aus der DLHV hervorgegangene Organisation, die in den letzten Jahren Ableger und 2005 den Dachverband „pro Deutschland“ gründete und mittlerweile auch europaweite Kontakte pflegt (vgl. Häusler 2009: 130). Bisher konnte sie aber, wie auch andere Kleinparteien dieses Spektrums wie „Die Freiheit“, keine Wahlerfolge erzielte und ist mittlerweile intern zerstritten. Ihre Positionen sind jedoch an gesellschaftlich akzeptierte Diskurse anknüpfungsfähig und mit „politically incorrect“, einem 2004 gegründeten Weblog, verfügt dieses Spektrum über einen der erfolgreichsten deutschsprachigen Blogs überhaupt.1
In den neuen Bundesländern wird diese angeblich drohende „Islamisierung“ weniger stark thematisiert. Zentrales Motiv des Neonazismus ist hier stattdessen der angeblich drohende „Volkstod“, der eine Melange aus Zuwanderung, demographischem Wandel, Geburtenrückgang und Peripherisierung des ländlichen Raums beschreiben soll. Unter diesem Etikett knüpfen Neonazis in einen übergeordneten Deutungszusammenhang an regionale Entwicklungen an, etwa indem sie die medizinische Versorgung im ländlichen Raum ethnisiert thematisieren. Gleichzeitig bietet das Bild des drohenden „Volkstods“ eine starke Innenwirkung, da es die Selbststilisierung als im Überlebenskampf stehende Soldaten auf ähnliche Weise wie das Bild der drohenden „Islamisierung“ ermöglicht. Beide Motive bilden damit für die jeweiligen Teile der radikalen Rechten einen Deutungskomplex, der letztendlich geeignet ist, auch gewalttätige und tödliche Straftaten als legitime politische Mittel darzustellen, da eine Verteidigungssituation imaginiert wird, in der es um das Überleben des eigenen „Volkes“ bzw. der eigenen „Kultur“ geht. Das sind Vorstellungskonzepte, die sowohl beim NSU als auch bei Anders Breivik die grundlegende Legitimation für ihre Morde lieferten.
Politikwissenschaftliche Erklärungen des Wandels
Die organisierte radikale Rechte hat also in den letzten drei Jahrzehnten einen zweistufigen Wandel durchlaufen. In der ersten Phase öffneten sich die bis dahin als elitäre Kaderorganisationen verstandenen Gruppen der entstandenen rechtsoffenen Subkultur der Skinheads, insbesondere im Zuge der Schwerpunktverlagerung in die neuen Bundesländer. „Während [der Neonazismus, P.S.] in der Bundesrepublik bis 1989 vor allem von hierarchisch organisierten Vereinen und Parteien älterer Männer dominiert wurde, die ihre Politik wesentlich in verrauchten Hinterzimmern betrieben und – mehr oder weniger – erfolglos an Wahlen teilnahmen, gewannen seit Anfang der 90er Jahre lose strukturierte, netzwerkartige Zusammenschlüsse von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Bedeutung“. (Klärner 2010: 37) Diese losen, netzwerkartigen Zusammenschlüsse markieren schon die zweite Phase, die Mitte der 1990er Jahre mit der Etablierung des Kameradschaftsmodells und mit der Umorientierung der NPD hin zu einer Bewegungspartei angestoßen wurde. In sie fällt auch die Abwendung von ausschließlich rassistischer Agitation, wie sie die achtziger, aber auch die Zeit der Pogrome und Brandanschläge Anfang der neunziger Jahre dominierte, hin zu auch sozialen Themen, sowie eine optische Abkehr vom Skinhead-Milieu, sowohl hin zu bürgerlichem Auftreten als auch zur militanten Optik der AN. Im Zuge dieser Veränderungen gelang regional eine alltagsweltliche und subkulturelle Verankerung (vgl. Thein 2009: 78-90). Während die Gruppen der 1980er Jahre streng hierarchisch und mit fester Mitgliedschaft organisiert waren und, meist bundesweit verstreut, keine Anbindung an lokale politische Themen hatten, „sind die heutigen Zusammenschlüsse der ‚Freien Kameradschaften‘ lockerer strukturiert, verfügen über eine engere Bindung an ihre Umwelt und sind in ihrem politischen Handeln nicht mehr abhängig von den Entscheidungen zentralistischer Organisationsstrukturen.” (Schedler 2011: 23) Im Zuge dieser Veränderung kam es auch zu einer begrenzten Modifikation des Frauenbildes innerhalb des Neonazismus (vgl. Thein 2009: 129-140). Aus der Skinhead-Subkultur importiert konnten Frauen erstmals auch politische Aktivistinnen, und nicht bloß Freundinnen und (zukünftige) Mütter sein. Diese Modernisierung ist jedoch nur begrenzt und oberflächlich, auch bei den AN finden sich Schätzungen zufolge nur 10 bis 20 Prozent Frauen; und spätestens mit eigenen Kindern gelten die alten Rollenbilder ungebrochen (vgl. Sanders/Jentsch 2011).
Zur Erklärung dieses Wandels gibt es in der Rechtsextremismusforschung verschiedene Thesen, die jeweils einen Aspekt des Wandels fokussieren und eine mögliche Erklärung für diesen Aspekt liefern, den Wandel aber nicht umfassend begründen können.
Der gängigste dieser Erklärungsvorschläge ist die Repressionshypothese. Sie ist sowohl innerhalb des Neonazismus als auch in der wissenschaftlichen Literatur über ihn verbreitet. Innerhalb der radikalen Rechten stellen führende Aktivisten die Entwicklung des Kameradschaftsmodells als direkte Reaktion auf die Verbotswelle Anfang der 1990er Jahre dar, die zunächst eine „temporäre Verunsicherung bis hin zu einer organisatorischen Lähmung der Szene“ (Thein 2009: 58) zur Folge hatte. Das Kameradschaftsmodell war, so etwa Thomas Wulff, eine aus dieser „Not der Verfolgung geborene Strategie“ (Wulff, zit. nach Thein 2009: 68), das durch seine informellen, dezentralen Strukturen, so Worch, der ebenso wie Wulff die Urheberschaft für das Kameradschaftsmodell beansprucht (vgl. Thein 2009: 69), ein drohendes Verbot unterlaufen sollte (vgl. Schedler 2011: 18). Die durch das Kameradschaftsmodell veränderten Bedingungen, etwa bei der Rekrutierung neuer Mitglieder, werden innerhalb der radikalen Rechten registriert und positiv bewertet, aber nicht als ursächlich für seine Etablierung angesehen (vgl. Thein 2009: 71).
Innerhalb der Forschungsliteratur wird diese Selbstinterpretation der neonazistischen Szene weitgehend bestätigt. So berichtet Stöss, dass „[s]chon nach den ersten Verboten […] bei den Neonazis Mitte der neunziger Jahre eine Strategiedebatte ein[setzte], die den Übergang von der ersten zur zweiten Etappe in der Entwicklung des gesamtdeutschen Rechtsextremismus markierte. Die Frage, wie man sich am besten gegen die wehrhafte Demokratie verteidigen könne, wurde mit der Parole ‚Organisation durch Desorganisation’ beantwortet.” (Stöss 2005: 119) Auch bei anderen Autoren findet sich die Rekonstruktion einer auf die Verbotswelle folgenden Lähmung und Verunsicherung (vgl. Pfahl-Traughber 2006: 60f.), die eine Strategiedebatte anstieß. Diese Strategiedebatte mündete in einer „Reorganisation der Mitglieder und den Aufbau alternativer Organisationsstrukturen“ (Klärner/Virchow 2008: 5543; vgl. Butterwegge 2002: 65), die dezentral und informell strukturiert waren. Dieses Modell war also weitestgehend „eine taktische Anpassung an staatliche Sanktionsmechanismen“ (Klärner/Virchow 2008: 5544). Die Auswirkungen, die die veränderte Organisationsstruktur auf die Anknüpfungsfähigkeit an lokale Fragestellungen und auf die Integrationsfähigkeit neuer Mitglieder hatte, werden in der Repressionshypothese meist als nichtintendierte Nebeneffekte interpretiert (vgl. Butterwegge 2002: 66).
Als Vorlage für die dezentralen, informellen Strukturen des Kameradschaftsmodells diente damals der „politische[…] Gegner“ (Schedler 2011: 18), die linksradikalen Autonomen. Die neonazistischen Aktivisten suchten dort, so deren Darstellung wie die der wissenschaftlichen Literatur, gezielt nach verbotssicheren Organisationskonzepten, die sie meinten, in den netzwerkartigen, informellen Personenzusammenschlüssen zu finden.
Zusammen mit den Organisationsformen der radikalen Linken fanden zeitgleich „[n]eue, ebenfalls von der politischen Linken inspirierte strategische Konzepte wie das der ‚befreiten Zone’ oder die Demonstrationspolitik“ in das Repertoire des Neonazismus Eingang, also Aktionsformen, die von „den neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik entwickelt und erprobt wurden.“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 29f.) Ungeachtet der Frage, wie weit diese These haltbar ist – wurde das Konzept der NBZ doch nur mittelbar durch Linke inspiriert und Anfang der 1990er Jahre von der radikalen Rechten u.a. in Italien übernommen – verknüpft sich unter dieser Perspektive die Repressionshypothese mit der Betrachtung des Neonazismus als Neue Soziale Bewegung (s.u.), die Anfang der 1990er Jahre Einzug in die Rechtsextremismusforschung fand.
Die Repressionshypothese fokussiert den organisatorischen Wandel des Neonazismus Mitte der neunziger Jahre und kann diesen erklären. Die veränderten Binnenstrukturen der Gruppen, der Wandel der Rekrutierungsmuster und des Frauenbildes werden dabei als Nebeneffekt bewertet, ebenso wie neue Aktionsformen als Übernahme und Orientierung an der radikalen Linken dargestellt werden, die aus deren Verbotsresistenz begründet wird. Den inhaltlichen Wandel im Neonazismus, wie er ab dem Jahr 2000 deutlich sichtbar wird, kann die Repressionshypothese nicht oder nur sehr begrenzt erklären, wenn sie darlegt, dass die neue Organisationsform der Kameradschaften zu einer auch inhaltlichen lokalen Orientierung auf Themen, „die einen deutlichen Bezug zur Lebenswelt der Bevölkerung besitzen“ (Schedler 2011: 28) führte.
Den inhaltlichen Wandel des Neonazismus dagegen fokussiert Funke in einer Anknüpfungshypothese. In ihr ist ein „zentraler begünstigender Faktor des Rechtsextremismus […] das jeweilige aktuelle politische Klima“ (Funke 2009: 31). Die radikale Rechte orientiert sich also an den hegemonialen politischen Diskursen ihrer Zeit. Für die Entwicklung des Neonazismus in Deutschland bedeutet das, dass insbesondere die Debatten um den deutschen Nationalismus durch Unionspolitiker in den 1980er Jahren prägend waren. Neben der Bitburg-Kontroverse ist hierbei für Funke vor allem das Agieren von Franz-Josef Strauß entscheidender Wegbereiter für die „ideologische Modernisierung, Anpassung und Flexibilisierung der extremen (neuen) Rechten“ (Funke 2009: 23) dieser Zeit. Ende der achtziger Jahre gewann mit der Thematisierung seitens etablierter politischer Akteure und Medien Fremdenfeindlichkeit und die Asylfrage für den Neonazismus an Bedeutung und wurde Anfang der Neunziger erfolgreich und gewaltsam von ihm besetzt. Da die Thematisierung der Einwanderung „als Problem und Belastung, unter Aspekten von Kriminalität und ‚Überfremdung‘“ (Funke 2009: 32) mit der neuen Bundesregierung 1998 abnahm und mit der Reform der Arbeitslosen- und Sozialversicherungssysteme soziale Themen in den Fokus rückten, so könnte man folgern, wandte sich auch die radikale Rechte ab 2000 diesen Themen zu.
Etwas allgemeiner formulieren Häusler/Schedler die Anknüpfungshypothese, indem sie den „Wandlungs- bzw. Modernisierungsprozess der radikalen Rechten maßgeblich als Reaktion oder Anpassung nicht an explizite Positionen, sondern an veränderte hegemoniale Muster politischer Kultur“ deuten, „die ihrerseits adäquate ‚Antworten‘ und alternative politische Angebote beinhalte[n]” (Häusler/Schedler 2011: 313). Entsprach unter der Kohl-Regierung, so die zugespitzte Pointe dieser These, offene Fremdenfeindlichkeit noch den akzeptierten „Muster[n] politischer Kultur“, änderte sich dies ab 2000 – dementsprechend rückten für die Argumentation des Neonazismus auch andere Themen in den Vordergrund.
Die Anknüpfungshypothese liefert einen belastbaren Ansatz, um den inhaltlichen Wandel des Neonazismus zu erklären, zumal sie für einzelne Konzepte, etwa das der „National Befreiten Zone“, durch Studien an Plausibilität gewinnt (vgl. Döring 2006). Im Bereich des Wandels der Organisations- und Aktionsformen bleibt ihr Erklärungspotenzial stark begrenzt, ebenso wie relative Erfolge der radikalen Rechten nicht erklärt werden können, da ihr Verhältnis zum hegemonialen Diskurs und der Mehrheitsgesellschaft abstrakt gesprochen stabil bleibt, während das zentrale Thema wechselt.
Von Klärner/Kohlstruck wird eine ähnliche, noch allgemeinere These der „Übernahme gewisser postmaterieller Werte“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 30) vertreten. Sie ist zwar geeignet, strukturelle und organisatorische Wandlungen, wie die partielle Dehierarchisierung, anschaulich zu machen und die Veränderung der Frauenrolle vor dem Hintergrund des veränderten gesellschaftlichen Frauenbilds zu analysieren. Die inhaltliche Verschiebung zu sozialen Themen lässt sich jedoch mit der Übernahme postmaterieller Werte schwer erklären – auch wenn die Abkehr von der Zentralität der Fremdenfeindlichkeit mit dieser Übernahme begründet werden soll (vgl. Klärner/Kohlstruck 2006: 30).
Soziologische Erklärungen des Wandels
Neben diesen politikwissenschaftlichen Erklärungsansätzen, die den Wandel der radikalen Rechten abhängig vom politischen System erklären wollen, gibt es soziologische Erklärungsmuster, die der unmittelbar politischen Sphäre externe Faktoren zur Erklärung heranziehen.
Einer dieser Erklärungsversuche, die Bewegungshypothese, beschreibt den Wandel zunächst, indem sie die Frage aufwirft (und positiv beantwortet), ob die radikale Rechte als soziale Bewegung im Sinne der Neuen Sozialen Bewegungen (NSB) verstanden werden kann. Diese These kam Anfang der 1990er Jahre auf (vgl. Klärner 2010: 38), da in dieser Zeit die Aktions- und Organisationsformen des Neonazismus eine entsprechende Wandlung hin zu Aktionsformen, die aus den NSB bekannt waren, vollzogen. Darüber hinaus war die Bewegungsforschung selbst ab Anfang der neunziger Jahre in der Soziologie etabliert, während sie „in den 70er und 80er Jahren eher beiläufig und oft auch im Rahmen anderer Traditionen“ (Rucht/Roth 2008: 639) erfolgte. Erst in den 1980ern begann die Auseinandersetzung mit den NSB als Bewegungsforschung, 1988 gründete sich die Zeitschrift „Neue Soziale Bewegungen“ und erst im Laufe der neunziger Jahre wurde diese Fokussierung auf die NSB im engeren Sinne aufgegeben und etwa auch die radikale Rechte zum Gegenstand der Bewegungsforschung (vgl. Rucht/Roth 2008: 640f.).
Wird die radikale Rechte als soziale Bewegung in diesem Sinne betrachtet, wird das Ergebnis eines erklärungsbedürftigen Wandels, ihre Bewegungsförmigkeit, vorausgesetzt. Davon ausgehend werden ihre Erfolgsbedingungen, die auch ihre Wandlungsbedingungen sind, bestimmt. Grumke etwa geht dabei, entlang des in der Bewegungsforschung etablierten „Konzept[s] gesellschaftlicher Kontextbedingungen“ (Grumke 2008: 488), davon aus, dass die radikale Rechte eher schwach aufgestellt ist, zumindest, was die „externen Erfolgsbedingungen“ (Rucht/Roth 2008: 654) angeht. Diese umfassen die Haltung des Staates gegenüber der Bewegung und den vorhandenen Einfluss auf etablierte Formen der Interessenvertretung (vgl. Grumke 2008: 489). Einzig im Bereich der „Kulturellen Resonanz des Rechtsradikalismus“ findet die radikale Rechte für sie vorteilhafte Bedingungen vor, nämlich „in der Bevölkerung weit verbreitete, fremdenfeindliche, autoritäre und antidemokratische Einstellungsmuster“ (Grumke 2008: 490). Im Bereich der „internen Bedingungen“ (Rucht/Roth 2008: 654) hingegen verfügt die radikale Rechte „über eine starke kollektive Identität und, zumindest in einem qualitativen Sinne, über eine hohe Mobilisierungsstärke.“ (Grumke 2008: 490)
Letztere, positive Faktoren, werden als weitgehend stabil angenommen, während die staatliche Repression in den 1990er Jahren einsetzte. Diesem Modell zufolge wäre ab Mitte der Neunziger eine anhaltende Schwäche des Neonazismus erklärt.
Willems ging dementsprechend 1995 sogar davon aus, dass zwar allgemein begünstigende Faktoren – er nennt die Erosion des Nationalstaats in der Europäisierung und Globalisierung, relative Deprivation, das gesellschaftliche Vorhandensein von fremdenfeindlichen Argumentationsmustern und eine jugendliche, gewaltbereite und rechtsorientierte Subkultur – vorhanden sind, sich die „Rekrutierungschancen rechtsextremistischer Parteien“ (Willems 1996: 53) und Gruppen aber aufgrund staatlicher Repression, zivilgesellschaftlicher Gegenwehr und der Verschärfung des Asylrechts deutlich verschlechtert haben. Die Virulenz des Rechtsextremismus ab Mitte der 1990er Jahre, wie sie hier geschildert wurde, widerlegt diese Perspektive.
Somit scheint die Bewegungshypothese eher geeignet, um, vom organisatorischen Wandel der radikalen Rechten ausgehend, mittels des „Konzept[s] der sozialen Bewegung […] die Modernisierungen des politischen Rechtsextremismus angemessen zu berücksichtigen“ (Klärner/Kohlstruck 2006: 32), als den Wandel selbst zu erklären. Wird in Arbeiten, die der Bewegungshypothese folgen, versucht, diesen Wandel selbst in den Blick zu nehmen, dann wird er mit allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen erklärt, etwa der „von der Soziologie sozialer Schichtung in den letzten Jahren beobachtete[n] Auflösung traditioneller sozialer Milieus“ (Bergmann/Erb 1994: 7), die zur Entstehung von Jugendkulturen führte. Der bewegungsförmige Neonazismus und seine subkulturelle Verankerung erscheinen dann als „eine Spielart“ dieser Jugendkulturen, „die einerseits Merkmale mit der Jugendkultur teilt, andererseits sich auch deutlich von anderen Szenen unterscheidet“ (Bergmann/Erb 1994: 12).
Die allgemeinen gesellschaftlichen Veränderungen als Erklärungsfaktor führen auch zahlreiche andere soziologische Ansätze der Rechtsextremismusforschung ins Feld, die hier als Krisenhypothese zusammengefasst werden sollen.
Ihnen ist gemeinsam, dass sie bestimmte, meist sozioökonomische Veränderungen als zentrale Kontextfaktoren für die radikale Rechte heranziehen, etwa indem „sozial-ökonomische Risiken vermehrter Arbeitslosigkeit und eines beschleunigten sozialen Wandels […] für die radikale Rechte günstige Rahmenbedingungen bereit[hielten].“ (Funke 2009: 24)
Grundlage der Krisenhypothese ist die Annahme, dass Krisen im Modernisierungsprozess „[m]it der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit verbundenen raschen wirtschaftlichen und sozialen Wandel“ bzw. den damit einhergehendem „tiefgreifende[n] Veränderungen der Lebensbindungen“ (Mansel et.al. 2006: 39) entstehen und sowohl konstruktive als auch destruktive Effekte haben können, letztere vor allem dann, „wenn soziale, politische, ökonomische und kulturelle Probleme nicht gelöst, sondern gewissermaßen auf Dauer gestellt werden.“ (ebd.)
Solche Modernisierungskrisen werden anhand verschiedener empirischer Maßstäbe, etwa der Scheidungsrate oder der Anzahl atypischer Beschäftigungen, identifiziert und mit dem Strukturwandel Ende der 1960er Jahre, verschärft durch die Sozialgesetzgebungsreform der Hartz-Gesetze, begründet. Eine mögliche, destruktive, Reaktion auf diese Krisen ist „konkurrenzorientierte Fremdenfeindlichkeit“ als Verarbeitungsform von Desintegrationserfahrungen, die „in den letzten Jahren deutlich gestiegen“ (Mansel et.al. 2006: 62) seien. Zur erklärenden Vermittlung zwischen dieser Krise der Modernisierung und der Fremdenfeindlichkeit werden verschiedene soziologische Konzepte herangezogen: (relative) Deprivation, Anomia und Prekarisierung sind die gängigsten.
Relative Deprivation bezeichnet einen der „klassischen Ansätze der Vorurteilsforschung”, der „das wahrgenommene Mißverhältnis zwischen den tatsächlich vorhandenen Ressourcen einer Person im Vergleich zu jenen Ressourcen, von denen eine Person denkt, daß sie ihr zustehen“ (Wolf et.al. 2006: 69) bezeichnet. In der Forschung wird dabei „individuelle“ – bei der es um den Vergleich zwischen Einzelpersonen geht – von „fraternaler relativer Deprivation“ (ebd.) unterschieden, in der die Empfindung, dass eine als eigene identifizierte Gruppe gegenüber einer anderen Gruppe benachteiligt ist, erfasst wird.
Empirischen Studien zufolge, die auf dieses Konzept zurückgreifen, haben Deprivationsempfindungen einen Zusammenhang mit Fremdenfeindlichkeit und anderen Abwertungsmustern und sind gleichzeitig „in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet“ (Wolf et.al. 2006: 81). Inwiefern von der Korrelation zwischen Deprivationsempfinden und Fremdenfeindlichkeit eine Kausalität abgeleitet werden kann, ist jedoch strittig, insbesondere was die fraternale relative Deprivation anbelangt, die schon die Unterscheidung des eigenen von fremden Kollektiven voraussetzt und im Regelfall die empfundene Benachteiligung von Deutschen gegenüber „Ausländern“ misst (vgl. Sommer 2010: 289, 231).
Anomia bezeichnet in der Soziologie „Gefühle[…] von Orientierungslosigkeit und Handlungsunsicherheit“ als Folge von „[r]asche[m] gesellschaftliche[n] Wandel“ (Hüpping 2006: 86). Für die Gegenwart wird ein Ansteigen anomischen Empfindens konstatiert, im Zuge des sozialen Wandels werden „[i]mmer weitere Bevölkerungsteile […] von Gefühlen der Orientierungslosigkeit erfaßt“ (Hüpping 2006: 97), die zu einer Sehnsucht nach (imaginierter) vergangener Ordnung führen können.
Ähnlich wie die Empfindung der relativen Deprivation kann Anomia zu Fremdenfeindlichkeit führen, die als strukturgebendes Unterscheidungskriterium funktionieren kann (vgl. Hüpping 2006: 95) – bis hin zu komplexen Welterklärungstermen, wie die angesprochene „Islamisierung“, der „Volkstod“ oder verschiedene Spielarten des Antisemitismus.
Beide Konzepte, wie auch das folgende, konstatieren also eine erhöhte Neigung zu Einstellungsmustern der radikalen Rechten bei jenen, die die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht bewältigen, den „Modernisierungsverlierern“ (Stöss 2005: 51). Die Analyse der die radikale Rechte fördernden Effekte von Prekarisierung geht dabei jedoch differenzierter vor. Unter Prekarisierung wird die zunehmende Unsicherheit in Beschäftigungsverhältnissen verstanden, die seit 1994 von einem durch die Hartz-Gesetze verschärften Abbau sozialer Sicherheitssysteme flankiert wird (vgl. Sommer 2010: 34ff.). Sie verringert die soziale Integrationsleistung der Lohnarbeit (vgl. Dörre 2004: 88f.), die noch immer die zentrale gesellschaftliche Integrationskategorie ist, und führt zu Unsicherheitsempfinden. Eine mögliche, aber nicht zwingende, Verarbeitungsform ist der „Rechtspopulismus“ (Dörre 2004: 99), auch bei jenen, die selbst nicht direkt von der Prekarisierung betroffen sind (vgl. Dörre 2006: 157f.).
Dörre unterscheidet dazu, Castel folgend, zwischen drei Zonen, die relativ sichere Zone der Integration, die Zone der Prekarität und die Zone der Entkoppelung. Während in der von Normalarbeitsverhältnissen geprägten Zone der Integration die Unsicherheitsempfindungen meist „konformistisch“ oder „konservativ“ verarbeitet werden, also entweder die Verantwortung individualisiert wird oder ein reaktiver Nationalismus, der sich positiv auf das vorhandene System bezieht, vorherrscht, findet sich in den anderen beiden Zonen tendenziell eine „rebellische“ Haltung, an die der Neonazismus anknüpfen kann (vgl. Dörre 2006: 160f.). Insofern beschreibt die Modernisierungsverliererthese nur einen Teil der rechten Orientierungen in einer prekarisierten Gesellschaft.
Allen diesen Formen der Krisenhypothese ist gemein, dass sie aus dem Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere im sozioökonomischen Bereich, nur ein Erstarken der radikalen Rechten begründen können, nicht ihren organisatorischen oder inhaltlichen Wandel. Maximal regionale Verschiebungen und Schwerpunkte können als Folge regional unterschiedlicher wirtschaftlicher Lage verstanden werden (vgl. Quent 2012).
Darüber hinaus sind alle genannten Varianten der Krisenhypothese Konzepte der Einstellungsforschung, die nur sehr begrenzte Aussagekraft für den organisierten Neonazismus haben.
Zusätzlich zu den genannten Hypothesen gibt es solche, die die relative Stärke des Neonazismus in den neuen Bundesländern mit der spezifischen Situation der DDR – etwa einen tradierten sozialistischen Kollektivismus – beziehungsweise den regional spezifischen Wendefolgen begründen. So formuliert Stöss, dass „der Rechtsextremismus seit Mitte der neunziger Jahre in Ostdeutschland an Zuspruch gewann, liegt auch an der Veränderung des dortigen Meinungsklimas. Zunächst herrschte eine durch Wirtschaftswachstum, nachholenden Konsum und Zukunftsoptimismus geprägte euphorische Stimmung vor. Seit 1992/93 verlangsamte sich allerdings das Tempo des Angleichungsprozesses an die Verhältnisse im Westen, und die Euphorie wich einer realistischeren Beurteilung der Lage. Ab 1995 verschlechterte sich die Stimmung zusehens.“ (Stöss 2005: 113) Diese Erklärungen vernachlässigen den virulenten Neonazismus in den alten Bundesländern und tragen, ebenso wie Ansätze, die den Wandel des Neonazismus als „Anpassungsleistung […] an vorherrschende kulturelle Transformationsprozesse“ (Häusler/Schedler 2011: 310) beschreiben, durch ihren unspezifischen Charakter wenig zur Erklärung dieses Wandels bei, da sie nicht aufklären, wie diese „Transformationsprozesse“ den Wandel des Neonazismus bedingten.
Fazit
Den vorhandenen Erklärungsansätzen gelingt es nur begrenzt, den Wandel des organisierten Neonazismus aufzuklären, allenfalls erfassen sie je einen Teilbereich. Dies liegt auch darin begründet, dass zum einen Studien zur organisierten radikalen Rechten häufig deskriptiv verbleiben oder die politisch etablierten Erklärungsmuster bloß nachvollziehen. Zum anderen konzentriert sich die soziologische Rechtsextremismusforschung auf Einstellungen oder, etwa in Gestalt der kriminologischen Forschung, auf individuelles Verhalten und nimmt dementsprechend den organisierten Neonazismus als solchen wenig in den Blick. Auf dieser Ebene kann daher über den organisatorischen und inhaltlichen Wandel wenig Eindeutiges ausgesagt werden. Unbeachtet sind etwa die Effekte, die die sicherlich nicht nur für die Öffentlichkeit, sondern in ihrer Massivität auch für den organisierten (westdeutschen) Neonazismus unerwartete Welle der Gewalt Anfang der neunziger Jahre für den Wandel hin zu dezentraleren, „volksnäheren“ Strukturen hatte. Auch reflexive Effekte werden fast nur im Kontext der Repressionshypothese betrachtet – eine Ausnahme bildet die Studie Dörings zur NBZ (vgl. Döring 2011) –, während etwa die Auswirkungen der Etablierung zivilgesellschaftlichen Gegenengagements auf Inhalte und Organisationsstrukturen des Neonazismus unbeleuchtet sind.
Anmerkung
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Erschienen in: Berliner Debatte INITIAL 25 (2014) 1, S. 18-32