Ostdeutschland - fragmentierte Entwicklung

Ein Jahrzehnt nach dem Untergang der DDR und dem Beitritt zur Bundesrepublik bietet der Osten Deutschlands ein zwiespältiges Bild. Blühende Landschaften neben untergehenden Dörfern und ...

... verlassenen Wohnquartieren, florierende Unternehmen neben solchen, die nur von Quartal zu Quartal überleben oder schon gestorben sind, gut verdienende Menschen im Zeitstreß neben unterbezahlten oder solchen, die vom Sozialstaat leben müssen und deren Lebenszeit vom Streß der Arbeitslosigkeit aufgefressen wird.
Aufsteigende Unternehmen hier schaffen keine neuen Wachstumsfelder nebenan, neue Arbeit an der einen Stelle zieht kaum zusätzliche Beschäftigung im Umkreis nach sich, Wachstum hier geht mit Abstieg daneben einher und die Einkommen der einen steigen, während die der anderen sinken. Offensichtlich fehlt der erhoffte und aus den Prosperitätszeiten bekannte "Fahrstuhl", der fast alle nach oben trug, die sozialen Abstände zwar nicht aufhob, aber doch auf höherem Wohlstandsniveau reproduzierte.
Der Erwartung blühender Landschaften überall wurde zwar schon 1990 nicht selten widersprochen. Aber die Mehrzahl setzte auf die "bewährten" Wachstumsvorstellungen und erwartet noch immer den Fahrstuhleffekt, nur eben später, wenn die Weltwirtschaft wieder in Konjunktur kommt. Wer hingegen schon damals pessimistische Prognosen hatte, muß heute zur Kenntnis nehmen, daß ein flächendeckendes Scheitern des "Aufbaus Ost" auch nicht eingetreten ist.
Im folgenden Beitrag wird der Versuch unternommen, die fragmentierte Entwicklung Ostdeutschlands nicht (nur) aus der Perspektive der "Transformation" einer bestanden habenden (sozialistischen) Gesellschaftsordnung in eine andere, schon bestehende und zu übernehmende (kapitalistische), zu betrachten. Inzwischen ist doch offensichtlich, daß die Brüche und Umbrüche der Gegenwart nicht ein Problem nur der ehemals sozialistischen Staaten sind. Das Umbruchsszenario ist global, national und regional und betrifft fast alle Länder: diejenigen, die eine fordistische2 Massenproduktionsindustrie entwickelt hatten, ebenso wie Schwellenländer und die Entwicklungsländer, sofern ihre Wirtschaft mehr oder weniger in weltwirtschaftliche Kreisläufe eingebunden ist. Die Spezifik regionaler oder nationaler Abläufe hängt weniger von der vorherigen formellen sozio-politischen Ordnung ab, sondern von Ressourcen und weltwirtschaftlichen Bindungen. Insofern liegt es nahe, den Um- und Aufbau Ost aus der Perspektive eines übergreifenden Umbruchsszenarios zu betrachten und sich von der Vorstellung zu verabschieden, der Kern und die Lösung der ostdeutschen Probleme bestünden darin, die aus dem Westen übernommenen Strukturen zum Funktionieren zu bringen.
Um die Übernahme einer bestehenden und bewährten Ordnung allein konnte und kann es nicht gehen, denn diese Ordnung ist selbst im Umbruch. Für Ostdeutschland ist die Situation paradox: die Erfindung einer neuen, wieder auf Zeit lebensfähigen "postfordistischen" Sozialökonomie begann mit der Übernahme einer Wirtschafts- und Sozialordnung, die schon bei ihrer Einführung nur eingeschränkt funktionsfähig war und die so, wie sie eingeführt wurde, nicht mehr bestehen wird, wenn ihre "Übernahme" vollendet sein wird.

Institutionentransfer
Die Transformation der DDR ist unter den ehemals staatssozialistischen Gesellschaften ein Sonderfall, weil sie durch den Beitritt zum Staats- und Rechtsgebiet der BRD eingeleitet wurde und damit zumindest formell das gesamte System der Institutionen und Organisationen "importiert" wurde.3 Dieser Vorgang wird politikwissenschaftlich als "Institutionentransfer" bezeichnet, er wurde vielfältig untersucht. Allerdings ist aus soziologischer Sicht einzuwenden, daß dabei oft nur die formelle Seite der Institutionen betrachtet wird. Wenn Institutionen die (sachlich befestigten) Regeln des Verhaltens sind, ist eben nicht nur nach der rechtlichen Seite des Verhaltens (also den Gesetzen des Staates und den Satzungen, Verträgen, Strukturen und Ressourcen der staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, Unternehmen, Verbände etc.) zu fragen, sondern ebenso nach der Verhaltenspraxis der Akteure und den Übereinstimmungen bzw. Differenzen zwischen der formellen Institution und der tagtäglichen institutionellen Praxis.
Der Institutionentransfer in so kurzer Zeit setzt implizit voraus, daß die Bevölkerung der ehemaligen DDR, ihre Ressourcen, ihr Wissen, ihre Werteordnungen und ihre Handlungsorientierungen zu den aus dem Westen importierten Institutionen "passen" - zumindest so weit, daß in kurzer Zeit ein halbwegs regelgerechter Umgang mit dem importierten Institutionensystem dominiert und die Abweichungen unter Kontrolle gehalten werden können.4 Explizit wurde diese Voraussetzung aber zumeist nur durch den Verweis auf die gemeinsame Vorgeschichte bis 1945 thematisiert. Wieweit die in der DDR entstandene institutionelle Ordnung besondere Handlungs- und Deutungsmuster, speziell bei den in der DDR sozialisierten Generationen, zur Folge hatte, blieb eine offene Frage. Das soziologische Großexperiment lautete: Welche gesellschaftliche Praxis entsteht, wenn die aus Westdeutschland übertragenen Institutionen an sich (staatliches und Organisationsrecht) und die in der Bevölkerung vorhandenen Handlungs- und Deutungsmuster (Institutionen für sich) zu einer neuen gesellschaftlichen Praxis (Institution an und für sich) führen? Würde die entstehende ostdeutsche Gesellschaft eine Verlängerung und Erweiterung der westdeutschen werden, deren Besonderheiten sich im Rahmen der auch im Westen vorhandenen regionalen Differenzen bewegen? Oder würde der Transfer scheitern, Handlungsverweigerung, Eigensinn außerhalb der Toleranzgrenzen, langsamer Niedergang oder gar Chaos und Bürgerkrieg ausbrechen? Oder würden die Ostdeutschen die Institutionen (an sich) zwar annehmen, aber auf eine so eigensinnige Weise anwenden, daß faktisch andere Institutionen herauskommen?
Betrachten wir zunächst den historischen Verlauf. Auf den ersten Blick scheint der Transfer geglückt; die Verwaltungen funktionieren, die Unternehmen produzieren, die Menschen sind versorgt und sozial abgesichert und der Alltag scheint kaum weniger geordnet als im Westen. Die schöne Zeit des Interregnums, als der Staat weitgehend mit sich selbst beschäftigt war und sich um die Bürger nicht kümmern konnte, daher den Hausgemeinschaften die Verwaltung der Häuser, den Elternbeiräten und den Lehrern die Leitung der Schulen, den neu entstandenen Selbstverwaltungen die Leitung der Universitäten, den irgendwie miteinander arrangierten Betriebsbelegschaften und Betriebsleitungen (die nun ohne die zusammengebrochene Planungsbürokratie auskommen mußten) die Leitung der Betriebe usw. usf. überlassen mußte, war spätestens 1992 vorbei. Die neu aufgebauten staatlichen und kommunalen Verwaltungen, die inzwischen mit eigenen Büros etablierten Organisationen (Gewerkschaften, Ersatzkassen, Unternehmerverbände, Industrie- und Handelskammern, Handwerksrollen, Parteien, Vereine, Kommissionen und Kuratorien), die schnell umfunktionierte Treuhandgesellschaft als Kontroll- und Privatisierungsbehörde für die noch staatlichen Betriebe, die neuen Gerichte, Anwälte und Notare, die neuen Hauseigentümer und viele, viele andere begannen zu praktizieren - und damit wirkte nun das neu gesetzte Recht.
Die Tatsache, daß dieser Vorgang funktionierte, Häuser und Betriebe nicht oder nur ausnahmsweise besetzt, Gerichte nicht boykottiert, Rechtsanwälte und Alteigentümer nicht - oder doch sehr selten - verprügelt oder gar erschlagen wurden, zeigt, daß es zumindest keine grundsätzliche Inkompatibilität zwischen den eingeführten Institutionen und der Verhaltenspraxis der DDR-Bevölkerung gegeben haben kann. Insofern hatte das Votum der ostdeutschen Bevölkerung für den Beitritt doch eine solide soziale Grundlage. Irgendwo mußten die westlichen Institutionen - Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft, Sozialstaat, Arbeitsgesellschaft usw. - hinreichende "Anknüpfungspunkte" in den Handlungsmustern der DDR-Bevölkerung gehabt haben - die DDR war offensichtlich der Bundesrepublik "ähnlich" genug.
Die nachfolgende wirtschaftliche Entwicklung wird üblicherweise mit dem Transformationsschock (1990 bis 1993) und einer anschließenden Erholung bis 1997 charakterisiert. Die gewerbliche Produktion ging zunächst um 50%, das Bruttoinlandsprodukt um 30%, die wirtschaftsbezogene Forschungskapazität um 80% zurück (Reißig 2000: 26). Die Arbeitslosigkeit stieg von Null auf einen vorläufigen Höhepunkt von 16% im Jahr 1994. Gleichzeitig verdoppelten sich die Einkommen der privaten Haushalte binnen fünf Jahren, größtenteils finanziert durch Transferleistungen der Sozialsysteme, durch tariflich oder vertraglich fundierte Verpflichtungen der neuen Eigentümer und Investoren und durch Zuschüsse der Treuhandanstalt, aufgebracht zum Großteil durch die westdeutschen Beitragszahler, Steuerzahler und Unternehmen (wobei letztere per Saldo erheblich vom Vereinigungsboom profitierten).

Aufholjagd bei zunehmendem Abstand?
Der Transformationskrise folgte schon 1993 die Erholung, 1994 wurde das Bruttoinlandsprodukt des letzten DDR-Wirtschaftsjahres (1989) wieder erreicht und überschritten, die Produktivität hatte sich fast verdoppelt, die Arbeitslosigkeit ging (zunächst) langsam zurück, die Raten des wirtschaftlichen Wachstums und der Produktivitätssteigerung lagen über den westdeutschen. Damit schien eine Phase des Aufholens eingeleitet, die in einem absehbaren Zeithorizont zu einem dem Westen nahekommenden Niveau der Produktivität, der Wettbewerbsfähigkeit, der Beschäftigung, der Einkommen und der Staatsfinanzen führen sollte: zu einem selbsttragenden Aufschwung, der sich aus seinen eigenen Resultaten fortentwickelt - dem fordistschen Fahrstuhl.
Leider dauerte diese Phase nur bis 1997. Seitdem wächst das Bruttoinlandsprodukt im Osten langsamer als im Westen, die Arbeitslosigkeit - zumindest bereinigt um die Effekte der aktiven Arbeitsmarktpolitik - steigt erheblich schneller als im Westen, die Einkommen stagnieren, die Staatsfinanzen schrumpfen, eine deutliche Absenkung der Finanztransfers ist nicht abzusehen. 2003 wird mit einer Arbeitslosenquote von etwa 19%, regional bis 27%, ein neuer Höchststand erreicht.
Nun fällt diese Phase mit einer auch im Westen problematischen Wirtschaftslage zusammen. Die lang anhaltende Wachstumsschwäche wurde nur kurzzeitig von einem schwachen Aufschwung Ende der 90er Jahre unterbrochen, nach dem 11. September 2001 setzte sich weltwirtschaftlich ein Krisenszenario durch. Unter diesen Voraussetzungen stagnierte auch der "Aufschwung Ost". Allerdings ist bedenklich, daß Ostdeutschland auch von dem kurzen und schwachen Aufschwung 1998 und 1999 kaum profitierte und die Rezessionstendenzen der Jahre 2001 bis 2003 im Osten nicht schwächer, sondern stärker ausgeprägt waren. Dies spricht nicht dafür, ausschließlich externe, weltwirtschaftliche oder konjunkturelle Ursachen anzunehmen und eine nur kurze Unterbrechung des Aufholens zu unterstellen. Vieles spricht dafür, daß es endogene Hindernisse und vielleicht sogar Blockaden gab und gibt. Deren Erklärung ist allerdings schwierig. Pauschale Erklärungen, die einen einzelnen Faktor herausgreifen - etwa die zu schnelle Steigerung der Löhne oder gar die mental bedingte mangelnde Eigeninitiative der ostdeutschen Bevölkerung - bieten wenig.
Sind die Probleme doch auf Inkompatibilitäten zwischen importierten Institutionen und kulturellen Verhaltensmustern zurückzuführen? Sind die endogenen Voraussetzungen und Ressourcen der ostdeutschen Regionen für eine langfristig stabile Entwicklung zu schwach, muß also noch viel mehr "nachgeholt" und investiert werden? Oder handelt es sich um Blockaden, die erst im Verlauf des Transformationsprozesses entstanden sind und die womöglich auf "Fehler" des gewählten Transformationspfades oder seiner Umsetzung zurückgehen? Oder zeigt sich in den Problemen Ostdeutschlands ein Dilemma, das zwar hier besonders ausgeprägt zum Vorschein kommt, dessen Kern aber nicht auf die postsozialistische Transformation, sondern auf die übergreifende spätfordistische Umbruchskonstellation zurückzuführen wäre? Aus meiner Sicht spricht einiges dafür, der letzten Fragestellung nicht ausschließlich, aber doch verstärkt nachzugehen. Die DDR war in gewisser Weise - so meine These - ebenso fordistisch oder sogar "fordistischer", einseitiger (oder, wie Engler sagt, "arbeiterlicher") als die BRD. Dies erklärt, warum das fordistisch geprägte sozioökonomische Institutionensystem der Bundesrepublik in Ostdeutschland im Prinzip funktioniert, es erklärt aber auch, warum damit die ostdeutschen Probleme nicht gelöst werden können. Es bietet Ansätze, die prinzipielle Verhaltenskompatibilität der beiden Bevölkerungen nicht nur aus der gemeinsamen Vorgeschichte, sondern auch mit Bezug auf die 45 Nachkriegsjahre zu verstehen, aber auch sichtbar zu machen, daß es zwischen den beiden fordistisch geprägten Arbeits- und Lebenswelten zugleich erhebliche Unterschiede gab.

Nachholende Modernisierung, eigenständige Teilgesellschaft oder postfordistische Avantgarde?
Für die wissenschaftliche Untersuchung der Entwicklung in Ostdeutschland sind bestimmte theoretische Voraussetzungen und Modellannahmen von Bedeutung, weil damit forschungsleitende methodische Herangehensweisen verbunden sind.
Die Modernisierungstheorie in der von Wolfgang Zapf vertretenen Richtung betrachtet die Transformation der staatssozialistischen Gesellschaften als "Modernisierung" (Zapf 2002: 16). Der schockartige Beginn in Ostdeutschland führte zwar zunächst zu einer Transformationskrise mit einscheidenden Veränderungen. Aber "neben den Zusammenbrüchen nahm eine Reihe rapider Entwicklungsprozesse, die die Mangelwirtschaft überwunden haben, Einfluß; eine deutliche Einkommensverbesserung sowohl bei Beschäftigten als auch bei Beziehern von Sozialeinkommen; große Wellen nachholenden Konsums, eindeutige Verbesserungen der Infrastruktur, klar verbesserte Sozialleistungen, insbesondere gestiegene Renten" (ebd.: 21). Die These von der "sich stabilisierenden Transformation" besagt, daß "Modernisierungs- und Wohlfahrtsgewinne" (ebd.: 20) die Krise überwinden und die Transformation auf diese Weise stabilisieren werden. Aus dieser Perspektive sind die nach 1997 eingetretenen Probleme - geringere Wachstumsraten, wieder steigende Arbeitslosigkeit - nur temporärer Art und nicht aus dem Transformationsprozeß, sondern aus anderen Faktoren heraus zu erklären, nicht zuletzt mit dem "Tocqueville-Paradox", das "steigende Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten gerade bei genereller Reduzierung von Unterschieden" (ebd.: 25) konstatiert.
Ein Gegenkonzept führt die Rückschläge des Angleichungsprozesses auf die Transformation bzw. den gewählten Transformationspfad zurück, der "Handlungskorridore für eigenständige endogene Impulse ... verengt" (Thomas 1998: 115) und im Resultat nicht zu einer Angleichung der ostdeutschen Gesellschaft an die westdeutsche geführt hätte, sondern zu einer eigenen "Teilgesellschaft" (Reißig) bzw. zu einer eigenen "Ost-Identität" (Winkler 2002: 12)5.
"Ein Staat, aber noch zwei Gesellschaften, zwei Wir-Gruppen, zwei kollektive Identitäten. Das heißt, der Systemintegration ist noch nicht die Sozialintegration, der staatlichen Einheit noch nicht die gesellschaftliche Einheit gefolgt" (Reißig 2000: 61). Dabei werden die Gewinne, insbesondere die Wohlfahrtsgewinne, der deutschen Einheit nicht in Abrede gestellt, aber zugleich wird auf die Verluste verwiesen. Diese bestehen aus der Sicht dieses Konzepts vor allem im Verlust der Möglichkeit, eigene Ressourcen zu mobilisieren und eine selbstbestimmte Entwicklung einzuleiten. Das neue "Wir"-Gefühl der Ostdeutschen sei vor allem eine Reaktion auf die Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten und die Erfahrung von Fremdbestimmtheit, die durch den eingeschlagenen Transformationspfad bedingt seien. Dieses Transformationskonzept - Integration Ostdeutschlands in die Bundesrepublik, wobei der Westen so bliebe und der Osten sich anzupassen habe - sei gescheitert. Zwar hätte auch ein ostdeutscher Sonderweg keine Chance, aber die Alternative sei der Wandel der gesamten Bundesrepublik, in welchen ostdeutsche Erfahrungen, Innovationen und Eigenheiten gleichberechtigt einzugehen hätten (ebd:. 106f.).
Eine dritte originelle Sicht entwickelt Wolfgang Enger. Er beginnt mit der These, daß die Ostdeutschen ein Transformationsprodukt sind: DDR-Bürger gingen in die deutsche Einheit hinein, heraus aber kamen aber nicht West- oder Gesamtdeutsche (auch kaum Mecklenburger, Brandenburger und Thüringer), sondern "Ostdeutsche" mit einer eigenen kollektiven Biographie und eigenen Identitäten, die sie über die regionalen Verschiedenheiten hinweg verbinden und von den Westdeutschen unterscheiden. Die Ursache sieht er darin, daß die Transformation zwar die westdeutschen Institutionen etablieren, nicht aber die westdeutsche Gesellschaft "einführen" konnte. Die "arbeiterliche" DDR-Gesellschaft, die an der "industriellen Vergangenheit" orientierte Muster der Erwerbsarbeit und der Lebensweisen konserviert hatte, verarbeitete die Erfahrungen der Transformationsjahre, die Deindustrialisierung und das Verschwinden der traditionellen Massenarbeitsplätze, auf ihre eigene Weise. Die "ehemaligen Helden der Arbeit" lernten: "Man kann sein Leben auch aus anderen Quellen fristen, ererbtem Vermögen, Aktien-, Grund- oder Kapitalbesitz" (Engler 1999: 97). Nichtarbeit verlor ihr Stigma. "Ostdeutschland ist zu einer Transfergesellschaft geworden. So zu antworten, heißt einzugestehen, daß die Volksbewegung vom Herbst 1989 politisch gescheitert ist. Darauf gerichtet, persönliche Lebensführung, Beruf und sozialen Zusammenhang aus staatlicher Vormundschaft und administrativer Direktion zu lösen, mündete sie in einen Prozeß, der die Abhängigkeit des Alltagslebens vom Staat, von staatlichen Umverteilungen und Zuwendungen samt der damit einhergehenden Kontroll- und Sanktionsmechanismen über jedes damals vorstellbare Maß hinaus gesteigert hat" (ebd.: 121).
An die Stelle der sozialistischen Arbeitsgesellschaft trat eine Transfergesellschaft, die von sich behauptet - schärfer gesagt, von der Lüge lebt -, eine Arbeitsgesellschaft zu sein und die neue, eigentümliche Formen der Abhängigkeit und der Vormundschaft des Staates über die Leistungsempfänger an die Stelle des vormundschaftlichen SED-Staates gesetzt hat. Ob irgendwann in einer fernen Zukunft ein Maß des wirtschaftlichen Wachstums denkbar ist, das die durch Produktivitätsfortschritt und Deindustrialisierung freigesetzten Arbeitsmengen wieder binden kann, hält Engler offen. Für die heute absehbare Zukunft konstatiert er, daß in Ostdeutschland eine "postindustrielle" Situation entstanden ist und sich stabilisiert hat. Die ostdeutsche Situation zeige in gewisser Weise verstärkt und vorauseilend das Problem, das alle Industriegesellschaften umtreibt: eine Integration der gesamten Bevölkerung über Erwerbsarbeit ist obsolet. Im Westen würde die kritische Masse für einen Paradigmenwechsel gerade erreicht, im Osten sei sie bereits überschritten. Die Ostdeutschen würden so gegen ihre immer noch mehrheitlich arbeitsgesellschaftlichen Identitäten zur Avantgarde des Experiments, gesellschaftliche Integration anders als über Erwerbsarbeit herzustellen. Der Witz der Geschichte bestünde darin, daß sie "den Auszug aus der Arbeitsgesellschaft ausgerechnet jenen aufbürdet, die am intensivsten in sie verwoben waren" (Engler 2002: 196). Ob das Experiment gelingen kann, bliebe aber offen; "Avantgarde ist keine Garantie für Ankunft, nur für Aufbruch" (ebd.).
Zapf sieht die ostdeutsche Transformation als Nachholen der westdeutschen Entwicklung; Reißig sieht eine zunehmende Divergenz und Eigenheit jeder der Teilgesellschaften; Engler schlußfolgert, die Krise der Arbeitsgesellschaft in Ostdeutschland eröffne die Möglichkeit, gerade hier mit Konturen einer Gesellschaft nach der Arbeitsgesellschaft zu experimentieren. Jede Position hat Fakten, Befunde und Geschichten, auf die sie verweisen kann. Und jede Sicht hat ihre Prognose oder Vision.

Exkurs: Die DDR als fordistische Arbeitsgesellschaft
Hier sei ein kleiner Exkurs gestattet. Die Transformation durch Beitritt und deutsche Einheit kann als nachholende Modernisierung gedeutet werden. Dieses Konzept ist aber nur dann sinnvoll, wenn unterstellt wird, daß es sich nicht um die erste Modernisierung einer zuvor noch vormodernen Gesellschaft handelt, sondern um eine Modernisierung einer schon modernen Gesellschaft. Wären die staatssozialistischen Gesellschaften, zumindest die europäischen, überwiegend vormodern gewesen (wie einige Entwicklungsländer), so wäre eine Transformation der DDR auf dem Weg des Beitritts zur Bundesrepublik ebensowenig realisierbar wie der Eintritt einiger ehemals staatssozialistischer Länder in die EU im Mai 2004. (Vgl. dazu auch Wagner 1995: 157ff., der die sowjetischen und die daran anschließenden staatssozialistischen Entwicklungen als "organisierte" Moderne ausdrücklich in die Moderne einbindet.)
Unter dieser Prämisse aber müssen staatssozialistische Gesellschaften im allgemeinen und die DDR im besonderen als eine Variante der Moderne - und noch genauer gesagt: der fordistischen Moderne, wie sie in den 1950er und 1960er Jahren entstand - betrachtet werden. Dies setzt allerdings eine Modernisierungstheorie voraus, die methodisch mit unterschiedlichen Modernisierungspfaden operiert und Modernisierung nicht als einmaligen historischen Vorgang, sondern als offene Folgen aufeinander aufbauender oder auch sich gegenseitig "revidierender" Modernisierungen beschreibt, in denen bereits modernisierte gesellschaftliche Strukturen veralten und wiederholt reorganisiert werden müssen.
Die staatssozialistischen Gesellschaften entstanden in weltgeschichtlichen Auseinandersetzungen um soziale Folgen und Alternativen der kapitalistischen Industrialisierung. Es ging nicht um einen romantischen Rückweg in die Vormoderne, sondern um einen zum Kapitalismus alternativen Modernisierungspfad, der die Voraussetzungen der kapitalistischen Modernisierungen - insbesondere die Industrialisierung, die Freisetzung des Individuums aus persönlicher und familiärer Abhängigkeit, die Trennung von Arbeit und Leben - gerade nicht rückgängig machen, sondern über sie hinausführen sollte. Mittels der Diktatur des Proletariats, faktisch realisiert in der Parteiherrschaft, der Verschmelzung von Arbeiterpartei und Staatsmacht, sollte eine gestaltbare, an die Bedürfnisse der arbeitenden Menschen zurückgebundene Entwicklung, eine gesamtgesellschaftlich gesteuerte Modernisierung in Gang gebracht werden. Tatsächlich wurden die Grundstrukturen einer modernen Gesellschaft nicht beseitigt, sondern einer Meta-Organisation, der Herrschaft der Staatspartei untergeordnet, deren Macht sich nicht auf den Staat, die Legislative oder die Exekutive beschränkte, sondern alle Funktionssysteme durchdrang: die Betriebe, Banken, Handelsgesellschaften, die öffentlichen Einrichtungen und Medien, das Rechtswesen, die Kultur und das Bildungssystem. Der Staatssozialismus ist nicht hinreichend begriffen, wenn das Staatseigentum an den Produktionsmitteln oder die Zentralverwaltungswirtschaft oder die politische Herrschaft für sich betrachtet werden. Der Kern der Parteiherrschaft war die Fähigkeit, in allen gesellschaftlichen Funktionssystemen intervenieren zu können. Dieser Versuch einer übergreifenden Synchronisation aller Gesellschaftsbereiche, einer total geplanten und kontrollierten Modernisierung, hatte zwar Grenzen: die Unterordnung der Familie und der Privatsphäre gelang kaum6, die Funktionsdefizite in allen Systemen häuften sich und wurden durch wuchernde informelle Praktiken, Schwarzmärkte, Nebenpläne, Sonderaktionen kompensiert. Trotzdem war die Etablierung von Strukturen einer zentral gesteuerten Moderne nicht völlig erfolglos. Der Sowjetunion gelang eine nachholende Industrialisierung, der rasche Aufbau einer Kriegswirtschaft im und der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch in der DDR und anderen sozialistischen Staaten wurden gesteuerte Modernisierungen in Gang gesetzt: in der Wirtschaft und der Landwirtschaft, im Städtebau, dem Gesundheitswesen, in Wissenschaft und Bildung. Allerdings häuften sich die nicht intendierten Effekte, und die Vorstellung einer vollständig steuerbaren Modernisierung geriet in Mißkredit. Verschiedene Reformversuche der 1950er und 1960er Jahre konnten die Probleme aber nicht lösen, die Entwicklung stagnierte; spätestens in den 1980er Jahren lebten die staatssozialistischen Gesellschaften von der Substanz.
Bei der Beurteilung der Mitgegebenheiten staatssozialistischer Gesellschaften geht es also nicht in erster Linie um mehr oder weniger Modernisierungsrückstände, sondern um die strukturellen Besonderheiten dieses in einer Sackgasse endenden Modernisierungspfades. Differente Modernisierungspfade sind auch für die westlichen Gesellschaften darstellbar; der europäische, der US-amerikanische und der ostasiatische Weg der Moderne haben zwar funktionsäquivalente, aber eben keine identischen Gesellschaftsstrukturen erzeugt. Unternehmen und Märkte, Finanz- und Kommunikationssysteme, Recht und parlamentarische Demokratie, Sozial- und Bildungssysteme sind zwar in jedem Fall vorhanden, aber eben in jedem dieser Fälle mehr oder weniger unterschiedlich verfaßt und strukturiert. Sie sind nicht strukturgleich, sondern funktionsäquivalent.
Allerdings weist der staatssozialistische Modernisierungspfad die Besonderheit der oben beschriebenen Herrschaftsstruktur auf. Wir finden in den staatssozialistischen Gesellschaften neben den differenzierten Funktionssystemen Wirtschaft, Recht, Politik, Bildung, Wissenschaft eine als Metasystem über den Funktionssystemen gestaltete Parteiherrschaft, die sich nicht auf die Diktatur als Form der staatlichen Macht beschränkte, sondern bis in jedes Unternehmen, jede Verwaltung, jedes Gericht, in alle Funktionssysteme und Organisationen reichte. Dies war aber keine Rücknahme der funktionalen Differenzierung, kein Weg zurück in die Vormoderne (wie er vom Pol-Pot-Regime in Kambodscha oder den Taliban in Afghanistan angestrebt wurde). Auf der Ebene der Funktionssysteme und der Lebensweisen von aus vormodernen Abhängigkeiten entbundenen Individuen waren die staatssozialistischen Gesellschaften Varianten der Moderne, und zwar nicht nur, weil sie in schon modernisierten oder sich gerade modernisierenden Gesellschaften entstanden waren. Namentlich in den frühen Jahren erfolgten weitere, teilweise mit Vehemenz vorangetriebene Modernisierungsschübe in den einzelnen Teilsystemen, die nicht selten analog und funktionsäquivalent zu den Modernisierungsprozessen der westlichen Gesellschaften verliefen: Industrialisierung, Sozialpolitik, Bildungsoffensiven, Entwicklung der Wissenschaften; die aber auch Wandel von Lebensweisen, Familienstrukturen, Kommunikationsweisen, die Verstädterung u.ä. mit sich brachten.
Die Entwicklung der staatssozialistischen Gesellschaften erfolgte im Kontext der Entstehung und Ausprägung eines Typs der Moderne, der heute als Fordismus bezeichnet wird und der in verschiedenen, global verknüpften Varianten entstand. Man kann einen US-amerikanischen, einen ostasiatischen und einen europäischen Entwicklungspfad unterscheiden, die wieder in verschiedene Varianten (z.B. deutsche, französische, skandinavische, englische) zu differenzieren wären. Trotz der sich grundsätzlich unterscheidenden Herrschaftsstruktur ist es sinnvoll, auch die staatssozialistischen Gesellschaften als fordistisch zu betrachten. Der "sowjetische" Fordismus prägte alle sozialistischen Länder.7 Für die Sowjetunion war der Versuch existentiell, das amerikanische Industriesystem zu kopieren und so eine nachholende Industrialisierung einzuleiten, eine Arbeitsgesellschaft zu etablieren, die verbreitete Selbstversorgung der Bevölkerung durch marktvermittelten Konsum industriell hergestellter Produkte zu substituieren und eine staatlich gesteuerte Sozialpolitik aufzubauen.
Wenn man die DDR als fordistische Arbeitsgesellschaft betrachtet, erscheint aber das Großexperiment des Systemwechsels, der Transformation und der deutschen Einheit in einem anderen Licht. Neben den Differenzen, die vor allem in den Herrschaftsstrukturen bestanden, werden viele Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten und noch mehr Parallelentwicklungen erkennbar, die letztlich auch die Voraussetzung der Transformation und Vereinigung sind. Es ging nicht darum, die Funktionssysteme einer modernen Gesellschaft überhaupt erst aufzubauen, eine fordistische Ökonomie erst in Gang zu bringen, arbeitsgesellschaftliche Handlungsmuster erstmalig durchzusetzen. Der entscheidende Schnitt, den staatssozialistische Gesellschaften machen mußten, um die grundlegende Differenz zu den westlichen Gesellschaften zu überwinden, ist die Beseitigung der Herrschaftsstruktur über den Funktionssystemen und Lebenswelten. Dieser Schnitt wurde durch den Sturz der Herrschaft der Staatsparteien, im Fall der DDR durch den Sturz der SED, vollzogen - und zwar nicht von Geheimdiensten, nicht von Beratern und nicht von Investoren, sondern vom Volk, das mit seiner letzten historischen Tat aus der Weltgeschichte verschwand, sich in Bevölkerung auflöste.8

DDR und BRD - grundverschiedene Gesellschaften?
An dieser Stelle kann die Frage nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen der DDR und der BRD differenzierter beantwortet werden:
1. Die DDR war wie die anderen europäischen staatssozialistischen Gesellschaften eine fordistisch geprägte moderne Gesellschaft. Dies ist nicht nur auf die industrielle und arbeitsgesellschaftliche Vorgeschichte bis 1945 zurückzuführen. Auch und gerade die Entwicklung nach 1945 war für diese fordistische Orientierung maßgeblich. Die Entwicklung der Ökonomie war durch die Rückkopplung von industrieller Massenproduktion und Massenkonsum industriell gefertigter Konsumgüter - und die Wachstumsdynamik dieses Zusammenhangs - geprägt. Arbeitsgesellschaftliche Lebensweisen dominierten deutlich, Betrieb und Haushalt, Erwerbsarbeit und Hausarbeit waren getrennt, Eingenerationenfamilien bestimmten das Bild, die Reproduktion des Lebens erfolgte ökonomisch durch Erwerbseinkommen und damit finanzierten Erwerb industriell gefertigter Konsumgüter und nur zum geringen Teil durch hauswirtschaftlich erzeugte Güter und Leistungen. Die "innere Landnahme" (Lutz) war auch in den sozialistischen Gesellschaften erfolgt; in der DDR mehr, in Rumänien und Albanien eher weniger.
2. Die Basisinstitutionen für die Regulation fordistischer Produktions- und Lebensweisen waren in der DDR vorhanden: ein Regulationssystem wirtschaftlichen Wachstums, das Produktion, Geldströme und Konsum koordiniert (im Kern die zentrale "Volkswirtschaftsplanung"), eine Erwerbsarbeitsordnung und die Sozialsysteme, die die Transfereinkommen der nicht erwerbstätigen Bevölkerung und die Sozialleistungen regulieren. Ebenso ein Wissenschafts- sowie ein Bildungs- und Berufsbildungssystem. Der Aufbau dieser Basisinstitutionen konnte in der DDR an die industrielle und arbeitsgesellschaftliche Vorgeschichte anknüpfen, aber ein Blick auf die Sowjetunion zeigt, daß auch dort derartige Modernisierungen stattgefunden haben, obwohl die industrielle Vorgeschichte in viel geringerem Maße Voraussetzungen fordistischer Entwicklung geschaffen hatte und weite Teile des alten Rußland bis in das 20. Jahrhundert durch Subsistenzwirtschaft und auf Eigenarbeit beruhende Lebensweisen geprägt waren. Die fordistische Entwicklung der DDR kann also nicht nur auf die industrielle Vorgeschichte zurückgeführt werden, sie ist ebenso durch eine fordistische Eigendynamik der staatssozialistischen Ordnungen selbst zu erklären, die zwar eingeschränkt und defizitär gewesen sein mag, aber zumindest für mehrere Jahrzehnte im großen und ganzen funktioniert hat.
3. Wirtschaftliches Wachstum und Konsum waren über steigende Arbeitseinkommen und zunehmende Sozialausgaben verkoppelt, auch wenn diese Steigerungen nicht die Größenordnung westlicher Gesellschaften erreichten. Dieser Zusammenhang wurde anders als in marktwirtschaftlichen Fordismen über ein zentrales staatliches Planungssystem vermittelt, das Produktion, Löhne, Sozialfinanzen, Konsumtions- und Akkumulationsfonds sowie Ausgaben für Militär und Staat zu koordinieren hatte. Zu den Funktionsdefiziten gehörte allerdings eine systematische Überbewertung der Produktionsergebnisse, die zu (relativ gesehen) allzu hohen Ausgaben für Sozialleistungen, Löhne und nicht zuletzt für Staat und Militär führten. Die Folge war ein wachsender Überhang der Nettogeldeinnahmen der Bevölkerung und der Finanzen der Betriebe, mit der Kehrseite eines permanenten Unterangebots an Konsum- und Investitionsgütern. Unter den Bedingungen des Systemwettbewerbs mit dem Westen konnten aber die Löhne und die Sozialausgaben nicht gesenkt und die Preise nicht erhöht werden, das permanente Unterangebot an Konsumgütern mußte durch Einbußen bei der Akkumulation und wachsende Auslandsschulden begrenzt werden. Dieses Problem hatten mehr oder weniger alle sozialistischen Länder; man könnte also sagen, daß der staatssozialistische Fordismus hier ein systemisch bedingtes Funktionsdefizit aufweist.
4. Die Basisinstitutionen einer fordistischen Gesellschaft sind in den verschiedenen Varianten des Fordismus unterschiedlich verfaßt, daher ist hier von Funktionsäquivalenz, nicht von Gleichheit zu reden. Die Basisinstitutionen der DDR waren trotz der gleichartigen Vorgeschichte meist anders strukturiert als die der BRD. Daraus ergeben sich Unterschiede, die kleiner oder größer gewesen sein können, aber nicht pauschal, sondern von Fall zu Fall analysiert werden müssen.
Der zentrale Unterschied des staatssozialistischen Fordismus besteht im bereits oben beschriebenen Herrschaftstyp, der Dominanz der Staatspartei über alle Funktionssysteme und Organisationen. Die Herrschaftsstruktur des staatssozialistischen Fordismus hatte Folgen für die Basisinstitutionen selbst. Sie fungierten ja auch als Mittel der Reproduktion von Herrschaft, zudem wurde versucht, ihre Entwicklung in sehr viel höherem Maße zu synchronisieren, als dies in Fordismen westlichen Typs denkbar wäre. Der Konflikt zwischen der trotzdem vorhandenen Eigendynamik der Subsysteme und den Versuchen, sie einer "gesamtgesellschaftlichen" Strategie und Herrschaft unterzuordnen, war eines der typischen Probleme in der Geschichte staatssozialistischer Gesellschaften. Die Folgen dieser Einbindung für das Modernisierungsgeschehen kann man aber nicht pauschal bewerten. In einzelnen Bereichen hatten sie Beschleunigung zur Folge (z.B. Landwirtschaft, Kinderbetreuung), in anderen Deformierungen und Limitierung (z.B. Medien).
5. Zwischen verschiedenen Fordismusvarianten - etwa der US-amerikanischen, japanischen, skandinavischen, französischen oder deutschen - bestehen erhebliche kulturelle Unterschiede, die aus der Vorgeschichte und der jeweils spezifischen Gestalt der fordistischen Basisinstitutionen folgen. Demzufolge kann man auch erhebliche Unterschiede zwischen der DDR und der BRD konstatieren, ohne daß die These, beides seien Varianten der fordistischen Moderne, in Frage gestellt werden müßte. Hier ist ohne Analyse im Detail nicht auszukommen. Es scheint so zu sein, daß die DDR kulturell gesehen eher "arbeiterlich" (Engler) und insofern "fordistischer" geprägt war als die BRD. Der Aufbau der DDR war von der Flucht und Abwanderung großer Teile vor allem der Mittelschichten und der bürgerlichen Klassen begleitet, und im Zentrum der sozialistischen Weltsicht standen Arbeit und Arbeiter. Setzte sich in Westdeutschland die Tendenz zu einer nivellierten Mittelstandgesellschaft und zur Orientierung der Arbeiter an den Mittelschichten durch, so verallgemeinerte sich die "Arbeiterkultur" in der DDR, auch weil sich die "Eliten" als Arbeiter gerierten. Eine weitere erhebliche kulturelle Differenz zum Westen ergab sich aus dem im Vergleich erheblichen Umfang informeller Praktiken im Alltag und in den Betrieben, die als Gegenstück der Herrschaftsstrukturen und zur Kompensation von Funktionsdefiziten entstanden. Hier könnte man von einer Alltagskultur reden, die nur aus der Spannung von Herrschaft und Eigensinn der Lebensweisen im Staatssozialismus verstanden werden kann und die insofern auch einen prinzipiellen Unterschied zu westlichen Fordismen markieren könnte.

Zusammenfassend meine These: Die staatssozialistische DDR war eine fordistische moderne Gesellschaft mit eigenen und spezifisch verfaßten fordistischen Basisinstitutionen, die zugleich eine prinzipielle Besonderheit aufweist: die Herrschaftsstrukturen und die dadurch bedingten Besonderheiten in Institutionen und Alltagskultur. Für die Beurteilung des Transformationsgeschehens folgt aus dieser These, daß das Konzept einer nachholenden Modernisierung wenig hilfreich ist. Es handelt sich vielmehr um einen Pfadwechsel, wobei von grundlegenden institutionellen Ähnlichkeiten beider Gesellschaften unterhalb der Herrschaftsebene ausgegangen werden kann, die sich auf die fordistische Grundkonstellation beziehen. Die trotz gemeinsamer Vorgeschichte nach 1945 entstandenen Unterschiede sind also zu einem Teil als Wirkungen des staatssozialistischen Herrschaftstyps in der DDR auf Institutionen, Regulation und Alltag zu erklären, zum anderen aber handelt es sich auch die Kumulation von unterschiedlichen, aber funktionsäquivalenten Variationen des fordistischen Grundmusters.

Formelle und reelle Institution
Betrachtet man die DDR im Jahre 1990 als eine fordistische Gesellschaft, die sich von den staatssozialistischen Herrschaftsstrukturen befreit hat, so ist der Vergleich der Strukturvarianten und - wenn dies überhaupt möglich ist - auch des Modernisierungsgrades einzelner Funktionssysteme und der Lebensweisen letztlich eine empirische Frage, die nicht pauschal, sondern nur von Fall zu Fall beantwortet werden kann. Dabei wird man zu unterscheiden haben zwischen differenten, aber funktionsäquivalenten Strukturen - wie wir sie etwa im Schul- und Hochschulwesen finden - und differenten Modernisierungsniveaus. Letztere können methodisch sinnvoll eigentlich nur bei gleichartigen Strukturen verglichen werden. Hilfsweise kann man aber versuchen, die Leistungsfähigkeit funktionsäquivalenter Strukturen zu beurteilen.9 Dabei wird man nur in einigen Fällen zu eindeutigen Ergebnissen kommen können; funktionsäquivalente, aber differente Strukturen sind wegen der Vielschichtigkeit der Rückkopplungen mit anderen Strukturen nicht ohne weiteres vergleichbar. Immerhin - Kommunikationstechniken oder Finanzsysteme der DDR weisen eindeutig Modernisierungsrückstände auf, die Landwirtschaft der DDR hatte dagegen einen Modernisierungsvorlauf. Schwieriger ist es, die funktionsäquivalenten Strukturen der beiden Bildungssysteme oder auch den Modernisierungsgrad von Lebensweisen zu vergleichen.
Untersuchungen der Landwirtschaft zeigen, daß die großbetrieblichen fordistischen Betriebsstrukturen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und Volkseigenen Güter (VEG) durchaus kompatibel waren mit den Branchenstrukturen der westdeutschen Wirtschaft, speziell mit der verarbeitenden Lebensmittelindustrie und den Zulieferbranchen, daß sie aber auch gut zum Regelsystem der EU-Landwirtschaft paßten. Dies hat zur Durchsetzung eines eigensinnigen Transformationspfades geführt (vgl. Lehmbruch/Mayer 1998; Land 2000). Dagegen zeigt eine Analyse der Transformation des Gesundheitswesens, daß einige Strukturen des DDR-Gesundheitswesens wohl effizienter und moderner als die westdeutschen gewesen sein mochten, sich aber wegen des gewählten Transformationspfades formell nicht oder nur sehr eingeschränkt gegen die Interessenstrukturen der westdeutschen Akteure behaupten konnten (vgl. Czada/Lehmbruch 1998).
In der Landwirtschaft mußte zuerst die Politik der Agrarverbünde und dann auch das Landwirtschaftsrecht den im Osten endogen entstandenen, nicht intendierten Transformationstatsachen angepaßt werden, mit deutlichen Rückwirkungen auf die Landwirte im Westen. Im Gesundheitswesen wurde formell das westdeutsche System (Trennung von Kassen, Ärztekammern und privaten Arztpraxen, Trennung von ambulanter und stationärer Behandlung usw.) durchgesetzt; auf den ersten Blick scheint es so, daß endogene Potentiale dabei nicht zum Zuge kamen. Aus journalistischen Berichten und Beobachtungen wissen wir aber, daß sich auch hier eine eigensinnige Praxis des Umgangs mit den importierten Institutionen etabliert hat, die sich von der westdeutschen unterscheidet: Vielerorts wurden staatliche Polikliniken in gemeinschaftlich betriebene Ärztehäuser umgewandelt, deren tagtägliche Praxis durchaus einige Muster der ehemals staatlichen Polikliniken reproduziert. Und nicht wenige Krankenhäuser haben ihre Polikliniken zwar entsprechend der geltenden Rechtslage aufgegeben, d.h. in juristisch selbständige Einrichtungen mit privaten Arztpraxen verwandelt. Aber immer noch sind sie auf dem Gelände der Krankenhäuser, immer noch ist es für die Ärzte nicht unüblich, neben dem Krankenhausdienst auch in einer solchen Praxis mitzuarbeiten, und nach wie vor wird die eingeübte Praxis der Kooperation zwischen Krankenhausstationen und Ambulanzen angewendet. Es mag sein, daß diese institutionelle Praxis unter der neuen Rechtslage nur suboptimal funktioniert, denn Wettbewerb und Datenschutz begrenzen die "Weitergabe" der Befunde und die Verzahnung der Therapien. Hinzu kommt, daß das kassenärztliche Abrechnungssystem solcher Kooperation viele Steine in den Weg legt. Trotzdem zeigt sich, wie formell übertragene Institutionen, mitgebrachte Handlungsmuster und Ressourcen der Akteure faktisch doch zu neuen Strukturen führen. Dabei bleibt für den Fall des Gesundheitswesens offen, ob diese ostdeutsche Besonderheit Rückwirkungen auf den Westen haben wird (die Chancen sind viel schlechter als im Fall der Landwirtschaft), ob sie als regionale Besonderheit bestehen bleiben oder schließlich doch verschwinden.
Auch für die gewerbliche Industrie zeigen einschlägige Studien, daß die aus der Synthese westdeutscher Institutionen und ostdeutscher Mitgegebenheiten entstandene neue Praxis industrieller Beziehungen und wirtschaftlicher Verwertungsstrategien nicht ganz den westdeutschen Vorbildern entspricht (vgl. Brussig 2001; Bluhm 1999). Ein weiteres Beispiel eines eigensinnigen Transformationsgeschehens, der Umgang der Ostdeutschen mit der "Arbeitsgesellschaft" und den Instrumenten des Sozialstaats, soll unten genauer dargestellt werden.
Die Beispiele zeigen, daß sich im Detail sehr differente Transformationsmuster zeigen lassen. Das allgemeine Modell - 1. Institutionentransfer, 2. nachholendes Erlernen und Einüben der neuen Praxis, 3. im Prinzip läuft alles so wie in Westdeutschland, was hieße, daß verbliebene Differenzen für das Funktionieren nicht mehr relevant sind - erklärt nichts, auch wenn es für bestimmte Akteursperspektiven eine unabdingbare (aber eben deshalb bornierte) Prämisse zu sein scheint.
Man kommt viel weiter, wenn man die Transformation als einen Pfadwechsel innerhalb des Spektrums fordistischer Modernisierungen behandelt, der im Fall der DDR - anders als in den anderen ehemals sozialistischen Staaten - durch Übernahme des Rechts- und Organisationssystems der Bundesrepublik eingeleitet und mit erheblichen Transfers finanziert und unterstützt wurde. Was dann in den einzelnen Transformationsfeldern tatsächlich geschieht, welche "Mitgegebenheiten" auf welche Weise in das neue Rechts- und Organisationssystem eingebaut werden, was funktioniert und sich entwickelt und wo Defizite und Blockaden auftreten, kann dann nicht mehr pauschal aus einer theoretischen Prämisse gefolgert oder spekuliert, sondern muß im einzelnen empirisch analysiert werden. Dies gilt dann aber auch für das Gesamtergebnis - ob und wie es letztlich gelingt, eine Bevölkerung von 16 Millionen Menschen in die Bundesrepublik zu integrieren, ob, wo und wie sich die Bundesrepublik dabei selbst verändert, oder ob große Teile der ehemaligen DDR-Bevölkerung über Dauersubventionen aus Aufsteigerszenarien "exkludiert" bleiben müssen. Vor allem aber ist aus einer solchen Perspektive zu erkennen, daß die Lösung der ostdeutschen Probleme weniger davon abhängt, ob der westdeutsche Fordismus im Osten funktionsfähig gemacht werden kann, sondern vor allem davon, wieweit fordistische soziökonomische Strukturen überhaupt noch funktionsfähig sind bzw. in welchem Tempo sie revidiert werden und in welchem Maße neue funktionsfähige sozioökonomische Entwicklungspfade aus der Revision des Fordismus herauskommen.

Doppelter Umbruch
Im Bericht des Forschungsverbundes "Berichterstattung zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland: Arbeit und Lebensweisen" wird der Transformationsprozeß als "doppelter Umbruch" behandelt. Doppelter Umbruch bedeutet zunächst: Überlagerung des Systemwechsels vom Staatssozialismus in eine Gesellschaft westlichen Typs mit dem Umbruch, in dem sich die westlichen Gesellschaften selbst seit Mitte der 1970er Jahre befinden. Dieser Umbruch wird als "beginnende Entkopplung" des fordistischen Zusammenhangs von "ökonomischer Effizienz und sozialen Erträgen" (Bericht 2002: 5) dargestellt, der zugleich als Suche nach einer neuen Balance, einer neuen Kopplung oder auch einem neuen Regulationsregime verstanden wird. Dabei bleibt bis auf weiteres offen, ob er als Modifizierung und dadurch zugleich Stabilisierung fordistischer Regime oder als qualitativ neue, vorläufig noch unbestimmte und unbekannte nach- oder postfordistische Entwicklung zu verstehen sein wird.
Die mit dem Institutionentransfer eingeleitete Transformation soll auf den westdeutschen Entwicklungspfad einschwenken, dieser ändert sich aber selbst gerade. Die Wirksamkeit der in Ostdeutschland importierten Institutionen, die in Westdeutschland für die Hochzeiten des Fordismus im wesentlichen gegeben war, ist unter den Bedingungen der 1990er Jahre, der inzwischen ausgewachsenen Krise des fordistischen Regulationssystems, selbst beschränkt.10
Für die DDR, die ihre Transformation mit dem Beitritt zur Bundesrepublik und der Übernahme des westdeutschen Institutionen- und Organisationssystems einleitete, hatte dies eine eigentümliche Konsequenz: Ein bloßer Nachvollzug westdeutscher Entwicklungen konnte keine erfolgreiche Entwicklung auslösen - man importierte Institutionen, die neue Entwicklungen nur unzureichend in Gang bringen konnten, aber die Zeiten für eine bloße Wiederholung des fordistischen Wirtschaftswunders waren vorbei. Man etablierte Institutionen, die selbst gerade umgebaut werden oder die, wo Umbau blockiert ist, zu Hemmnissen wurden. Dies betrifft vermutlich nicht alle Institutionen in gleichem Maße, aber beispielsweise die Regulationssysteme der Erwerbsarbeit, die Sozialsysteme, die Verwaltungsstrukturen, das Bau- und Investitionsrecht, das Steuersystem, die Kommunalverwaltungen und -finanzen, das Bildungssystem.
Aus dem Dilemma gab es aber keinen Ausweg: Die Transformation durch Beitritt war politisch unausweichlich, also mußten Institutionen und Organisationen weitgehend so transferiert werden, wie man sie vorfand - und zwar unter Wahrung der gegebenen Interessen- und Kräfteverhältnisse der jeweils an bestimmte Institutionen gebundenen westdeutschen Organisationen, Parteien, Verbände, Gewerkschaften. Die Idee, die Institutionen und Organisationen gerade im Zuge der Transformation zu reformieren, war eine Illusion - nicht nur wegen der zur Verfügung stehenden Zeit, sondern vor allem, weil damit die Kräfteverhältnisse der bundesdeutschen Gesellschaft in Bewegung gebracht worden wären (Land 1999), was wiederum den im Westen fragilen "Vereinigungskonsens" aus dem Lot gebracht hätte.
Die Übertragung an sich reformbedürftiger Institutionen hatte die zusätzliche paradoxe Folge, daß die anstehenden Reformen und Reorganisationsprozesse im Westen eher verzögert, Umbauprozesse hinausgeschoben, überlebte Institutionen noch einmal stabilisiert wurden. Westdeutsche Unternehmen konzentrierten sich mehrere Jahre auf den Ausbau ihrer Absatzmärkte und die Integration verwendbarer ostdeutscher Ressourcen und vernachlässigten die Restrukturierung durch Innovationen und Investitionen in die Zukunft, verloren Weltmärkte und Globalisierung nicht ganz, aber ein Stück weit aus dem Blick. Heute wird allenthalben der dadurch entstandene Rückstand der deutschen Industrie beklagt. Die Gewerkschaften und Unternehmerverbände sorgten sich jahrelang um den Aufbau ihrer Organisationsstrukturen in Ostdeutschland und die Etablierung eines Tarif- und Betriebsrätesystems, welches das im Westen entstandene Kräfteverhältnis nicht durcheinanderbringt und die im Westen geltenden Tabus nicht verletzt. Eine fortschrittliche Reform des alten fordistischen Tarif- und Betriebsverfassungssystems wurde dabei verschoben. Die Arbeitslosenversicherung war jahrelang mit der Eindämmung der nicht abreißenden Kette von Arbeitsmarktkatastrophen im Osten beschäftigt, die Reform der Arbeitsmarktpolitik blieb liegen; und die Überführung der in der DDR entstandenen Rentenansprüche dominierte die Frage nach dem Umbau der Rentenversicherung. Das westdeutsche Hochschulsystem war 1990 eigentlich am Ende, hätte dringend und grundlegend modernisiert werden müssen, aber die Übertragung auf Ostdeutschland hatte es vorläufig noch einmal stabilisiert und vor der Renovierung bewahrt.
Der doppelte Umbruch hatte so gesehen zwei unausweichliche und gravierende Folgen: erstens eine Kumulation von Funktionsdefiziten im Osten, die möglicherweise auch die zentrale Ursache für das Stocken des Aufbauprozesses Mitte der 1990er Jahre darstellt. Zweitens aber die Verzögerung von Umbauprozessen in West- bzw. Gesamtdeutschland.
Ostdeutschland ist nicht auf einen stabilen fordistischen Entwicklungspfad eingeschwenkt und konnte dies auch nicht - weil dieser global gesehen obsolet geworden war. Vielmehr ist ein "nachfordistisches" Experimentierfeld entstanden: Eine fordistisch-arbeitsgesellschaftlich sozialisierte Bevölkerung steht einem "postfordistischen" Reorganisationsprozeß gegenüber, welcher Massenarbeitsplätze so schnell wie nirgendwo in der Welt abgebaut, zu großflächigen Deindustrialisierungen einerseits und hochmodernen, effizienten kleinen Betrieben mit Minibelegschaften geführt hat, die in überregionale - westdeutsche, europäische oder globale - Netzwerke eingebettet sind und deren zweifellos großen Synergie- und Multiplikatoreneffekte irgendwo in der Welt, kaum aber am Standort wirksam werden.
Gleichzeitig sind die Instrumente des sozialen Ausgleichs derartiger Risiken und Umbrüche überholt, weil sie expandierende fordistische Arbeitsmärkte und hohe Beschäftigungsquoten voraussetzen. Daher Arbeitsvermittlung - ohne Arbeitsplätze; Qualifizierung - ohne Qualifizierungsbedarf; ABM und SAM - ohne wirtschaftliche Effekte; massenhafter Vorruhestand - trotz der demographischen Probleme im Rentensystem. Zwar wird auf diese Weise der soziale Absturz der Bevölkerung verhindert - doch es gibt keine Impulse für gesellschaftliche Reorganisation und weittragende politische Reformen. Die Transformation blockiert sich selbst, weil sie über den Institutionentransfer nicht hinaus, zum Umbau der Institutionen kommen kann. Hier dürfte der Unterschied zu anderen ehemals staatssozialistischen Ländern bestehen, die ihre Institutionen neu erfinden und erstreiten mußten, dabei zwar möglicherweise viele Fehler gemacht oder auch Institutionen kopiert haben, die sich bald als reformbedürftig erweisen könnten. Aber sie haben es leichter, diese noch einmal umzubauen, weil der von Olson (1991: 100ff., 218f.) beschriebene Effekt "institutioneller Sklerose", die Rückkopplung der Institutionen an etablierte Organisationen, Besitzstände und Beschlußlagen, noch nicht verfestigt ist.

Selektive Fragmentierung
Die folgenden Tendenzen sind eher als Hypothesen denn als Befunde aufzufassen - es handelt sich um Schlußfolgerungen aus Einzeluntersuchungen und Beobachtungen. Sie sollen eher Fragestellungen für die sozialwissenschaftliche Forschung (und Berichterstattung) aufzeigen als definitive Antworten geben. Das Forschungsfeld ist trotz der Vielzahl an Transformationsstudien in dieser Hinsicht nicht umfassend erschlossen.
Beobachtet man die Entwicklung seit 1994, so kann man sehr erfolgreiche Einzelbeispiele, Fälle definitiven Scheiterns und eine Mehrzahl von Fällen des bloßen "Überlebens" ohne aufsteigende Entwicklungsdynamik aufzeigen. Dies kann an Betrieben ebenso verfolgt werden wie an Biographien, Städten oder Regionen. Wir sprechen von Fragmentierung - dem Gegenteil des fordistischen Fahrstuhls.
Betriebe mußten nach der Währungs- und Wirtschaftsunion und der Privatisierung versuchen, neue Märkte, neue Geschäftspartner und Investoren zu finden. In den Erfolgsfällen zeigt sich fast immer, daß dies nur über die Integration in neue überregionale Zusammenhänge, in globale, aber in der Mehrzahl westdeutsch vermittelte Interaktionsnetzwerke gelang. Betriebe, die aus Sicht der Investoren brauchbar waren, wurden in deren Potential eingebaut, beispielsweise die Autowerke in Zwickau, Eisenach und Ludwigsfelde, einige Chemiewerke in der Region Halle-Dessau und sowie einzelne Maschinenbaubetriebe des Erzgebirges und Thüringens. Betrieben, die eine echte überregional relevante Marktlücke (keine bloße Nische) nutzen und entsprechende Ressourcen mobilisieren konnten, gelang die überregionale Etablierung zuweilen auch ohne formelle Eingliederung in ein westdeutsches Mutterunternehmen, beispielsweise der Rotkäppchen-Sektkellerei. Auch Neugründungen weisen diese Muster auf. Ein Autowerk entsteht, weil die Arbeitskräfteressourcen und die Standortbedingungen in der Region Leipzig per Saldo günstiger sind als an anderen Standorten - der Einbau des neuen Betriebes in ein globales Netzwerk ist von vornherein gesichert. Ein Werk für Plastikteile mitten in der Pampa am Autobahnkreuz macht Sinn, weil die Zulieferung des Rohmaterials und der Abtransport der Halbfabrikate leicht möglich sind, die Förderbedingungen exzellent und qualifizierte Arbeitskräfte aus dem geschlossenen VEB leicht verfügbar. In einem Mecklenburger Gewerbepark findet sich eine von einem DDR-Ingenieur gegründete Firma, die erfolgreich Windräder baut und verkauft. Daneben ein von einem entlassenen ehemaligen DDR-Professor gegründete Biomedizin-Zentrum. Beide dürfen sich zu den Aufsteigern zählen. Als Dritter im Bunde hat ein großer Pharmakonzern eine Filiale aufgebaut, die mit dem Patent des Professors und dem Know-how des ostdeutschen Biomedizinzentrums neue Blutplasmaprodukte herstellt und in die ganze Welt verkauft. Der Nächste an der Straße, eine Metallbaufirma, hält sich mit lokalen Aufträgen über Wasser und muß zu Dumpingpreisen versuchen, das zu bauen, was irgendwo gerade mal gebraucht wird. Der regionale Entsorgungsbetrieb wieder eine Ecke weiter hat zwar ein mehr oder weniger geschütztes Betätigungsfeld, nur als innovativen Aufsteiger kann man ihn nicht sehen. Seine Grenze sind die Müllgebühren in einer Region mit schrumpfender Bevölkerung und geringen Einkommen, seine Mittel sind das Monopol und der administrative Zwang gegen Leute, die den alten Müllplatz am Waldrand kostengünstiger finden als die Mülltonne. Die Metallbaufirma, der Müllentsorger, der örtliche Baubetrieb, der Elektromeister, der Heizungsinstallateur und einige andere kleine Betriebe sind zwar im gleichen Gewerbepark ansässig, aber ihre Kunden und ihre Schnittstellen zur Außenwelt sind ganz anders gestrickt als beim Windkraftanlagenhersteller oder den Biomedizinern. Die einen hängen an lokalen Wirtschaftskreisläufen ohne Dynamik, die anderen an der großen weiten Welt. Miteinander haben sie nur wenig mehr als nichts zu tun - immerhin müssen Gewerbegebietsgebühren aufgeteilt, Zäune justiert und vielleicht auch mal ein Azubi ausgetauscht werden. Es mag auch sein, daß der Elektromeister zuweilen einen Reparaturauftrag bekommt - eher für die Steckdosen in der Teeküche, denn für die Produktionsanlagen im Reinst-raum gibt es Wartungsverträge mit Firmen weit weg und die Haftungsregeln machen Aufträge an lokale Dienstleister schwer möglich. Lokale Geschäftsbeziehungen bestehen, aber sie liegen außerhalb des dynamischen Segments.
Das Prinzip des Aufsteigerfragments ist die gelungene Einbettung in überregionale dynamische industrielle Zusammenhänge, gleich ob Filialbetrieb oder eigenständig. Die Kehrseite ist die oft sehr weitgehende Entbettung aus regionalen Wirtschaftskreisläufen: sehr wenig Personal, Anbindung an Zuliefer- und Abnehmerstrukturen und Forschungspotentiale außerhalb der Region; oft werden auch die qualifizierten und teuren wirtschaftsnahen Dienstleistungen überregional eingekauft. Gleiches gilt für arbeitsintensive Prozesse, die besser nach Taiwan, Indien oder China passen. Die Erfolgsgeschichten sind daher für die Region nicht selten zugleich schmerzhafte Verluste, die lokalen Effekte kompensieren kaum die Fördermittel und die öffentlichen Investitionen in wirtschaftsnahe Infrastruktur.
Das andere Segment ist in enge lokale Kreisläufe ohne Dynamik eingebunden. Die mangelnde Teilhabe an dynamischen Entwicklungen wird durch regionale Bindungen ersetzt, Kunden, Preise, Verkehrsformen, Innovations- und Marktstrategien sind lokal orientiert. Man überlebt nur, weil man sich überregionaler Konkurrenz nicht aussetzen muß. Dies charakterisieren wir als Ghettoisierungstendenz. Ein Wechsel in das Aufsteigersegment ist weitgehend ausgeschlossen; betriebliche Strukturen, externe Einbindungen und Kapitalausstattung dafür sind nicht vorhanden, und die bald verfestigten Orientierungen der Akteure verstärken die Enge. Untersuchungen zeigen, daß die Aufsteiger zumeist eine Produktivität und Ertragslage haben, die vergleichbaren westdeutschen Betrieben entspricht und nicht selten sogar darüber liegt. Im anderen Segment dagegen ist die Produktivität geringer - nicht weil die Arbeiter fauler oder die Maschinen veraltet wären, sondern weil die lokalen Verkaufspreise zu niedrig, die Auslastung zu gering, die Kapitaldecke zu kurz und das Management zu provinziell sind.
Die Erfolgsfälle haben zumindest bislang keine Verdichtungen, keine relevanten Clusterbildungen mit anhaltender Wirkung auf die lokalen Wirtschaftskreisläufe ausgelöst. Wenn dies kein Zufall ist, sondern systematische Ursachen in einem veränderten "postfordistischen" Muster der Industrieentwicklung hat, ist das Scheitern zweier zentraler Konzepte zur Bewältigung der ostdeutschen Probleme aber trotz aller Erfolge im kleinen vorprogrammiert: weder Großinvestoren noch integrierte Regionalentwicklung werden zu Wachstumsgrößen führen, die den fordistischen Fahrstuhl wieder in Gang setzen und die ostdeutschen Arbeitsmarktprobleme lösen. Der Weg in die Arbeitsgesellschaft ohne Arbeit und die Bundesagentur für Nichtarbeit scheinen dann unausweichlich.
Das Problem besteht nicht darin, daß es einerseits überregional und andererseits lokal orientierte Unternehmen gibt - das war auch in anderen Phasen industrieller Entwicklung der Fall; sondern daß damit getrennte Dynamiken verbunden sind - und dies war in Phasen industriellen Aufstiegs gerade nicht der Fall. Warum regionale und lokale Wirtschaftskreisläufe überall in Ostdeutschland, nicht nur in Mecklenburg, sondern auch in Berlin, Leipzig und Jena, kaum von der Dynamik überregional agierender Unternehmen mitgezogen werden, ist zumindest erklärungsbedürftig. Der Verweis, daß sie in schrumpfenden Regionen mit sinkender regionaler Nachfrage agieren, hilft als Erklärung wenig, denn die Schrumpfung ist ja selbst eine Folge fehlender Dynamik. Zudem findet sich die geschilderte Fragmentierung auch in Regionen mit Bevölkerungswachstum. Für die Erklärung bieten sich bislang zwei Hypothesen: Erstens könnte es sein, daß die Verzahnung überregionaler und lokaler Dynamik eine lang angelegte Koevolution verschiedener Unternehmen und Unternehmenstypen voraussetzt, der kurze Zeitraum der Transformation und der gewählte Transformationspfad aber die Entwicklung von Clustern aufeinander bezogener Unternehmen kaum möglich gemacht haben. Eine zweite Erklärung wäre, daß sich die Muster industrieller Entwicklung im Zuge der sogenannten Globalisierung verändert haben, z.B. weil die für die Entwicklung eines dynamischen Unternehmens benötigten Dienstleistungen und Zulieferungen ohne weiteres auch in der Ferne, global eingekauft werden können. Jedes Argument für sich überzeugt nicht ganz.
Aus der strikt fordistischen Massenproduktion der DDR wurde der für Westdeutschland brauchbare Kern erhalten, auf höchstem technischen Stand modernisiert und dort punktuell erweitert und ausgebaut, wo besondere Ressourcen dies nahelegten. Zugleich entstanden neue Unternehmen, doch kaum in Bereichen der arbeitsintensiven fordistischen Massenproduktion (warum auch, hier expandiert nichts). Sie entstanden in hocheffizienten Technologiebereichen, hier finden sich die Aufsteiger. Diese sehr dünne, aber hochproduktive spätfordistische oder nachfordistische Industrie ist wettbewerbsfähig. Aber es entstand kein insgesamt tragfähiger Wirtschaftskreislauf, der die Gesamtheit des vorhandenen Bedarfs und die Gesamtheit der vorhandenen Ressourcen, also auch regionale Exporte und Importe, ins Gleichgewicht bringt; warum auch, die Potentiale im Westen reichen aus, um Ostdeutschland mit zu versorgen. Die im Zuge der Modernisierung freigesetzten Ressourcen - vor allem an Arbeitskraft - konnten nicht durch die Expansion anderer Wirtschaftsfelder wieder gebunden werden. In der Bilanz sind die ostdeutschen Regionen Nettoimporteure - und als logische Konsequenz Nettotransferempfänger.
Eine solche Fragmentierung kann man in der Landwirtschaft in der Dimension der ganzen Branche feststellen. Hier ist es aber die Mehrzahl der flächenmäßig größeren und industriell arbeitenden hochtechnisierten Betriebe, die zum Aufsteigersegment gehören; was sie zurücklassen, sind überflüssig gewordene Arbeitskräfte und das an den gekappten Schnittstellen der DDR-Landwirtschaftsbetriebe einst angeschlossene Umfeld: die Dörfer, die Werkstätten und die regionalen Verarbeitungsbetriebe, die für DDR-Verhältnisse zwar groß, aber für die EU zu klein und zu unproduktiv waren. Den riesigen Verarbeitungsbetrieben und globalen Netzwerken der EU-Lebensmittelindustrie aber kamen die Großbetriebe der DDR gerade recht. Der größere Teil der industrialisierten Landwirtschaft der DDR konnte durch wenige Reorganisationsschnitte sehr schnell an die westeuropäischen Schnittstellen andocken. Heute gehört die ostdeutsche Landwirtschaft zu den produktivsten und rentabelsten der Welt. Die Kehrseite ist die weitreichende Entbettung aus dem regionalen Kontext. Es werden nur sehr wenige Arbeitskräfte benötigt - die Mehrzahl der Dorfbewohner, die früher fast alle irgendwo in der LPG gearbeitet hatten, bleibt ohne Beschäftigung zurück. Die großen Zuliefer- und Verarbeitungsnetzwerke stehen EU-weit offen; die Mühle, der Schlachthof, die Molkerei, die Schlosserwerkstatt und die ehemals LPG-eigene Schmiede können zwar oft gerade überleben, aber nur, weil sie sich andere, kleine Kunden suchen, sich in lokale Netzwerke und Nischen einbetten. Das eine Fragment orientiert sich auf die effizienten überregionalen Wirtschaftszusammenhänge, das andere auf die lokalen Ghettos.
Man kann die Fragmentierung auch an dem an Menschen gebundenen "Humankapital" verfolgen: Junge, dynamische, motivierte Arbeitskräfte wandern ab, pendeln in die alten Bundesländer oder versuchen, bei einem der Aufsteiger unterzukommen. Der verbleibende Teil der Bevölkerung arbeitet in Betrieben mit unterdurchschnittlicher Bezahlung, mit "Haustarif", jobbt ohne regelmäßiges Einkommen, arbeitet in "Maßnahmen" (ABM, SAM, Qualifizierungen und Umschulungen) oder schlägt sich mit Arbeitslosengeld bzw. Sozialhilfe durch.
Regionalvergleiche der wirtschaftlichen Leistungskraft und der Arbeitslosigkeit zeigen, daß die Reichweite von Aufsteigern nicht sehr groß ist. Es gibt kaum Regionen, die insgesamt dem Aufstiegsfragment zuzurechnen wären - nicht einmal der Arbeitsamtbezirk Jena insgesamt oder die Stadt Leipzig als ganze. Die Fragmentierung hat eine kleinteilige Struktur. So liegt die Arbeitslosigkeit in Jena-Stadt deutlich unter dem ostdeutschen Durchschnitt, aber schon die umliegenden Landkreise profitieren kaum noch. Das Bruttoinlandsprodukt pro Beschäftigtem ist in den Nachbarkreisen des industriellen Aufsteigers Jena nicht größer als in den Landkreisen des Arbeitsamtbezirks Neubrandenburg, in dem es außer der Landwirtschaft so gut wie keine überregional agierende Wirtschaft gibt. Die Arbeitslosenquote Mitte 2003 schwankt in den ostdeutschen Bundesländern nur wenig: zwischen 17,2% (Thüringen) und 20,8% (Sachsen-Anhalt); auf der Ebene der Landkreise aber zwischen Sonneberg (11,8%), Jena-Stadt oder Ludwigslust (13,1%) auf der einen und Demmin (27,6%), Uecker-Randow, Görlitz, Uckermark, Zittau (alle über 24%) auf der anderen Seite. Diese Differenzen sind eher durch Pendler, also die Nähe (Sonneberg, Ludwigslust) oder Ferne zum Westen (Demmin, Uecker-Randow, Zittau, Görlitz) als durch die Synergiewirkung wirtschaftlicher Aufsteiger zu erklären. Jena gilt durch Industriebetriebe, Forschung und Universität als dynamische Aufstiegsregion. Aber gleich neben Jena-Stadt, im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, beträgt die Arbeitslosenquote schon 17,3%, und nur wenig weiter finden sich Landkreise mit Arbeitslosenquoten von mehr als 20% (Kyffhäuser).11
Die Fragmentierungen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Arbeitskräfte und der regionalen Kreisläufe hat zur Folge, daß die Integration der Gesellschaft, der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Entwicklung einzelner Betriebe und Ressourcen sowie der sozialen Lage der Bevölkerung schwach ist und im Zuge der Transformation weiter abnimmt. Leistung und soziale Lage haben wenig miteinander zu tun. Menschen und Orte sind je für sich in bestimmte Zusammenhänge und Netzwerke integriert - die einen in überregionale Netzwerke, die anderen in die vielen lokalen Ghettos. Aber sie sind nicht untereinander integriert, sie bilden keine Gesellschaft. Diese These spräche gegen die Existenz einer ostdeutschen Teilgesellschaft, die nur zu konstatieren wäre, wenn es eine entsprechende Intensität der wechselseitigen Interaktionen gäbe. Die politische Folge aber ist, daß es keinen eigenen ostdeutschen Diskurs und keine Willensbildung der ostdeutschen Bevölkerung gibt, sondern auch hier nur Fragmentarisches.
Es wäre falsch, Fragmentierung als ein ausschließlich ostdeutsches Problem darzustellen, vielmehr handelt es sich um einen Vorgang, der vermutlich auf die globalen und überregionalen Prozesse verweist, auf die gegenwärtig überall zu beobachtende Neuordnung und Repositionierung von Ressourcen, Märkten und Menschen. Besonders daran sind allerdings Tempo und Radikalität, womit dies in Ostdeutschland zu geschehen scheint. Auch hier könnte man die Ostdeutschen als Vorreiter einer noch unbestimmten Zukunft beschreiben. "Deindustrialisierung" scheint jedenfalls keine ausreichende Beschreibung - sie ist nur eine Seite der Reorganisation, das Null-Fragment, und sie wird erst verständlich, wenn wir die anderen Fragmente sehen, die Aufsteiger und die vielen Überlebenden im Ghetto.

Sekundärer Integrationsmodus
Dieser Terminus bezeichnet eine neue institutionelle Praxis in der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft, die einen Funktionswandel der auf Ostdeutschland transferierten Instrumente des Sozialstaats darstellt. Sie betrifft vor allem die Instrumente der Erwerbsarbeit, aber auch die Rentenversicherung. Der sekundäre Integrationsmodus präzisiert die Fragmentierungsthese in bezug auf den Teil der ostdeutschen Erwerbsbevölkerung, der nicht in Aufstiegskonstellationen agiert. Die Dialektik des sekundären Integrationsmodus besteht darin, daß das dauerhafte Ausscheiden eines Teils der Bevölkerung aus der Erwerbsarbeit mit den Integrationsinstrumenten der Arbeitsgesellschaft bewältigt wird.
Die sozialstaatlichen Instrumente des Fordismus hatten ursprünglich die Funktion, die differente Reproduktionsweise von Ökonomie und Lebensweisen zu vermitteln. Kindheit, Jugend, Ausbildung und Alter ohne Erwerbseinkommen müssen mit Erwerbszeiten der Lebensmitte verbunden werden, u.a. durch Kindergeld, Ausbildungsförderung, Altersruhegeld. Individuelle Risiken, konjunkturelle Schwankungen und Strukturwandel waren durch sozialstaatliche Transfers auszugleichen, u.a. durch Lohnersatzleistungen, Umschulungen, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Krankengeld, Erwerbsunfähigkeitsrente und vorzeitigen Ruhestand. Diese Instrumente waren zunächst entstanden, um ein normales Funktionieren einer fordistischen Ökonomie im Kontext fordistischer Lebensweisen sicherzustellen. Sie mußten in den 1970er und 1980er Jahren immer weiter ausgebaut werden, um die zunehmenden Krisen der fordistischen Ökonomie zu kompensieren. Auch sie wurden 1990 komplett und nur wenig modifiziert auf das Beitrittsgebiet übertragen.
In Ostdeutschland waren aber zunächst eine schockartige Freisetzung von knapp einem Drittel der Erwerbsbevölkerung und danach ein neues Muster wirtschaftlicher Entwicklung ohne Beschäftigungszuwachs zu bewältigen. Beide Konstellationen passen nicht zu den Voraussetzungen einer fordistischen Ökonomie.
Die Perspektive war anfangs so gedacht, daß die meisten Arbeitslosen, sofern sie nicht durch Ruhestand oder Vorruhestand endgültig aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, im Zuge eines selbsttragenden Aufschwungs wieder in normale Beschäftigungsverhältnisse gelangen sollten. Deindustrialisierung und Fragmentierung aber haben dazu geführt, daß je nach Alter, Geschlecht und Region 25 bis 60 Prozent des Arbeitskräftepotentials nicht benötigt werden; trotz (oder wegen) der erreichten wirtschaftlichen Fortschritte wird dies auch auf absehbare Zeit so bleiben. Die jährlichen Wachstumsraten reichen nicht einmal aus, um die laufenden Freisetzungseffekte der Produktivitätsentwicklung zu kompensieren. Zugleich drängen bis 2010 noch geburtenstarke Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt, während die Abgänge aus Berufstätigkeit in den Altersruhestand noch gering bleiben.12 Eine Reintegration der im Transformationsschock freigesetzten Arbeitskräfte ist unter diesen Voraussetzungen unmöglich. Für die Dauer von wenigstens einer Generation wird ein Drittel der Bevölkerung ohne stabile Erwerbsbiographien leben müssen. Viele junge Erwachsene vollziehen den Einstieg ins Erwerbsleben gleich im sekundären Integrationsmodus, ohne den "Umweg" über eine normale Beschäftigung.
Die zunächst zur Bewältigung der Transformationskrise eingesetzten sozialstaatlichen Instrumente wurden zu Instrumenten einer dauerhaften Integration der überflüssigen Arbeitsbevölkerung außerhalb des ersten Arbeitsmarktes. Das Sozialsystem muß nicht nur Erwerbsphasen biographischer Art (Kindheit, Jugend, Ausbildung, Alter, Krankheit) und Schwankungen wirtschaftlicher Art (Konjunktur und Strukturwandel) ausgleichen, sondern hat anders als in den "normalen" Zeiten des Fordismus den überflüssig gewordenen Teil der Erwerbsbevölkerung dauerhaft zu integrieren. Aus Brücken zwischen Beschäftigungen wurden Brücken zwischen Brücken, "Maßnahmen" schließen an Arbeitslosigkeit an und diese wieder an Maßnahmen.
Diese Instrumente bauen ursprünglich und formell immer noch auf der Erwerbsarbeit auf und haben eigentlich die Wiederherstellung normaler Erwerbsbiographien zum Ziel. Damit das System funktioniert, muß die Exklusion aus der Erwerbsarbeit also "irgendwie" durch Inklusion in Erwerbsarbeit gelöst werden. Neben der "normalen" Arbeitsgesellschaft in den Aufstiegssegmenten und im öffentlichen Dienst entsteht so eine Scheinarbeitsgesellschaft, ein System simulierter Erwerbsarbeit. Der Auszug aus der Erwerbsarbeitsgesellschaft vollzieht sich unter der Flagge der Erwerbsarbeit.
Die neue institutionelle Praxis, die faktisch andere Anwendung formell zunächst fast unveränderter Institutionen, ist zu beobachten an den Verhaltensweisen der Betroffenen, die aktiv versuchen, in bestimmten Abständen eine "Maßnahme" zu bekommen, um den Anspruch auf Arbeit und Leistungen der Arbeitslosenversicherung zu erhalten. Sie reproduzieren so ihre soziale Integration. Sie ist auch präsent im Verhalten der Politik, die immer dann, wenn soziale Probleme oder ungünstiges Wählerverhalten zu befürchten waren, das Volumen der Maßnahmen ausweitete. Sie ist in den Verhaltensweisen der Verwaltungen eingeübt, die die Integration der Personen in ihrem Zuständigkeitsbereich über die mehr oder weniger regelmäßige und gleichmäßige Verteilung von Maßnahmen sicherzustellen suchen. Oder in den Kommunalverwaltungen, die sich zur Lösung ihrer Aufgaben um "Maßnahmen" für Altersheime, Grünanlagen oder Stadtarchive bemühen. Sie ist im Verhalten der Gewerkschaften und der Betriebsräte ebenso präsent wie in Unternehmerverbänden und Betriebsleitungen, die sich inzwischen angewöhnt haben, die Entsorgung der älteren Belegschaftsmitglieder von der Arbeitslosenversicherung finanzieren zu lassen. Dieser sekundären Arbeitsgesellschaft ist inzwischen eine eigene Infra- und Organisationsstruktur (sogenannte Träger) zugewachsen, die verquickt mit kommunalen und kommerziellen Interessen agiert.
Diese Entwicklung hat die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhaushalte der Kommunen in eine unlösbare Finanzkrise manövriert. Der de facto und hinter dem Rücken der Akteure eingetretene Funktionswandel wird nun unter dem Druck der leeren Kassen mit der Umsetzung des Hartz-Konzepts auch formell vollzogen. Das System der Arbeitsmarktinstrumente wird zweigeteilt; der eine Teil erfüllt weiter die Funktionen der Stabilisierung und des Ausgleichs im Segment normaler Erwerbsarbeit, der andere Teil hat die dauerhafte Stillstellung des nicht benötigten Erwerbspotentials zu möglichst abgesenkten Kosten und unter Erhaltung der arbeitsgesellschaftlichen Werte und Gerechtigkeitsvorstellungen zu lösen.
Der beschriebene Funktionswandel ist auch in Westdeutschland zu beobachten, nur in geringeren Dimensionen. Es handelt sich also nicht um ein spezielles Ostproblem, die Probleme des fordistischen Umbruchs werden durch den Systemwechsel nur verstärkt.
Sekundäre Integration bedeutet also Integration über ein System fiktiver Beschäftigung, neben der primären Integration über Erwerbsarbeit. Das Besondere daran ist, daß zwei Arbeitsgesellschaften nebeneinander entstanden sind: eine, die der fordistischen noch zu entsprechen scheint, die aber tendenziell schrumpft; und eine, die eine fordistische Arbeitsgesellschaft nur nachahmt, insofern aber die Ansatzpunkte eines fordistisch verfaßten Sozialsystems erhält - neben der Reproduktion der Ansprüche auf Lohnersatzleistungen und Arbeitsförderung auch die der Gesundheitsversicherung und die Rentenansprüche. Die fordistische Arbeitsgesellschaft ist ökonomisch betrachtet, als Produzent von Mehrwert, in diesem Segment bereits verschwunden, aber sie wird durch mehrwertverzehrende Simulation zugleich reproduziert. Im Thünen-Institut wurde eine erste Untersuchung der Größenordnung dieses Fragments der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft durchgeführt, deren Ergebnisse im nächsten Heft von Berliner Debatte Initial zusammengefaßt werden sollen.

Verfestigte Transferregion
Der in Ostdeutschland entstandene Transformationspfad ist nicht selbsttragend, er ist privilegiert (Wiesenthal 1996). Neben dem Institutionentransfer sind es vor allem die hohen Finanztransfers, die über die Sozialsysteme, die Wirtschaftsförderung oder für Länder- und Kommunalhaushalte aufgebracht werden. Bei der Debatte um diese Transfers kommt der dahinter liegende volkswirtschaftliche Zusammenhang aber selten in den Blick: Die ostdeutsche Produktionslücke, die Differenz zwischen den erzeugten und den verbrauchten Gütern und Dienstleistungen sowie das Volumen des Finanztransfers bedingen sich wechselseitig. Weniger als zwei Drittel des Verbrauchs in den neuen Bundesländern werden durch eigene Produktion gedeckt.13 Anders gesagt: In Ostdeutschland werden deutlich mehr Einkommen ausgegeben als erwirtschaftet. Die Differenz muß durch Wechselbeziehungen Ostdeutschlands mit der Umgebung - vorrangig mit Westdeutschland - ausgeglichen werden: bezogen auf Güter und Dienstleistungen durch Importe, finanziell im wesentlichen durch Transferzahlungen. Die Produktionslücke betrug 1991 75% des Bruttoinlandsproduktes, 1995 immer noch 70%; dementsprechend hoch waren die Transferzahlungen: 76% des BIP 1991, 52% im Jahr 1995 (die Differenz zwischen der Produktionslücke von 75% des BIP und den Transferzahlungen in Höhe von nur 52% des BIP muß durch andere Finanzströme gedeckt werden, in Frage kommen private Direktinvestitionen und Verschuldung; Busch 1998: 90).
Der ostdeutschen Produktionslücke entspricht ein Produktionsüberschuß dort, wo die importierten Güter und Dienstleistungen erzeugt werden. Das muß nicht, ist aber im innerdeutschen Fall zugleich die Region, die die Transfers aufbringt: Westdeutschland. Die Transfers haben zusätzliche Produktion und Beschäftigung beim Transferzahler, Produktionsdefizit und Unterbeschäftigung bei den Transferempfängern zur notwendigen Konsequenz. Sie wirken wie ein Konjunkturprogramm für den Westen und eine Konjunkturbremse für den Osten - und sie sind zugleich Ausdruck dieser unterschiedlichen Wachstumsdynamik. Dies würde sich nur dann aufheben, wenn sich die Produktionslücke jährlich verkleinerte und die Transferzahlungen - bezogen auf das BIP - entsprechend zurückgingen, was zugleich bedeutet, daß der Nettowarentransfer zwischen Ost und West zurückgeht. Dafür sind zwei Wege denkbar: Der Verbrauch in Ostdeutschland würde zunehmend durch in Ostdeutschland produzierte Waren gedeckt; oder der Export ostdeutscher Güter und Leistungen in Märkte außerhalb Ostdeutschlands stiege schneller als der Import. Nur auf diesem Weg könnte die Integration Ostdeutschlands in ein gesamtdeutsches, eigentlich eher ein europäisches Marktwirtschaftssystem erreicht werden. Die oben beschriebenen selektiven Fraktionen lassen aber eher vermuten, daß auch hier eine geteilte Entwicklung abläuft.
In Anbetracht der Zeiträume, über welche die genannten Transfers wirken, und der Zeiträume, in denen Ostdeutschland weiter auf Finanztransfers angewiesen ist, sowie im Kontext der oben beschriebenen Segregationen von Ressourcen sieht es so aus, als entstünde hier eine strukturell verfestigte Konstellation. Im Osten entstehen Strukturen und Verhaltensweisen, die Merkmale einer Transferabhängigkeit aufweisen: Unternehmensstrukturen, die auf Fördermittel angelegt sind, Arbeitsförderbetriebe, Verhaltensweisen der Ämter und der Bevölkerung, die sich institutionell verfestigen.
Selektive Segregation, sekundärer Integrationsmodus und Transferabhängigkeit sind einander wechselseitig bedingende Elemente. Die als Ergebnis des gewählten Transformationspfades, des Produktionseinbruchs und der Deindustrialisierung in Ostdeutschland entstandene Industriestruktur (Landwirtschaft als neue ostdeutsche Industriebranche eingeschlossen) und die entstandene neue Funktionsweise der Sozialsysteme (sekundärer Integrationsmodus) sind kein Zukunftsmodell, denn es handelt sich nicht um einen selbsttragenden Entwicklungspfad. Beide funktionieren nur auf Grund der Differenz zwischen Ost- und Westdeutschland - der Bezogenheit der ostdeutschen Industrie- und Verbrauchsstrukturen auf Westdeutschland und der Finanzierung der Transfers durch westdeutsche Steuerzahler. Auch hier also Krisenbewältigung, aber keine Lösung. Solange Industriestruktur und sekundärer Integrationsmodus so bleiben, ist kein Abbau der Transfers möglich, ohne daß die gesellschaftliche und politische Stabilität in Ost- und Westdeutschland in Frage gestellt würde.

Anmerkungen
1 Dieser Artikel basiert auf einem Text "Ostdeutschland - doppelter Umbruch", der für den "Forschungsverbund Berichterstattung zur sozio-ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland: Arbeit und Lebensweisen" im Auftrag des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) erarbeitet wurde. Die vorliegende Fassung wurde überarbeitet und gekürzt.
2 Es wird unterstellt, daß der Terminus "Fordismus" inzwischen nicht mehr nur ein Fachausdruck von Industriesoziologen ist, sondern gesellschaftswissenschaftliches Allgemeingut. Er dient zur Bezeichnung der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Wirtschafts- und Sozialsysteme, die industrielle Massenproduktion und gesellschaftlich organisierte Konsumtion industriell gefertigter Produkte (bei Substitution vorher dominant hauswirtschaftlicher und auf Eigenarbeit basierender Konsumweisen) über ein Wachstumsregime verbunden haben, in denen Erwerbsarbeit zur dominanten Form der gesellschaftlichen Arbeit wurde und die spezifische, auf Erwerbsarbeit basierende (staatliche oder nichtstaatliche) Sozialsysteme ausgebildet haben, um den Zusammenhang von Wirtschaftssystem und Lebensweisen der Bevölkerung zu regulieren und zu reproduzieren. Siehe auch: Lutz 1989
3 Dies muß hier weder bewiesen noch im Detail dargestellt werden; es ist allgemein bekannt, umfassend untersucht und diskutiert. Es gab zwar Übergangsregelungen und Zwischenlösungen, die aber mit wenigen Ausnahmen nicht das Ziel hatten, bestimmte Besonderheiten längerfristig zu stabilisieren oder gar die Übernahme von Elementen aus der DDR in die neue Bundesrepublik zu gewährleisten. Die Zwischenlösungen und Sonderregelungen waren nötig, um eine schnelle und uneingeschränkte Überführung der vorgefundenen Rechtslage und der Organisationsstrukturen auf die bundesrepublikanischen Standards überhaupt möglich zu machen.
4 Niemand käme auf die Idee, der Beitritt des Iran zur Bundesrepublik könnte ein Erfolgsmodell sein. Schon bei Polen oder gar bei Rußland würde man dies kaum erwarten können.
5 Der Sozialreport, der auf eigenen regelmäßigen Befragungen basiert, geht davon aus, daß die im Zuge der Transformation entstandenen Lebensverhältnisse in Ostdeutschland eine neue stabile "Ost-Identität" prägen. Dafür werden fünf Kriterien präsentiert und empirisch dargestellt (vgl. Winkler 2002: 12ff.).
6 Subjektiv galt die Vorstellung, daß damit die "Spontanität" der gesellschaftlichen Entwicklung aufgehoben, die im Kapitalismus endogen und spontan verlaufenden Modernisierungsprozesse unter Kontrolle gebracht und gestaltet werden könnten. Damit sollte auch die Trennung gesellschaftlicher Funktionssysteme von den Lebensweisen der Individuen (Einheit von Partei, Staat und Volk), die "Entfremdung", aufgehoben (in eine neue, höhere, in sich unterschiedene Einheit hinaufgehoben) und eine den Bedürfnissen der Individuen entsprechende Gestaltbarkeit (Planung) der "gesamtgesellschaftlichen" Entwicklung erreicht werden. Tatsächlich aber war eine zunehmende Abschottung der Lebenswelten von der Gesellschaft (Nischengesellschaft) zu beobachten.
7 Die anderen sozialistischen Länder kopierten den sowjetischen Fordismus. Je nach Vorgeschichte und Kontext wichen die Kopien zwar mehr oder weniger vom Vorbild ab, aber nicht so weit, daß von einem anderen Entwicklungspfad gesprochen werden könnte. Ausnahmen sind Jugoslawien, China, Kuba und Vietnam, die m.E. nicht dem Typ des sowjetischen Fordismus zugeordnet werden sollten.
8 Wo sich Herrschaft auf einem Pol zusammenballt, existiert das Volk als Gegenpol. Wo es viele nicht als Einheit agierende Herrschaften gibt, verteilt sich auch die Gegenmacht auf viele Pole und Gruppen. In der Bevölkerung gehört jeder irgendwo zur Herrschaft und irgendwo zu den Beherrschten, es kommt allerdings auf die Verteilung der Ressourcen von Macht und Gegenmacht an: diese ist üblicherweise nicht gleich.
9 Eine der bornierten Perspektiven besteht darin, die speziellen Strukturen der Bundesrepublik als die einzig moderne Lösungsmöglichkeit zu betrachten und die globale oder auch europäische Vielfalt von Modernisierungen auszublenden. Dann erscheint jede Andersartigkeit als Rückstand. Davon zu unterscheiden ist allerdings die politische Perspektive: der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erzwang es, die Strukturen der Bundesrepublik in fast jedem Fall formell zu übernehmen, selbst dann, wenn die in der DDR entstandenen funktionsäquivalenten Strukturen effizienter und in diesem Sinne moderner waren. Hier gab es nur wenige Ausnahmen. Die politische Grundentscheidung zum Beitritt hatte zwangsläufig zur Folge, daß die mit den Funktionssystemen verbundenen westdeutschen Organisationen die zentralen Akteure des Institutionentransfers werden mußten, Ostdeutsche bestenfalls als Juniorpartner agieren konnten. Der in ostdeutschen Klageliedern beliebte und zweifellos richtige Verweis darauf, es habe in der DDR viel Gutes gegeben, hilft da nicht weiter. Transformation durch Beitritt bedeutet zunächst und formell: Übernahme der Rechts- und Organisationsstrukturen auch dort, wo sie nicht besser, sondern schlechter sind. Die Alternative, einen anderen Transformationspfad zu wählen, bestand 1990 nicht mehr.
10 Andersherum gedacht: Wäre der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland in den Hochzeiten des Fordismus erfolgt - also in einer Konstellation schnell wachsender nationaler und internationaler Märkte, vergleichsweise geringerer, aber schnell wachsender Einkommen, steigender Staatsfinanzen und hoher Nachfrage nach Arbeitskräften -, dann wäre der Transformationsverlauf, wären die Erfolge und Schwierigkeiten ganz andere gewesen als in einer Phase geringer Wachstumsraten, hoher Produktivitätssteigerung, hoher aber stagnierender Einkommen, maroder Staatsfinanzen und geringer Nachfrage nach Arbeit.
11 Kreiszahlen für den Jahresdurchschnitt 2002; Bundesanstalt für Arbeit.
12 Diese Situation wird sich von 2007 an leicht entspannen und nach 2010 dramatisch umkehren: geburtenschwache Jahrgänge und zunehmende Abgänge in Rente kennzeichnen dann die Situation. Der sich jetzt schon andeutende qualifikations- und branchenbezogenen Mangel an Fachkräften wird deutlich zunehmen. Ob damit auch ein allgemeiner Mangel an Arbeitskräften verbunden sein wird, kann heute nicht entschieden werden, weil die künftige Produktivitätsentwicklung - Ostdeutschland hat hier noch etwa ein Drittel Rückstand gegenüber Westdeutschland - ebenso ungewiß ist wie die Arbeitsmarkteffekte der EU-Osterweiterung. Vielleicht wird eine Situation entstehen, bei der gleichzeitig Fachkräftemangel und Arbeitslosigkeit - vor allem in den Altersgruppen der über 35-Jährigen, bei Frauen und in bestimmten Regionen - das Bild bestimmen.
13 Zahlen für 1997; dann endet die statistische Unterscheidungsmöglichkeit. Allerdings lassen die Trends bis 1997 nicht vermuten, daß sich die Relationen seitdem erheblich verschoben haben.

Literatur
Bericht (2002): Berichterstattung zur sozio-ökonomischen Leistungsfähigkeit in Deutschland, Zwischenbericht Juni 2002; siehe auch die Web-Seite des SOFI: http://gwdu05.gwdg.de/~dgsf//frames/projekte/verbund-sozio-oekonom%20Panel.html
Bluhm, Katharina (1999): Zwischen Markt und Politik. Opladen
Brussig, Martin (2001): Kleinbetriebliche Arbeitssysteme in den neuen Bundesländern. Berlin
Bundesanstalt für Arbeit; Statistische Veröffentlichungen im Internet: Arbeitslose nach Gemeinden, Jahresdurchschnitt 2002
Busch, Ulrich (1998): Sieben fette Jahre? Charakter und Umfang der Transfers. In: Berliner Debatte INITIAL 9 (2/3), 89-103
Czada, Roland; Lehmbruch, Gerhard (Hg., 1998): Transformationspfade in Ostdeutschland. Beiträge zur sektoralen Vereinigungspolitik. Frankfurt a.M./New York
Engler, Wolfgang (1999): Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin
Engler, Wolfgang (2002): Die Ostdeutschen als Avantgarde. Berlin
Land, Rainer (1999): Reformpolitik in Zeiten der Depression. In: Berliner Debatte INITIAL 10 (4/5), 5ff.
Land, Rainer (2000): Von der LPG zur Agrarfabrik. In: Berliner Debatte INITIAL 11 (5/6), 204-218
Lehmbruch, Gerhard; Mayer, Jörg (1998): Kollektivwirtschaften im Anpassungsprozeß: Der Agrarsektor. In: Czada, Roland; Lehmbruch, Gerhard (Hg.), Transformationspfade in Ostdeutschland. Beiträge zur sektoralen Vereinigungspolitik. Frankfurt a.M./New York
Lutz, Burkart (1989): Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt a.M./New York
Lutz, Burkart (2001): Im Osten ist die zweite Schwelle hoch. Fehlende Arbeitsplätze und Nachwuchsstau vor den Toren des Arbeitsmarktes. Forschungsberichte aus dem zsh 01-2, Halle
Olson, Mancur (1991): Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit. Tübingen
Reißig, Rolf (2000): Die gespaltene Vereinigungsgesellschaft. Berlin
Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Statistik regional. Daten für die Kreise und kreisfreien Städte Deutschlands, Ausgabe 2002
Thomas, Michael (1998): Paradoxien der deutschen Transformationsdebatte. In: Berliner Debatte INITIAL 9 (2/3), 104-116
Wagner, Peter (1995): Soziologie der Moderne. Frankfurt a.M./New York
Wiesenthal, Helmut (1996): Einheit als Privileg. Frankfurt a.M./New York
Winkler, Gunnar (2002): Sozialreport 2002. Daten und Fakten zur sozialen Lage in den neuen Bundesländern. Berlin
Wittke, Volker (1996): Wie entstand die Massenproduktion? Berlin
Zapf, Wolfgang (2002): Modernisierung und Wohlfahrtsentwicklung. WZB-Vorlesung. Berlin

Dr. Rainer Land, Sozialwissenschaftler, Berliner Debatte INITIAL
aus: Berliner Debatte INITIAL 14 (2003) 6 S. 77-95