Kapitalistische Entwicklung und politisch-emanzipatorisches Handeln heute

Die Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung sind heute ständig Thema wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Diskurse, häufig mit kritischem Akzent subsumiert unter dem Begriff der Globalisierung. Der Begriff Emanzipation ist mir dagegen bei der Kenntnisnahme eines Teils dieser Analysen, Interpretationen und Kritiken noch nicht begegnet. Für mich ist jedoch der Zusammenhang zwischen den Realitäten des neoliberal entfesselten globalen Kapitalismus und einer Aktualisierung der Perspektive sozialer und menschlicher Emanzipation alles andere als abwegig oder konstruiert, viemehr geradezu zwingend. Ich möchte versuchen, diese These im Folgenden zu begründen. Ich beginne mit einigen Reflexionen zum Begriff der Emanzipation. Danach bezeichne ich Tendenzen der jüngeren kapitalistischen Entwicklung, vor allem unter Aspekten, die in den Standarddebatten kaum thematisiert werden, zumindest nicht explizit. Für mich geht es dabei um Sachverhalte, die das Erfordernis emanzipatorischen Handelns zu begründen vermögen. Ich schließe dann mit einigen Überlegungen zu den Formen und Chancen solches gesellschaftlich-politischen Handelns.

Politische und menschliche Emanzipation

In der III. Internationale und in der Marx-Rezeption ihrer Nachfolge-Parteien in den Gesellschaften des ,,realen Sozialismus" wurde der ,,Grundwiderspruch" der kapitalistischen Ökonomie und Gesellschaft im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital verortet. Von einem solchem ,,Grundwiderspruch" ist bei Marx nicht die Rede; ob diese Formulierung bereits bei Protagonisten der II. Internationale auftaucht, vermochte ich nicht zu ermitteln. Fraglich ist, ob Marx die Bestimmung eines ,,Grundwiderspruchs" als sinnvoll erachtet hätte, sicher scheint mir, daß er diesen Rang nicht dem Lohnarbeitsverhältnis zuerkannt hätte.

In seinen Frühschriften - und ich behaupte, daß das auch für sein späteres Denken gilt - liegt die Hauptbetonung von Marx auf einem allgemeineren, substantielleren human-gesellschaftlichen Widerspruch, nämlich dem zwischen der Vernunftfähigkeit der Gattung Mensch und der Unterworfenheit der sozialen Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft unter apersonale Zwänge, die als gleichsam unsichtbare Begleitprodukte der Prozesse arbeitsteiliger Erzeugung ihrer Subsistenzmittel unter den selbstgeschaffenen Bedingungen von Privateigentum und konkurrenzgetriebener Kapitalverwertung wirksam werden. Fremdbestimmung ist aber den zur Selbstbestimmung fähigen BürgerInnen unwürdig, sie bedarf der Bewußtwerdung, an der Marx als einem erkennbaren und notwendigen Prozeß nicht zweifelte. Das normative Korrelat zur Abhängigkeit ist die Forderung der Emanzipation.

Das dtv-Lexikon 1997 definiert Emanzipation als ,, ... die Befreiung von Individuen und gesellschaftlichen Gruppen aus einem Verhältnis der rechtlichen, politischen, sozialen, geistigen oder psychischen Abhängigkeit." (Bd. 5, S. 48). Weiter wird festgestellt, daß der Begriff der Emanzipation Ende des 18./Anfang des 19. Jhs. populär wurde und sich konkret auf die Gleichstellung nationaler (z.B. Polen), religiöser (z.B. Juden), sozialer (Arbeiter) u.a. Gruppen, später auch der Frauen, bezogen habe. In diesem Kontext versteht sich, daß in den Schriften von Marx (z.T. gemeinsam mit Engels) in den vierziger Jahren der Emanzipationsbegriff im Zentrum steht. Marx vertrat ihn mit größerer Konsequenz als seine bisherigen junghegelianischen Freunde und Mitstreiter. 1843 kritisiert er zwei Schriften Bruno Bauers zur ,,Judenfrage". Bauer erkennt an, daß sich die Juden nicht mit Religionsfreiheit bescheiden können, sie fordern die staatsbürgerliche Emanzipation. Aber die entbehren auch die nichtjüdischen Untertanen des Königs von Preußen. Mithin, so Bauers Folgerung, sollten die Juden sich mit den liberal-demokratischen Kräften Preußens vereinen, die die politischen Rechte der Nordamerikaner und der französischen Revolutionsverfassung erkämpfen wollen.

Dabei bleibt Marx aber nicht stehen: ,,Die politische Emancipation ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emancipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emancipation innerhalb der bisherigen Weltordnung."1

Für Marx ist die politische Emanzipation also eine partielle, eine beschränkte: ,,Die politische Revolution löst das bürgerliche Leben in seine Bestandteile auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der Kritik zu unterwerfen." (ebenda, S.162, kursiv im Original).

Was sind diese Bestandteile? Es sind vor allem die Bereiche der Familie, der Erziehung und Bildung, der Religion, der Kultur, nicht zuletzt der gesellschaftlichen Produktion. Marx erkennt mithin: Die Unterwerfung unter anonyme Zwänge, die über Lebensbedingungen und -chancen entscheiden und sie begrenzen, bleibt von der politischen Emanzipation unberührt. Er kennzeichnet diese Fremdbestimmung als Entfremdung, deren Voraussetzungen und Folgen er in seinen ,,Pariser Manuskripten" aus dem Jahre 1844 eingehend entwickelt. Er analysiert vor allem die Formen entfremdeter Arbeit; entfremdet sind die Menschen jedoch in allen Sphären der bürgerlichen Gesellschaft. Deshalb ist die politische Emanzipation der noch nicht voll als Staatsbürger anerkannten, nicht gleichberechtigten sozialen Klassen oder Gruppen nur notwendiger erster Schritt zur umfassenden Emanzipation, die Marx als menschliche kennzeichnet:

,,Die politische Emancipation ist die Reduktion des Menschen, einerseits auf das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, auf das egoistische, unabhängige Individuum, andrerseits auf den Staatsbürger, auf die moralische Person. Erst wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen, Gattungswesen geworden ist, erst, wenn der Mensch seine ,forces propres' als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisirt hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emancipation vollbracht."2

Wie versteht Marx die ,,menschliche Emanzipation", welches sind ihre Voraussetzungen, wie kommt sie zustande, was bewirkt sie? Wenn die Antwort auf diese Fragen hier nur sehr verkürzt erfolgen kann, so auch deshalb, weil Gegenstand und Problematik in diesem Kreise sicher zumindest in den Grundzügen bekannt sind. Ich vertrete die schon angedeutete These, daß entgegen einer verbreiteten Interpretation (man denke z.B. an die Althusser-Schule) im Hinblick auf Marxens Kategorie der menschlichen Entfremdung in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, und der daraus gezogenen Folgerung der notwendigen Perspektive menschlicher Emanzipation, kein Bruch zwischen dem ,,jungen" und dem ,,reifen" Marx besteht. Partiell änderte Marx allerdings seine diesbezügliche Terminologie und es gibt zumindest eine wichtige, auch weithin bekannte Passage im Werk des ,,reifen" Marx, in der er die Emphase des Emanzipationsbegriffs der 40er Jahre zurücknimmt. Die Frage, ob und inwieweit dem Emanzipationsverständnis Marxens aktuelle Bedeutung zukommt, dürfte auch unter uns kontrovers sein und nicht entschieden werden können. Mir geht mit den knappen folgenden Hinweisen darum, ein wenig zu verdeutlichen, welche Momente in diesem Begriff von Emanzipation unterscheidbar sind und wie die Frage der Aktualität demgemäß differenzierend beantwortbar ist. Marx' Verständnis von Bedingungen und Konsequenzen menschlicher Emanzipation für Individuen und Gesellschaft soll nachfolgend in 6 Punkten komprimiert in Erinnerung gebracht werden.

Der Mensch als gesellschaftliches Wesen.

In Marx' ,Frühschriften', den maßgeblichen Texten zur Entwicklung seiner Entfremdungs-Konzeption, steht das Individuum im Zentrum der Emanzipationsperspektive. Es ist das aber nicht das Individuum des britischen Liberalismus und Utilitarismus, sondern es ist der Mensch, der sich gesellt, der der Gesellschaft bedarf und sich nur in und mit dieser emanzipieren kann:

,, ...wie die Gesellschaft selbst den Menschen als Menschen producirt, so ist sie durch ihn producirt. Die Thätigkeit und der Genuß, sind ihrem Inhalt, so auch der Existenzweise nach gesellschaftliche Thätigkeit und gesellschaftlicher Genuß. Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen ... Es ist vor allem zu vermeiden die ,Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das Individuum ist das gesellschaftliche Wesen."3 ,,Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, so muß man die Umstände menschlich bilden. Wenn der Mensch von Natur gesellschaftlich ist, so entwickelt er seine wahre Natur erst in der Gesellschaft, und man muß die Macht seiner Natur nicht an der Macht des einzelnen Individuums, sondern an der Macht der Gesellschaft messen."4

Voraussetzungen der Emanzipation

(1) Aufhebung des Privateigentums. Bei Marx zumeist nicht explizit ausgedrückt, geht es um Aufhebung von Privateigentum an Wirtschaftsmitteln aller Art in Kapitalform. ,,Das materielle, unmittelbar sinnliche Privateigentum, ist der materielle, sinnliche Ausdruck des entfremdeten menschlichen Lebens ... Die positive Aufhebung des Privateigentums als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung ..."5 Die Bedeutung der Aufhebung dieses Privateigentums wurde stets (auch innerhalb der Arbeiterbewegungen) ganz überwiegend verkannt, mißverstanden oder bestritten; unbeabsichtigt wurde und wird sie hingegen seitens der Protagonisten des Kapitals voll bestätigt, indem es für sie keine andere wirtschaftlich-gesellschaftliche Forderung gibt, die sie mit auch nur annähernder Vehemenz bekämpfen. Zwar wissen wir heute, daß die Verwirklichung dieser Forderung nicht zureichende Bedingung gesellschaftlicher Emanzipation ist, nach wie vor ist sie aber notwendige. Wie Marx erkannt hatte, ist das private Produktionsmitteleigentum sozioökonomische Grundvoraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise, aus der die Strukturen und Handlungsimperative z.B. der Konkurrenz, der Verwertungsfixierung, des umbegrenzen Wachstums- und Expansionszwanges notwendig erwachsen.

(2) Organisation und Bewußtwerdung des Proletariats. Marx und Engels waren sich darin sicher, daß Emanzipation erkämpft werden muß. Das setzt die Bildung einer sozialen Klasse voraus, die sich ihrer Diskriminierung und Instrumentalisierung für fremde Zwecke in der Form von Lohnarbeit bewußt geworden ist und deshalb zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse drängt: ,,Wo liegt also die positive Möglichkeit der deutschen Emancipation? Antwort: In der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist ... einer Sphäre endlich, welche sich nicht emancipiren kann, ohne sich von
allen übrigen Sphären der Gesellschaft und damit alle übrigen Sphären der Gesellschaft zu emancipiren ..."6

(3) Fähigkeit zu gesellschaftlicher Reichtumserzeugung. Die frühe Marxsche Emanzipationsperspektive ist eine so weitreichende, daß seine nachdrückliche und immer beibehaltene Betonung der Voraussetzung hochentwickelter Fähigkeit der Gesellschaft zur Reichtumserzeugung (gemäß dem Indikator hoher Produktivität der gesellschaftlichen Arbeit) als empirisch evident überzeugt. ,,... andrerseits ist diese Entwicklung der Produktivkräfte ... auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellten müßte."7 - ,,Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums ..."8

Kommunismus

Schon in den ,,Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" (auch ,,Pariser Manuskripte" genannt) und vor allem etwa zwei Jahre später im Feuerbach-Kapitel der ,,Deutschen Idologie" wird die menschliche Emanzipation weitgehend mit ,Kommunismus' identifiziert. In den ,,Manuskripten" gilt das allerdings nur für den entwickelten Kommunismus:

,,Der Communismus als positive Aufhebung des Privateigenthums, als menschliche Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen."9

Und an anderer Stelle: ,,Der Kommunismus unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlage aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft."10

Emanzipation und Revolution

Auf welche Weise wird nach Marx und Engels die menschliche Emanzipation errungen? Voraussetzung ist die Aufhebung der bisher etablierten gesellschaftlichen Strukturen und Verhältnisse und diese wiederum wird politisch, durch eine Revolution, erkämpft werden. Eine präzise und detaillierte Beschreibung dieser Revolution gibt Marx nicht; nicht zuletzt aus methodologischem Grund: Sie ist nicht möglich, weil sich die Träger der Revolution nicht von erdachten Plänen und Verlaufsmustern leiten lassen werden. Aber einige wichtige Hinweise geben Marx und Engels. So zum Beispiel:

,,Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben (wird). Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung."11

Wesentliche Voraussetzungen sind die Fähigkeit des Proletariats zu organissiertem, bewußtem, solidarischem Handeln sowie die Erkenntnis der eigenen sozialen Lage und der Chancen, diese aufzuheben:

,,Die Reform des Bewußtseins besteht nur darin, daß man die Welt ihr Bewußtsein inne werden läßt, daß man sie aus dem Traum über sich selbst aufweckt, daß man ihre eigenen Actionen ihr erklärt. Unser ganzer Zweck kann in nichts anderem bestehen..."12 - ,,Aber diese massenhaften, kommunistischen Arbeiter, welche in den Ateliers von Manchester und Lyon z.B. tätig sind ... wissen, daß Eigentum, Kapital, Geld, Lohnarbeit u. dgl. durchaus keine ideellen Hirngespinste, sondern sehr praktische, gegenständliche Erzeugnisse ihrer Selbstentfremdung sind, die also auch auf eine praktische, gegenständliche Weise aufgehoben werden müssen, damit nicht nur im Denken, im Bewußtsein, sondern im massenhaften Sein, im Leben der Mensch zum Menschen werde."13

Daß Marx und Engels das Problem proletarischer Bewußtseinsbildung nicht zureichend differenziert erfaßten (oder vom damaligen Kenntnisstand nicht erfassen konnten), kann mit seinen schwerwiegenden Konsequenzen an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Allerdings geht es um eine Problematik von hoher Aktualität, um deren gründliche und kompetente Bearbeitung wir nicht herumkommen. Hier noch ein wesentlicher Aspekt:

,,Der Kommunismus (und das heißt hier zugleich: die Revolution, H. C.) ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ,auf einmal' und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den damit zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt." (,,Die Deutsche Ideologie", a.a.O., S. 35) Eine Einsicht von unerhörter Tragweite! Das sowjetische, sieben Jahrzehnte währende Experiment, scheiterte nicht zuletzt an dieser Bedingung, die nicht gegegeben war.

Emanzipation von Individuum und Gesellschaft

Gemäß Marx' Analyse der entfremdeten Arbeit14 ist ,,der" Arbeiter der eigenen Verrichtung in der Form von Lohnarbeit entfremdet, indem ihm ihre technischen, zeitlichen, handlungsbezogenen etc. Bedingungen diktiert sind, unter denen er seine manuellen, kreativen und intellektuellen Fähigkeiten nicht entfalten kann; er ist dem Arbeitsmittel entfremdet, das ihm nicht gehört, seinem Erzeugnis, das nicht er sich aneignet, und entfremdet seinen Arbeitsgenossen, zu denen er nicht in selbstbestimmten Beziehungen steht. Diese Aspekte resümiert Marx darin, daß der Mensch in der kapitalistischen Produktion seinem Gattungsleben entfremdet ist (a.a.O., S. 368/69), seinen gattungsgemäßen Bestimmungen und Potenzen. Privateigentum (an den kapitalförmigen Wirtschaftsmitteln) und kapitalistische Form der Arbeitsteilung sind für Marx die Grundbedingungen der entfremdeten Arbeit, die im Interesse der Emanzipation aufzuheben notwendig, aber beim erreichten potentiellen Stand der Reichtumserzeugung und der entwickelten Fähigkeiten und Bedürfnisse der Arbeiter zugleich möglich ist. Die Unterwerfung der gesellschaftlichen Produzenten unter fremdbestimmte Formen und Bedingungen der Arbeit kann aufgehoben werden, indem die Menschen sich emanzipieren, d.h. die Produktionsbedingungen (Arbeitsmittel, Arbeitsweise, Produkte) sich unterwerfen und gemeinsam über sie verfügen.

In Marx' Emanzipationsperspektive fallen bewußt zwei systematisch und sachlich unterscheidbare Aspekte zusammen: Gemeinsame Bestimmung und Verfügung der ,,assoziierten Produzenten" (ein später von Marx oft gebrauchter Ausdruck) über Umfang und Art der Erzeugnisse, über die Mittel und Bedingungen der Arbeit, über Aneignung und Verteilung ihrer Resultate zum einen, und die ,,freie Entwicklung der Individualität" der Arbeitenden zum anderen. Zum Beispiel:

,,... bei der Aneignung der Proletarier müssen eine Masse von Produktionsinstrumenten unter jedes Individuum und das Eigentum unter Alle subsumiert werden. Der moderne universelle Verkehr kann nicht anders unter die Individuen subsumiert werden, als dadurch, daß er unter Alle subsumiert wird ... Erst auf dieser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben zusammen, was die Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsigkeit entspricht ..."15

Daß später, in den umfangreichen Marxschen Manuskripten ,,zur Kritik der politischen Ökonomie", beide Aspekte der Emanzipation nur noch sporadisch und oft eher beiläufig, z.B. Sachverhalte illustrierend oder vergleichend angesprochen werden, heißt keinesfalls, daß Marx von diesen Positionen abgerückt wäre. Daß dem nicht so ist, ergibt sich oft indirekt bzw. implizit, aber unmißverständlich, im Umkehrschluß aus je kritisierten Kategorien und Verhältnissen. Der Aspekt der gemeinschaftlichen Beherrschung und Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion wird nunmehr meist eher lapidar, teils auch in nicht unproblematischer sachlicher Kürze und Verkürzung angesprochen, wie z.B.:

,,Nur wo die Produktion unter wirklicher vorherbestimmter Kontrolle der Gesellschaft steht, schafft die Gesellschaft den Zusammenhang zwischen dem Umfang der gesellschaftlichen Arbeitszeit, verwandt auf die Produktion bestimmer Artikel, und dem Umfang des durch diese Artikel zu befriedigenden gesellschaftlichen Bedürfnisses."16 - ,,Denken wir uns die Gesellschaft nicht kapitalistisch, sondern kommunistisch, so fällt zunächst das Geldkapital ganz fort, also auch die Verkleidungen der Transaktionen, die durch sie hineinkommen. Die Sache reduziert sich einfach darauf, daß die Gesellschaft im voraus berechnen muß, wieviel Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel sie ohne irgendwelchen Abbruch auf Geschäftszweige verwenden kann, die wie Eisenbahnen z.B., für längre Zeit ... weder Produktionsmittel noch Lebensmittel ... liefern, aber wohl Arbeit, Produktionsmittel und Lebensmittel der jährlichen Gesamtproduktion entziehn."17

Dagegen behält Marx hinsichtlich des Aspekts der individuellen Emanzipation, der Persönlichkeitsentwicklung, emphatische Formulierungen auch später bei, wie z.B.:

,,Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint."18 ,,In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eignen Natur?"19

Im gegebenen Zusammenhang soll und kann nicht der Frage nachgegangen werden, ob und in welchem Maße die Marxsche Gewißheit der freien und umfassenden Persönlichkeitsentfaltung unter den Bedingungen des aufgehobenen Kapitalverhältnisses begründet und haltbar ist z.B. in Anbetracht neuerer anthropologischer, psychologischer, persönlichkeitstheoretischer Forschungen und Erkenntnisse. Wir finden allerdings auch bei Marx selbst zumindest einen bedeutsamen Hinweis auf eine weniger emphatische Konzeption nachkapitalistischer gesellschaftlicher Arbeit.

Eine weniger emphatische Konzeption nachkapitalistischer gesellschaftlicher Arbeit

,,Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion. Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit."20

Zwar ist das nicht eine Absage Marxens an das ,,freie, reich entwickelte Individuum"; es ist eine Art Teilung der sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaft in eine Sphäre der Notwendigkeit und eine Sphäre der Freiheit, wobei die letztere nicht eine der Arbeit ist. Bereits in einem zuvor gebrachten Zitat unterschied Marx zwischen Arbeit und Tätigkeit; offenbar verstand er nun nur die letztere im Sinne von nichtentfremdeter Arbeit. Aber wie gesagt, dem kann hier nicht vertieft nachgegangen werden. Wir sehen aber auch, daß Marx in diesem Zitat die Konzeption der Unterwerfung der Zwecke und Bedingungen der ,,notwendigen Arbeit" unter die Bestimmung und Kontrolle der Gesellschaft keineswegs relativiert, abschwächt. Für mich liegt hier die Hauptrichtung der Begründung der Aktualität der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Es ist heute durchaus nicht selten, Versionen, und seien es abgeschwächte, der Vorstellung von oder der Forderung nach Unterordnung der Wirtschaft zu hören und zu lesen, wobei es allerdings bezeichnenderweise zumeist nicht heißt: unter die Gesellschaft, sondern unter die Politik. Begründet werden diese Postulate nicht selten in wortradikaler Weise und mit durchaus berechtigten kritischen Argumenten. Allerdings drängt sich dabei fast immer der Eindruck auf, daß sich die Protagonisten der Kritik nicht der Konsequenzen dessen bewußt sind, was sie einfordern. Das nun leitet über zum zweiten Teil meiner Überlegungen.

Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung

Der Modebegriff der ,Globalisierung' wird heute häufig als übergreifende Kategorie gebraucht, die alle neueren Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung umfaßt. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit benenne ich zunächst eine Reihe der unterscheidbaren, in funktionalem Zusammenhang wirksamen aktuellen Teilphänomenen und -tendenzen, deren Realität im allgemeinen nicht bestritten wird und die relativ verbreitet Gegenstand von milder bis kategorischer Kritik sind. Ich halte diese Kritik überwiegend für berechtigt, aber nicht für ausreichend, weil das zu Kritisierende für mich deutlich über die Sachverhalte und Tendenzen, die ich nachfolgend eher der Unterscheidung halber aufliste, hinausgeht:

1 K. Marx, Zur Judenfrage, in: 2MEGA, I. Abtlg., Bd. 2, S. 150; kursiv im Originaltext.

2 K. Marx, a.a.O., S. 162/63; kursiv und Rechtschreibung im Originaltext.

3 K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), in: 2MEGA, Erste Abtlg., Bd. 2, Berlin 1982, 264 u. 267 (kursiv im Original).

4 K. Marx, F. Engels, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik, in: MEW Bd. 2, Berlin 1974, 138.

5 Ebenda, S. 263/264; kursiv im Original.

6 K. Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, ebenda, S. 181/82; kursiv im Original.

7 K. Marx, F. Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW Bd. 3, 34/35; kursiv im Original.

8 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Rohentwurf 1857/58, Berlin 1953, S. 599.

9 Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a.a.O., S. 389. Marx unterscheidet zuvor diesen entwickelten Kommunismus von zwei anderen ,niederen' Formen. Den ,,rohen", vertreten Protagonisten, denen ,,die Herrschaft des sachlichen Eigenthums" (S. 387) so den Blick getrübt hat, daß sie alles vernichten wollen, was nicht fähig ist, allgemeines Privateigentum zu werden. Weiter einen politischen Kommunismus, der entweder auf Demokratie oder Despotie gerichtet ist oder aber den Staat aufheben will, noch bevor die Vorbedingungen menschlicher Emanzipation entwickelt sind.

10 Die deutsche Ideologie, a.a.O., S. 70; kursiv im Original.

11 Ebenda, S. 35; kursiv im Original.

12 Brief Marxens an Ruge, September 1843, in 2MEGA, Erste Abtlg., Bd. 2, S. 488; kursiv in der Vorlage.

13 Die heilige Familie, a.a.O., S. 55/56; kursiv in der Vorlage.

14 In den ,,Pariser Manuskripten", 2MEGA, Erste Abtlg., Bd. 2, S. 363-375. Vgl. u.a. H. Conert, Vom Handelskapital zur Globalisierung. Entwicklung und Kritik der kapitalistischen Ökonomie, Münster 1998, Abschn. 5.4, S. 97-129.

15 Die deutsche Ideologie, a.a.O., S. 68.

16 K. Marx, Das Kapital, Band III, MEW Bd. 25, Berlin 1972, S. 197 (2MEGA, Zweite Abtlg., Bd. 4.2, Berlin 1992, S. 262).

17 K. Marx, Das Kapital, Band II, MEW Bd. 24, Berlin 1972, S. 316/17. Hinsichtlich der konkreteren Bestimmungen bzw. Vorstellungen über die Gestaltung kommunistischer Produktionsverhältnisse u.a. ging der spätere Engels stärker ins Detail. Vgl. z.B.: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: MEW Bd. 19, Berlin 1973, S. 181-228; Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 2MEGA, Erste Abtlg., Bd. 27, Berlin 1988, Dritter Abschnitt.

18 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, a.a.O., S. 231.

19 Ebenda, S. 387

20 K. Marx, Das Kapital, Bd. III, a.a.O., 828 (2MEGA, Zweite Abtlg., Bd. 4.2, Berlin 1992, S. 838).

- Fast im Weltmaßstab dominiert in Politik, Publizistik, Wissenschaft, Öffentlichkeit und nicht zuletzt in der sozioökonomischen Praxis die Position neoliberaler Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassung sowie neoklassischer und monetaristischer Wirtschaftslehren.

- Diese allgemeinste Kennzeichnung noch nicht der Realität, sondern der Begründungs- und Rechtfertigungsweise der wirklichen Tendenzen, konkretisiert sich (wenn auch immer noch generalisiert) in der Vorherrschaft der Freihandelsdoktrin sowie im privat- und marktwirtschaftlichem Fundamentalismus.

- Wesentliche allgemeine Vorausetzung der Realität der gegenüber ihrer ,,fordistischen Phase" erneuerten Gestalt, Struktur und Funktionsweise der kapitalverwertenden Ökonomie sind: der bereits in den 70er Jahren erreichte Grad von Liberalisierung und Verdichtung der weltwirtschaftlichen Beziehungen, eine zuvor nicht gekannte Dynamik und Dimension der Konzentration und Zentralisation von Kapital sowie die mikroelektronische Revolution.

- Hauptakteure der globalen kapitalistischen Ökonomie sind weltweit agierende Großkonzerne, ganz überwiegend der wirtschaftlich-technologisch höchstentwickelten Gesellschaften, die eine oligopolistische Weltmarktstruktur generieren, sich nationaler Steuerung und Kontrolle, zum Teil auch der Besteuerung entziehen und deren Aktionen die sozioökonomische Lage ganzer Regionen fördernd oder schädigend prägen.

- Die global wirksame Konkurrenz dieser Wirtschaftsgiganten um Weltmarktanteile, wissenschaftlich-technologische Spitzenposition, sog. Systemführerschaft und Profite verschärft ihre Verwertungsfixierung.

- Diese findet Ausdruck in unternehmerischer Entscheidungs- und Handlungsorientierung in Richtung der shareholder-value-Parole, neuer Unternehmens- und Kapitalverwertungskonzepte wie profit center-Organisation, outsourcing, just-in-time-Belieferung, Gruppenarbeit etc., sämtlich strikt gerichtet auf das, was Marx die Methoden der Produktion des relativen Mehrwerts nannte, betriebswirtschaftlich an den Indikatoren Produktivität und Profit gemessen.

- Die Anwendung dieser Prinzipen bzw. Praktiken auf die Beschäftigten, die Subjekte der ,,lebendigen Arbeit", artikuliert sich vor allem in den Forderungen und der Durchsetzung von Flexibilisierung der Arbeits- und Leistungsbereitschaft der Lohnabhängigen, Deregulierung der Arbeitsnormen und -bedingungen, in Reallohneinbußen und der permanenten Tendenz der ,,Freisetzung" von Arbeitskräften. Diese Aggressionen der Kapitalseite erzeugen soziale Verunsicherung der (noch) Beschäftigten und schwächen ihre Bereitschaft, Forderungen zu stellen und in betrieblichen oder gewerkschaftlichen Konflikten durchzusetzen.

- Auf der sozialen Makroebene wird von Wirtschaft und Politik permanent die Einschränkung sozialer Leistungen verlangt und sukzessiv durchgesetzt; faktisch die Erosion der überkommenen Systeme sozialer Sicherung, wobei ihre ,,Unbezahlbarkeit" vorgeschoben wird zur Realisierung der Absicht, jene öffentlich-rechtlichen, solidarisch ausgerichteten Finanzierungs- und Leistungsregeln durch Individualisierung der sozialen Risiken in Form privat-individueller, profitabler Versicherungsverträge zu ersetzen.

- Diese vorangetriebene Expansion der Sphäre der Kapitalverwertung erfolgt in ähnlicher Weise in die kommunalen und regionalen Bereiche von Bildung, Kultur und anderen bislang unentgeltlichen oder subventionierten öffentlichen Angeboten und Diensten. Immer geht es dabei sowohl um Leistungsabbau, Kommerzialisierung der Dienste sowie Einführung privatwirtschaftlicher Lohn- und Arbeitsbedingungen in potenzierter Form, in der die Beschäftigten ihre Gehälter selbst ,,erwirtschaften" sollen.

- Diese von der Kapitalseite propagierten und von der Politik zum erheblichen Teil akzeptierten und mitgetragenen Flexibilisierungs-, Privatisierungs-, Deregulierungs- und Einsparmaßnahmen lösen, partiell oder umfassend durchgesetzt, einen Selbstlauf zu weiteren ,,Sparrunden" aus, weil sie in der Regel kompensatorische Kosten verursachen. Das Ausmaß der Realisierung dieser neoliberal-monetaristischen Imperative gilt ,,der Wirtschaft" als Indikator der örtlichen oder regionalen ,,Standortqualität", um die Kommunen und Bezirke zu Lasten der BürgerInnen konkurrieren.

- Verwiesen sei weiterhin auf das wachsende Gewicht des Geld- und Finanzkapitals als Folge des Überflusses von Unternehmerprofiten, die nicht in Realkapital verwandelt werden und der immer ungleicheren Einkommensverteilung zur Lasten der Bezieher geringer und mittlerer Löhne und Gehälter überhaupt. In der Folge bläht sich die Sphäre spekulativer Profiterzielung ohne zwischengeschaltete Phase stofflicher Gebrauchswerterzeugung nach der Formel G-G' in Gestalt langanhaltender Hausse der Aktienkurse auf, die von der realen ökonomischen Basis abheben. Diese bildet zusammen mit der wuchernden Spekulation ständig neu kreierter ,,Finanzprodukte" einen hochriskanten finanzökonomischen Gefahrenherd.

- Ein breit diskutiertes Thema ist schließlich die Erosion der Steuerungs-, Gestaltungs- und Kontrollfähigkeit der nationalstaatlichen Parlamente und Regierungen hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse infolge gleichzeitiger Einschränkung und Übertragung der entsprechenden Kompetenzen auf transnationale Institutionen und Organe.

Alle diese - wie betont unvollständig - aufgelisteten Diskurs- und Kritikaspekte der Tendenzen der jüngeren kapitalistischen Entwicklung sind ohne Zweifel real, aktuell, sie bedürfen der Kritik und mehr noch des praktisch-politischen Widerstands. Allerdings ist die heute überwiegende Kritik eine graduelle, die sich meist auf je einzelne der genannten Ausdrucksformen neoliberal-monetaristischer Praxis richtet. Da, wo das neoliberale Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft von Regierungen und Majoritäten der politischen Klassen mitgetragen wird, und das ist in den meisten der heute kapitalstarken Gesellschaften der Fall, hat jene Kritik, obgleich in Wissenschaft und in Bereichen der Öffentlichkeit durchaus präsent, wenig bewirkt. Ich halte sie im ganzen auch nicht für zureichend, weder im Hinblick auf ihre sachliche Breite, noch, was ihre Forderungskonsequenz und angezielte Veränderungsreichweite anbelangt.

Ausdruck dieser Unzulänglichkeit ist für mich, daß ein erheblicher Teil der bedrohlichen, irrationalen und inhumanen Phänomene und Tendenzen des Kapitalismus der Gegenwart von dieser Kritik entweder nicht wahrgenommen, verdrängt und jedenfalls nicht ausgesprochen werden. Es handelt sich um Sachverhalte und Entwicklungen, die sämtlich exakter und zuverlässiger Ermittlung, Untersuchung und Bewußtmachung bedürfen. Im Grunde sind allerdings nur wenige unbekannt, jedoch weithin verdrängt, verkannt und verharmlost. Die Begrenztheit der verfügbaren Zeit erlaubt lediglich, daß ich jene Aspekte, auf die es mir vor allem ankommt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit nennen und sehr knapp erläutern kann; immerhin geht es um etwa 12 solche Fehlentwicklungen und Gefährdungspotentiale. Eine provokante These als letzte Vorbemerkung:

Sie alle kennen das Diktum, dessen Ursprung ich leider ebenso wie eine früher zitierte Sentenz nicht ermitteln konnte (ich denke an Rosa Luxemburg, vielleicht ist es aber älter); C. Castoriades nannte die von ihm gegründete französische Zeitschrift so: ,,Sozialismus oder Barbarei". Diese Alternative ist für mich weniger aktuell, als vielmehr entschieden; uns droht nicht die Barbarei, wir leben bereits in ihr. Daß dieser Zustand verdrängt werden kann, lehren nicht wenige historische Beispiele. Die menschliche Sensibilität der Wahrnehmung war und ist häufig eine getrübte.

Die kapitalistische Produktionsweise heute
Antagonistische Kernstruktur, aktuelle Widersprüche, ökonomische, soziale, ökologische und humane Gefährdungspotentiale

So gut wie alle aktuellen Widersprüche, Fehlentwicklungen und Gefährdungspotentiale des entfesselten, global agierenden Kapitalismus von heute sind rückführbar auf formspezifische gesellschaftliche Determinanten dieser Produktionsweise. Deshalb bezeichne ich zunächst vier dieser strukturellen sozioökonomischen Grundsachverhalte:

(I) Generell gesehen, aber durchaus mit jeweils aktuellen empirischen Wirkungen, ist der kapitalistischen Produktionsweise ein struktureller Antagonismus immanent, nämlich der zwischen unbegrenzter Wachstumsfixierung und der Begrenztheit der Mehrzahl ökonomisch relevanter Ressourcen. Daß dieser Widerspruch kein abstrakter ist, wird häufig anerkannt und an Beispielen, am überzeugendsten akut wohl an ökologischen, belegt. Die Protagonisten der kapitalverwertenden Ökonomie und mit ihnen der ideologisch dominante Neoliberalismus können diese elementare Tatsache nicht anerkennen; da sie unleugbar ist, wird sie verschwiegen.

(II) Die auf Kapitalverwertung gerichteten Entscheidungen und Handlungsstrategien ihrer Protagonisten sind generell kurzfristig orientiert. Das permanente Bestreben, die Verwertungsbedingungen zu verbessern, soll rasche Erfolge zeitigen. Bleiben diese zeitweilig aus, was unvermeidbar ist, sollen sie so rasch wie möglich wieder erlangt werden. Die systemische Bestands- und Funktionsfähigkeit der kapitalistischen Ökonomien als nationaler bedarf aber längerfristiger Dispositionen.

(III) Dieser Widerspruch ist Ausdruck eines allgemeineren: dem zwischen den Bedingungen der Verwertung der gegeneinander konkurrierenden Einzelkapitale und den Erfordernissen der Gewährleistung der Reproduktion der (nationalen1) Gesamtkapitale. Der Begriff ,Gesamtkapital' ist als Realabstraktion zu verstehen, weil sein Begriff keine empirisch faßbare Realität hat2, ebensowenig, wie handelnde Subjekte (Regierungen, die sich gern als ein solche gerieren, sind es nicht wirklich). Real sind Gesamtkapitale aber insofern, als ihre Reproduktion und Verwertung von Bedingungen abhängt (z.B. im Hinblick auf einzelwirtschaftliche Proportionen), deren Vorhandensein oder Fehlen reale Konsequenzen für die Verwertungschancen und damit die Reproduktion der Einzelkapitale hat. Dieser Widerspruch ist latent stets gegenwärtig und manifestiert sich für jeweilige Einzelkapitale oder Branchen immer wieder in Form von z.B. Absatz-, Verwertungs- und Konkurrenzproblemen.

(IV) Ein eminent folgenreicher struktureller Widerspruch der kapitalistischen Ökonomie basiert auf einem Sachverhalt, den Marx als ,,Doppelcharakter der Ware" kennzeichnete, d.h. ihrer gleichzeitigen (abstrakten) Wert- und Gebrauchswerteigenschaft. Verkürzt gesagt, interessiert die Kapitalverwerter in erster Linie, daß aus den von ihnen dirigierten Produktionsprozessen Waren in einem Wertumfang hervorgehen, der den der Produktionskosten übertrifft. Die erzeugte Ware enthält i.d.R. einen Mehrwertanteil, der nach Verkauf dem Unternehmer in Geldform zufließt. Den Käufern geht es dagegen vor allem um den erhofften Gebrauchswert der erstandenen Ware, sei sie nun verbrauchsbestimmt, privat gebrauchsbestimmt oder als Produktionsmittel verwertungsbestimmt. Diesem zunächst abstrakt scheinenden Widerspruch wird häufig empirische Relevanz abgesprochen. Allerdings zu Unrecht, wie im weiteren exemplarisch konkretisiert werden soll. Der als ,theoretisch' relativierte Widerspruch zwischen unbegrenztem Verwertungszwang der agierenden Kapitale und den (wenn auch weitgesteckten und erweiterbaren) Grenzen der menschlichen Bedürfnisse macht sich empirisch durchaus in unterschiedlichen Ausdrucksformen geltend.3

Nunmehr zu den aktuellen Widersprüchen und Fehlentwicklungen:

(1) Die totalitäre Tendenz des Kapitalverhältnisses. Der immanente Wachstumsfixierung der kapitalistischen Produktionsweise war von Beginn an inner- und transgesellschaftlich wirksam, d.h. Expansion der kapitalverwertenden Ökonomie in wirtschaftliche Bereiche, die bisher noch überwiegend subsistenzbezogen strukturiert waren und nun rasch verdrängt wurden. Zugleich wurden die Landesgrenzen überschritten mit Waren- und auch schon Kapitalexporten sowie Annektionen in der Form von Kolonialisierung. Eine der heute aktuellen Ausdrucksformen dieser Tendenz ist die Einbeziehung des sozialstaatlichen Bereichs in die Sphäre der Kapitalverwertung. Z.B. wird damit die Leistungsgarantie prekär und Leistungskürzungen und -verteuerungen werden gleichsam entpolitisiert, somit noch leichter durchsetzbar. Auf die Spitze getrieben wird der Fundamentalismus der profitökonomischen Imperative und Kalküle, wenn sie, wie aktuell der Fall, auf Bereiche wie Hochschule, Justiz, Kultur, kommunale Verwaltung u.ä.m. angewandt werden.

(2) Die funktionslogische Gleichgültigkeit der Kapitalagenten gegenüber der natürlichen Umwelt ist eine Konsequenz des oben unter III genannten Widerspruchs der kapitalistischen Ökonomie. Beispiele, die gegen diese Feststellung häufig geltend gemacht werden, sind oft zutreffend, jedoch Ausnahmen. Dagegen ist die empirische Evidenz der generellen Berechtigung dieser Feststellung überwältigend. Ich verweise hier der Kürze halber nur auf das Scheitern der an Kyoto anknüpfenden Klimakonferenz in Den Haag im November 2000.

(3) Die wachsende Ungleichheit der Verteilung von Wohlstand, produktiven Ressourcen und Zukunftschancen im Weltmaßstab. Dieser immer wieder dokumentierte Tatbestand ist nicht monokausal erklärbar. Hier sei nur auf drei der beteiligten Faktoren verwiesen: Den Weltmarktprozessen ist ein Selektionsmechanismus eigen, der Ungleichheit der Potentiale, Vorteile und Chancen notwendig verstärkt. Der vor allem von den ökonomisch mächtigen Staaten und den von ihnen geschaffenen Agenturen auf andere Länder ausgeübte Druck, sich dem Weltmarkt zu öffnen, verschlechtert deren Lage häufig; eine naheliegende Folge, da ihnen als armen Gesellschaften weit weniger real nutzbare Vorteile entstehen. Oft wird westlicherseits das Fehlen ,zivilisierter' und entwicklungsförderlicher Strukturen und Institutionen, Korruption und parasitäre Verhaltens- und Aneignungsweisen etc. in Staaten der Dritten Welt konstatiert. Diese Erscheinungen existieren, zu fragen ist aber, woraus sie letztlich resultieren? In nicht geringem Maße handelt es sich um Nachwirkungen früherer Kolonialisierung oder auch um Folgen westlicher ,,Entwicklungshilfen" in der Form von Projekten, die ehr auf Eigeninteressen der Geber ausgerichtet sind und jedenfalls die realen Bedingungen und Bedürfnisse dieser Gesellschaften völlig verfehlen.

(4) Die Konzentration und Zentralisation von Kapital im internationalen Maßstab hat nach Umfang und Beschleunigung ein ungeheueres Ausmaß erreicht und setzt sich fort.4 Ursachen sind der Druck der Konkurrenz um Weltmarktanteile, um wissenschaftlich-technologische Spitzenpositionen, die exklusive Produktentwicklungen ermöglichen, sowie um Profitraten. Ermöglicht werden die konsensualen oder ,feindlichen' Fusionen in immer gewaltigeren Kostendimensionen durch hohe Eigenmittel, aufgeblähte Geld- und Finanzmärkte und Abwicklung in Form wechselseitigen Aktientauschs. Im gegebenen Zusammenhang ist dieses Phänomen vor allem relevant im Hinblick auf die Strukturen ökonomischer Macht und gesellschaftlicher Herrschaft, sowohl in nationaler wie in internationaler Dimension, ein Aspekt, der selbst im kritischen Globalisierungsdiskurs ignoriert wird.

(5) Tendenz zu totaler Funktionalisierung des Menschen. Wir erleben zunehmende Verabsolutierung und Totalisierung der profitwirtschaftlichen Sphäre der Gesellschaft, ihrer Imperative, Normen, Indikatoren, Funktionserfordernisse etc. Diese reale Tendenz drückt sich aus und wird durchgesetzt als Deregulierung arbeits- und sozialrechtlicher Kodifikationen, Flexibilisierung und Verdichtung der Leistungsanforderungen, neue Unternehmens- und Verwertungskonzepte, Konsequenzen der elektronischen Arbeitsmittel u.a.m. Fokus dieser Entwicklung ist die hypertrophe Rationalisierungs- und Verwertungsfixierung mit der Konsequenz der Überstrapazierung des physischen, mentalen, teils des kognitiven sowie des soziokulturell geprägten Leistungsvermögen wachsender Gruppen der abhängig Beschäftigten.5 Ein bezeichnender Indikator dafür ist, daß in nicht wenigen Berufs- und Arbeitsbereichen die Mehrheit der Frauen und Männer vor Erreichung des regulären Rentenalters berufs- oder arbeitsunfähig wird. Eine der Ausdrucksformen der Absurdität des entfesselten Kapitalismus ist die Gleichzeitigkeit von Massenarbeitslosigkeit als Konsequenz permanenter Rationalisierungsrekorde und jener Überstrapazierung des Leistungsvermögens der (noch) Beschäftigten.

(6) Steigender Anteil der ausschließlich verwertungsgerichteten Wirtschaftsaktivitäten. Lehrbücher der Ökonomie beginnen noch heute mit Versionen der Sentenz, die Wirtschaft sei dazu da, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ich hatte bereits korrigiert, daß das nur im Sinne eines nicht (oder allenfalls nachrangig) intendierten Nebeneffekts zutrifft. Wenn allerdings z.B. Marx den Produktionsprozeß von Mehrwert in der Kurzformel G-W-W'-G'6 ausdrückt, symbolisiert W' eine Ware mit Wert- und Gebrauchswerteigenschaft, deren Verkauf sowohl dem Verkäufer Mehrwert in Geldform einbringt wie dem Käufer die Nutzung des Gebrauchswerts der Ware, also Bedürfnisbefriedigung.7

Erhellend, mir aber noch nicht bekannt geworden, wäre die Ermittlung des absoluten und relativen Anteils von sachlichem Aufwand, Einkommen und Profit am gesellschaftlichen Bruttoprodukt von jenen Wirtschaftsaktivitäten, deren Resultate nicht in die allgemeine (,,private") Wohlstandsmehrung eingehen, die vielmehr innerhalb der Verwertungssphäre verbleiben.8 Die Tätigkeiten, die hier gemeint sind, resultieren weniger in materiellen Gebrauchswerten als in Dienstleistungen. M.E. kann begründet unterstellt werden, daß der Anteil dieser Aktivitäten, die z.T. schon lange üblich, zum wachsenden Teil neu kreiert werden, zunimmt. Ein Musterbeispiel für die länger bekannten Formen ist die Wirtschaftswerbung, auch die Unternehmensberatung, jüngeren Datums sind Anlageberatung, die Lieferung von Technologie- und Organisations- und anderen -expertisen u.a.m., neue Schlager sind ,,Wissensmanagement" und zahlreiche weitere über das Internet vermittelte Dienste in den Bereichen Industrie, Handel, Geld- und Kredit usw.

(7) Steigende Allgemeinkosten der kapitalistischen Produktionsweise. Die Aufrechterhaltung und Erhöhung der Funktions- und Bestandsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise verlangt Vorkehrungen, deren Kosten überwiegend nicht in der Wirtschaftsrechnung der Einzelkapitale berücksichtigt und folglich auch nicht von diesen getragen werden. Vieles spricht dafür, daß diese ,,Allgemeinkosten" in den hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften überproportional steigen. Sie haben z.T. kompensatorischen Charakter: z.B. finanzielle Hilfen für vom Konkurs bedrohte Großunternehmen oder temporär notleidende Branchen, deren Zusammenbruch vermieden werden soll, oder die Kosten der bereits erwähnten vorzeitigen Arbeitsunfähigkeit u.ä.m. In den Blick der Öffentlichkeit geraten dagegen viel weniger politische Kosten, die insbesondere in Staaten anfallen, die weltweit die Interessen ,,ihrer" Kapitale durchsetzen und sichern wollen. Dem sind in der heute ,unipolaren' Welt, in der es politisch-militärische Bedrohung dieser Staaten faktisch nicht gibt, die enormen Ausgaben der Aufrechterhaltung hypertropher Militärpotentiale sowie überhaupt die einer kostenaufwendigen Außenpolitik zuzurechnen.

(8) Tendenzielle Stagnation des Breitenwohlstands. Obgleich in national divergierendem Maße und Ausdrucksformen, ist auch in den fortgeschrittensten kapitalistischen Gesellschaften die Tendenz der Stagnation realer Wohlstandsentwicklung für breite soziale Schichten und Gruppen feststellbar. Dafür lassen sich zumindest drei Ursachen ausmachen, von denen zwei bereits benannt wurden: (a) ,,Privat" zu tragende Mehrkosten für kommunale, medizinische, erzieherische u.a. Dienste sowie der Altersvorsorge, denen keine Wohlstandsgewinne entsprechen. Partiell sind diese Kostensteigerungen Folge von Privatisierung und Deregulierung. (b) Konsequenz der Steigerung der zuvor genannten ,,Allgemeinkosten". (c) Ferner begegnen uns hier die Folgen der in den vergangenen zwei Jahrzehnten durchgesetzten Verschiebung der Verteilungsverhältnisse zugunsten der Bezieher hoher und höchster Einkommen.

(9) Problematisierung des verwertungsökonomisch-funktional geprägten Wohlstandsbegriffs. Der beim zuletzt bezeichneten Sachverhalt benutzte Wohlstandsbegriff ist kein anderer als der in den Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise soziokulturell verallgemeinerte und sich in seiner Grundtendenz verfestigende. Seine Hauptmomente sind: ausgeprägter Besitzindividualismus, gerichtet vor allem auf Erwerb der laufend erneuerten Kreationen der Unterhaltungs-, Kommunikations- und Freizeitindustrien in Gestalt technisch und/oder mikroelektronisch hoch entwickelter Geräte, umfassende Nutzung der in diesen Bereichen angebotenen Dienstleistungen und Einrichtungen; Orientierung an den ,trendsettern' ständig wechselnder Moden und Fixierung auf alles ,,Neue" und Scheinspektakuläre; hedonistische Disposition zu permanentem ,,Feiern" und Teilnahme an Vergnügungen aller Art, vornehmlich in variierenden Cliquen. Komplementär dazu - und diesem Verhältnis adäquat - ist die instrumentalistische Einstellung zur Lohnarbeit.

Das hier angedeutete Problem ist vielschichtig und kann an dieser Stelle nicht erörtert werden. Soviel sei aber behauptet: Theoretisch, analytisch und empirisch ist die Leugnung direkter und indirekter, intendierter und eigenwirksamer Prägung der Ausbildung individueller Sozialcharaktere, gesellschaftlicher Normen, Einstellungsmuster und Verhaltensdispositionen durch die Imperative, Leitbilder und Funktionserfordernisse der kapitalistischen Konkurrenz- und Verwertungsökonomie unhaltbar. Daß diese Ausprägung sozialer Subjektivitätsform im Kontrast steht zu Erkenntnis- und Verhaltensanforderungen, die die wirklichen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, politischen und humanitären Gefährdungspotentiale unserer Zeit stellen, ist wohl unbestreitbar.

(10) High-tech-Euphorie und Total-Vernetzung. Es geht hier um einen Aspekt der Problematisierung der kapitalistisch erzeugten Gebrauchswerte. Die ,,New economy" verklärt die Artefakte weltweit umfassender Informatisierung und Kommunikation zu einer Art Schlaraffenland. Wir treten demnach in eine allen offenstehende ,,Wissensgesellschaft" ein, lernen lebenslang, werden total aufgeklärt und demokratisch beteiligt, nutzen die aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnisse, eröffnen uns alle Chancen etc. Ohne den Produkten und Möglichkeiten der IuK-Industrie einen (je berufs-, status-, interessen- etc. spezifischen) Gebrauchswert abzusprechen, muß jedoch - hier der Kürze halber nur zwei von vielen notwendigen Relativierungen - beachtet werden: Zum einen sind Informationen an sich von begrenztem Nutzen, weil ihre Verwertung überwiegend gebunden ist an die Verfügung über Ressourcen wie Geld, Kapital, Besitz, Macht u.a.m. Zum anderen sind Informationen nur in besonderen Fällen lebenswichtig und man muß ihren Gebrauchswert abwägen im Verhältnis zu ,,Gütern" existentiellen Bedarfs, die in der Gesellschaft exzessiver Profitfixierung diskriminiert und verknappt werden, wie Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung, gesichertes Alter u.ä.m.

(11) Reale negative Utopie: Der Mensch als Ware nach Maß. Eröffnet die digitale und mikroelektronische Revolution mit ihren anwendungsbezogenen Kreationen die Aussicht auf gefeierte, schier grenzenlose Märkte, so rückt bereits ein neuer Markt in den Blickpunkt, vor dem die einen in heißer Erwartung, die anderen in tiefer Bestürzung erzittern: Der Markt für nach Maß gentechnisch gestylte Kinder. Gegen diese Horrorperspektive gibt es zwei Haupteinwände: (a) Das gezielte Klonen von Erbgut durch DNS-Manipulation sei noch nicht möglich und (b) werde es nie sanktioniert, also erlaubt werden. Hinsichtlich des ersten Arguments vertreten Experten gegensätzliche Positionen; im dtv-Lexikon 1997 (Bd.6, S. 275) heißt es lapidar: ,,Für den Menschen wünschenswerte Genkombinationen können hergestellt werden." Das zweite Argument überzeugt nicht im geringsten. Ich kenne kein Beispiel verwertbarer (im Sinne der Kapitalverwertung) Erkenntnisse und Entwicklungen, die nicht früher oder später kommerzialisiert wurden. In den USA gibt es das Kind nach Maß bereits (Anteil an der Geburtenrate: 2%). Allerdings nicht als geklontes Wesen, sondern aus Samenbänken für Frauen, die nur durch Implantation von Fremdspermen befruchtet werden können. Immerhin haben diese bereits freie Wahl bestimmter Eigenschaften des erwünschten Nachwuchses. Die ethischen Bedenken sind mithin in der Praxis schon vom Tisch. Also wird auch dieser ungeahnt kommerzialisierbare Gebrauchswert die Phase der Massenherstellung erleben. Die Perspektive ist nichts weniger als ein Hyperfaschismus.

(12) Die ,,Neue Weltordnung". Kritik der politischen Ökonomie muß Kritik der Politik einschließen. In der Phase kapitalistischer Globalisierung gilt das vor allem für die internationale Politik. Der Asymmetrie der Verteilung ökonomischer Macht entspricht die der politisch-militärischen in den internationalen Beziehungen. Konstituieren in der Weltwirtschaft die OECD-Staaten gleichsam die Oberklasse, die breitere Spitze von Reichtum und ökonomischer Macht, so in der Weltpolitik die NATO und ihre Mitgliedsstaaten. Die engeren Spitzen beider Hierarchien vereinigen sich zu einer in Gestalt der G-7.9 In der Weltpolitik stehen heute zwei (ungleich starke) Tendenzen im Widerstreit. Die eine artikuliert sich vor allem durch die Generalversammlung der UNO. Sie intendiert eine stärkere Gewichtung der Staaten der Dritten Welt und komplementär striktere Verpflichtung der Großmächte, ihrer Allianzen und Agenturen zur Respektierung der egalitäreren und partizipatorischeren UN-Charta sowie anderer völkerrechtlicher Normen und Verträge. Die zweite Tendenz findet aktuellen Ausdruck in der Neuformulierung der NATO-Strategie 1999: Die Welt ist unsere Interessen- und Aktionssphäre. Dieser imperialistische Anspruch versteckt sich hinter ständiger Deklaration demokratischer, zivilgesellschaftlicher, menschenrechtlicher und moralischer Prinzipien, die in dieser Weise für die eigenen Interessen instrumentalisiert werden. Diese werden jedoch kompromißlos verfolgt unter willkürlicher Feindbestimmung, völkerrechtswidrigen Gewaltandrohungen sowie realer und bewiesener Gewaltbereitschaft.

1 Ungeachtet der deutlichen Globalisierungstendenz und des starken Gewichts international operierender Großkonzerne gelten in den ja durchaus noch existenten Nationalstaaten das in dieser Dimension realisierte durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum, die so gemessene Zunahme der Produktivität und die Verwertungsrate als maßgebliche Erfolgsindikatoren.

2 Das Gesamtkapital ist aus einem Grund nicht identisch mit der Summe der Einzelkapitale, der im nächsten Satz genannt wird.

3 In der keynesianischen Wirtschaftslehre wird er z.B. anerkannt im Lehrsatz des (mit steigendem Einkommen) ,,abnehmenden Hanges zum Verbrauch".

4 Z.B.: J. Bischoff, P. Boccara, K. G. Zinn u.a. (Hg.), Die Fusionswelle, Hamburg 2000; W. Wolf, Fusionsfieber, oder: Das große Fressen, Köln 2000.

5 Z.B.: K. Pickshaus, Der Zugriff auf den ganzen Menschen. Neue Kapitalstrategien und das Arbeiten ohne Ende, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 41, März 2000, 8-19; J. Rifkin, Access, Frankfurt/New York 2000, 132-146 u. Kapitel 8; L. Baier, Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, München 2000, Kapitel 12.

6 Diese Formel wird zumeist als G-W-G' zitiert; erhellender ist jedoch die Einfügung von W' als Symbol der erzeugten Ware, während W die vom Unternehmer zwecks Verwertung gekauften Waren Rohstoffe, Arbeitsmittel und Arbeit meint.

7 Im gegebenen Kontext gilt das allerdings nur für die Waren des ,privaten' Bedarfs, die durch Verkauf die Sphäre der Kapitalverwertung verlassen, ihre Kapitaleigenschaft verlieren und nur noch Gebrauchswerte sind. Sie sind es aber, die das eigentlich konstituieren, was noch Adam Smith unter dem ,,Wohlstand der Nationen" verstand.

8 Im Sinne der Marxschen Werttheorie wäre zu klären, ob diese Aktivitäten Teile der Kapitalkosten bilden oder, was m.E. eher zutrifft, zu den von Marx als faux frais bezeichneten ,toten Kosten' zählen, die den gesellschaftlichen Mehrwert mindern.

9 Die Hinzuziehung Rußlands bei politischen Fragen (,,G-8") ist nicht Ausdruck der Bedeutung und Macht dieses Staates, sondern des westlichen Interesses an seiner politisch-militärischen Bindung an eine kurze Leine.