Zum 75. Todestag von Leo Trotzki (7.11.1879-21.8.1940)
Auch 75 Jahre nach seiner Ermordung reißt die Debatte über Leben und Werk Leo Trotzkis, des neben Lenin wohl bekanntesten Akteurs der Russischen Revolutionen 1905 und 1917, nicht ab. Der Name des Mannes, der „in der Geschichte der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands etwas unerwartet und mit augenblicklichem Glanz auftauchte“,1 ist mit allen Höhen und Tiefen der Umwälzungen in Russland und im ersten Jahrzehnt der Sowjetmacht verbunden. Sowohl 1905 als auch 1917 war er Vorsitzender des Petrograder Sowjets. „Unter dem Eindruck seiner ungeheuren Aktivität und seines blendenden Erfolges“, schrieb Anatoli Lunatscharski, neigten viele dazu, „in ihm den wirklichen Führer der russischen Revolution zu sehen. […] Diese Einschätzung schien mir falsch zu sein, nicht weil sie Trotzkis Begabung und Charakterstärke übertrieb, sondern weil das ganze Ausmaß von Lenins politischem Genie damals noch nicht offenkundig war“.2
Trotzki, der sich selten einer Fraktion in der SDAPR anschloss, wurde sowohl von Freunden als auch von Kritikern als „Ein-Mann-Partei“ bezeichnet. Mit den Bolschewiki stritt er über die Möglichkeit der Errichtung einer Diktatur der Arbeiter und Bauern, anders als die Menschewiki wollte er nicht die demokratische Revolution abwarten. Diese Haltung führte ihn 1917 an Lenins Seite und prägte sein Wirken als Führer des Militärischen Revolutionskomitees, das den Umsturz im Oktober plante und bewerkstelligte. Im Streit über den Frieden von Brest-Litowsk setzte sich Lenin gegen Trotzki durch. Voller Unruhe reagierte er auf den Konflikt, der an den Fronten des Bürgerkrieges zwischen Stalin und Trotzki ausgetragen und ungeachtet seiner im „Brief an den Parteitag“3 ausgesprochenen Warnung nie ausgeräumt werden konnte.
Trotzki, „von stacheliger und herrischer Art“,4 bezeichnete den „launenhaften“ und „groben“5 Stalin als „Totengräber der Revolution“, was ihm der Generalsekretär nie verzieh. Den Befehl zum Mord konnte er zwar erteilen. Was ihm hingegen nicht gelang, war, die Geschichte der bolschewistischen Partei auf Dauer umzuschreiben und die Erinnerung an seinen wirkungsmächtigsten Widersacher für immer auszulöschen.
Stalin vs. Trotzki
Die Verleumdungskampagne gegen die „Ein-Mann-Partei“ setzte bereits vor Lenins Tod ein. Lenins Nachfolger gab auf der Plenartagung des Zentralkomitees der KPR(B) im Oktober 1923 das Zeichen zum Angriff. Dabei konnte er sich auf seine Gefolgsleute im Parteiapparat, insbesondere in der Zentralen Kontrollkommission verlassen. Trotzki, der für die Arbeit in politischen Körperschaften wenig Talent hatte, war sich dieser Schwäche bewusst. Vergeblich appellierte er an seine Genossen: „Das Präsidium der ZKK hat über die Schuld eines Parteimitgliedes beraten, und dieses Parteimitglied wurde schwerer Parteivergehen beschuldigt. Die elementaren Grundsätze der Parteiethik und eines unvoreingenommenen Herangehens an eine Sache erfordern, dass man die Erklärungen dieses Parteimitgliedes anhört. Indes wird die Frage beraten und ein Beschluss gefasst, und das Parteimitglied wird nicht eingeladen, um sich dazu äußern zu können. Charakterisiert dies nicht die ZKK? Doch mehr noch. Zu eben dieser Frage findet eine Beratung des Präsidiums der ZKK mit Mitgliedern der ZKK statt. Wieder wird die Frage beraten, und später wird ein Beschluss gefasst. Hat man mich vielleicht zu dieser Beratung eingeladen? Hat man mir die Möglichkeit gegeben, mich zu äußern und die Fakten zu erläutern? All das hat man nicht getan. […] Erinnern Sie sich des Gedankens, der der Organisation der ZKK zugrunde liegt? Die ZKK soll eine unabhängige und zutiefst unvoreingenommene Einrichtung sein, die Unzulänglichkeiten und Fehler in der Arbeit und Überspitzungen seitens verantwortlicher Funktionäre der Partei korrigiert. Ich behaupte, dass Sie die ZKK in ein Instrument des Sekretariats des ZK in diesem innerparteilichen Kampf verwandelt haben. Ich behaupte, dass Sie den Gedanken Wladimir Iljitschs, der der Bildung der ZKK zugrunde gelegen hat, entstellen. […] Genossen, ich will es ganz offen aussprechen. Es gibt bei uns Genossen im Politbüro, die die Angelegenheit zu Ende bringen wollen, im Sinne einer ständigen Vertiefung der Meinungsverschiedenheiten, die bestrebt sind, die Angelegenheit in die Massen der Parteimitglieder zu tragen und eine weitere Zusammenarbeit unmöglich zu machen. Ich glaube, dass die Mehrheit des ZK und der Partei dies nicht will. Aber der einseitige Beschluss, der hier vorbereitet wird und den anzunehmen man Ihnen empfehlen wird und der ganz sicher auch angenommen werden wird, wird, so fürchte ich, für jene eine Stütze sein, die der weiteren kollektiven Zusammenarbeit den Boden entziehen wollen.“6
Auf die Absetzung als Volkskommissar für Kriegswesen im Jahre 1925 folgte 1927 – unter Hinweis auf die „Lehren des Oktober“ (1924) und „Unsere Meinungsverschiedenheiten“ (1928) – der Ausschluss aus der Partei. 1928 wurde Trotzki verbannt, 1929 in die Türkei ausgewiesen. 1933 fand der von Stalin gejagte Revolutionär zunächst Zuflucht in Frankreich, 1936 in Norwegen und 1937 in Mexiko.
Trotzki über Lassalle und Lenin
Die Frage, welchen Vorbildern die Mitglieder der Führungsriege der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, der Partei der Sozialisten-Revolutionäre oder der Anarchisten folgten, an welchen theoretischen Konzeptionen sie sich orientierten, gehört in den hier vorgestellten Biographien leider zu den unterbelichteten Seiten. In der Regel wird der Weg zu Marx, der Bruch mit diesem oder die Kritik an Marx thematisiert. Die Rolle der Bezugspersonen und Theoriebildner, zu denen u.a. Alexander Bogdanow, Georgi Plechanow, Nikolai Michailowski, Mark Natanson, Michail Bakunin oder Pjotr Kropotkin gehören, wird kaum herausgearbeitet. Mit Blick auf Trotzki ist es sein Vorbild Ferdinand Lassalle.
In der 1929 veröffentlichten Autobiographie „Mein Leben“ findet sich im Unterschied zum „jungen Lenin“ (1936) und zum „Tagebuch im Exil“ (1935) kein einziger Hinweis auf Ferdinand Lassalle. In Lenins Arbeitsmethode, hatte Trotzki geschrieben, „kam jene Eigenschaft zum Ausdruck, die Ferdinand Lassalle treffend ‚physische Kraft des Denkens‘ nannte“.7 Bei Pierre Broué ist nachzulesen: „Man kann auch von ihm sagen, was er über die physische Kraft des Intellektes von Ferdinand Lassalle und Jean Jaures geschrieben hat. Trotzki verfügte über Kraft und Imagination, Fähigkeiten zum Träumen und Genauigkeit der Analyse, Klarheit der Ziele und Anpassungsfähigkeit der Methoden.“8
„Mein Leben“ dient dem Nachweis der von Stalin in Frage gestellten Nähe zu Lenin. Trotzki hielt an der These fest, dass die Partei nicht unter Lenin, sondern unter Stalin entartete, der mit dem Anspruch antrat, „der Lenin von heute“ zu sein. „Der Stalinismus entwickelte sich nicht organisch aus dem Bolschewismus, sondern entstand als dessen blutige Negation“, schrieb Trotzki am 7. Juni 1939 im mexikanischen Exil.9
Strenge, in sich geschlossene Theorien, hierzu zählte Trotzki auch den Marxismus, hatte er stets abgelehnt. Ihn fesselten Persönlichkeiten, die sich von der „rasenden Inspiration der Geschichte“ leiten ließen. Dies kennzeichnet den von ihm angestrebten und verkörperten Typus des Revolutionärs und das Leitmotiv der seit 1905 in Anlehnung an Marx entwickelten Theorie der Revolution in Permanenz.10 Der historische Materialismus und die Dialektik offenbarten sich ihm, wie er in seiner Autobiographie schrieb, anfangs nicht in ihren abstrakten Formulierungen, sondern als lebendige Triebfedern, die er im historischen Prozess wahrnahm. Trotzki war nie, um diesen Ausdruck zu gebrauchen, auf eine Linie eingeschworen, er schloss sich Zeit seines Lebens keiner Fraktion an, wollte immer seine absolute geistige Unabhängigkeit bewahren.
Bis zuletzt glaubte er, dass die Krise des Kommunismus (die Bolschewiki bezeichneten sich in Abgrenzung zu den Sozialdemokraten als Kommunisten) in Sowjetrussland in einen neuen Sozialismus mündet. Diese Hoffnung bescheinigen ihm jene, die in ihm einen „klassischen, brillanten und undogmatischen Marxisten“ sehen, wie sein Biograph Isaac Deutscher (3.4.1907-19.8.1967), aber auch jene, die ihn dem Lager der „dogmatischen Marxisten“ zuordnen, wie der russische Soziologe Nikolai Alexandrowitsch Wassetzki (geb. 19.12.1946).
Trotzkis Biographen
Im Folgenden werden die neuen, in Deutschland veröffentlichten Trotzki-Biographien vorgestellt und diskutiert. Mit Blick auf die neuesten, von Pierre Broué (8.5.1926-26.7.2005), Wadim Rogowin (10.5.1937-18.9.1998) und Robert Service zwischen 1988 und 2009 vorgelegten Biographien könnte man fragen, ob man das „wahre“ Bild Leo Trotzkis nunmehr gefunden hat. Im „Daily Telegraph“ ist mit Blick auf das umstrittene Buch von Service „von der besten Trotzki-Biographie, die bisher geschrieben wurde“, die Rede. Der Verlag hat dieses Lob und die folgende Behauptung „Es gibt keinen Grund, warum jemand noch eine schreiben sollte“, auf der 4. Umschlagseite platziert.
Helmut Dahmer vs. Robert Service
Aus der Historikerzunft waren indessen andere Stimmen zu vernehmen: Wiederholt, aber vergeblich hatten sich zahlreiche Wissenschaftler an den Suhrkamp-Verlag gewandt und ihre Bedenken zum Ausdruck gebracht. Gegenstand ihrer – von Helmut Dahmer zusammengefassten Kritik – „ist nicht die politische Haltung des Verfassers gegenüber Leo Trotzki, die selbstverständlich dessen persönliche Angelegenheit ist. Sie richtet sich vielmehr gegen die systematische Verletzung wissenschaftlicher Standards und die Fälschung der historischen Wahrheit. Robert Service benutzt unzuverlässige Quellenangaben, ja fälscht Quellen und geht in einer irreführenden und schlampigen Weise mit Zahlen, Daten, Namen und historischen Ereignissen um, die jede Sachkenntnis vermissen lässt. Er greift in tendenziöser Weise auf Lügen und Verleumdungen über Leo Trotzki zurück, die ihren Ursprung nachweislich in der stalinistischen Propaganda haben. Und er bedient gezielt antisemitische Vorurteile einschlägiger Kreise. / Seine obsessive, historisch und politisch nicht gerechtfertigte Beschäftigung mit der jüdischen Herkunft Leo Trotzkis und seine wiederholte Behauptung nicht belegter antisemitischer Vorurteile erinnern auf erschreckende Weise daran, wie die stalinistische Bürokratie antisemitische Vorurteile gegen ihre politischen Gegner mobilisiert hat – so bei den Moskauer Prozessen, beim Slansky-Prozess und auch später bis in die 60er Jahre hinein. / Fehler können auch dem gewissenhaftesten Autor unterlaufen; aber in diesem Falle haben sie ein solches Ausmaß angenommen, dass sie den Verfasser Robert Service als Wissenschaftler diskreditieren.“11
Manfred Behrend (1930-2006) hatte bereits 1999 in einem Vortrag auf diese Spielart der „Kritik“ hingewiesen: „Sie geht davon aus, dass Trotzki Jude war, und führt auf diesen ‚Makel‘ alles Üble oder vermeintlich Üble zurück, das dem russischen Volk seit dem Oktoberaufstand 1917 widerfuhr.“12
Pierre Broué vs. Isaac Deutscher
Auch die von Pierre Broué vorgelegte Biographie, die dem Leser „einen weichgezeichneten Trotzki“13 präsentiert, hält der Kritik nicht stand. Broué wollte der linksliberalen und sozialdemokratischen Öffentlichkeit im Westen, osteuropäischen Dissidenten und intellektuellen ‚Perestroikisten‘ in der Sowjetunion ein sympathisches Vorbild liefern. Damit blieb er hinter Isaac Deutscher zurück, der in seiner Trotzki-Biographie geschrieben hatte, dass die geschichtliche Entwicklung über den Trotzkismus hinausschreitet.
Broué hatte auf dem aus Anlass des 50. Todestages in Wuppertal organisierten Trotzki-Symposium 1990 Deutschers Biographie als Journalismus abgetan. Wer den Beitrag des Mitorganisators des Symposiums im von Gert Schäfer und Theodor Bergmann herausgegebenen Tagungsband14 vermisste, kann diese Polemik in der vom ISP-Verlag veröffentlichten Trotzki-Biographie nachlesen.
„Die Bolschewiki verstanden ihr eigenes Regierungssystem zunächst als Diktatur in der gleichen weitläufigen Bedeutung und hofften völlig aufrichtig“, konstatierte Isaac Deutscher, „dass die Republik der Sowjets im Vergleich mit den bürgerlichen Demokratien dem Volk mehr und nicht weniger Freiheit bescheren würde.“15 Darauf entgegnete Pierre Broué: „Wir wüssten auch nicht, warum wir Isaac Deutscher folgen sollten, selbst wenn er sich zum Anwalt der Urheber und Führer des Oktober macht, wenn er versichert, dass zunächst ‚die plebejische Demokratie der Sowjets sich nicht als monolithischer oder totalitärer Staat betrachtete‘. Diese Bemerkung ist sicher richtig, sie leidet aber unter einem offensichtlichen Anachronismus, insofern als sie mit der Formulierung ‚monolithischer und totalitärer Staat‘ in die Debatte von 1917 etwas einführt, was wir ‚die Fortsetzung‘ genannt haben, nämlich den Stalinismus.“16
Interpreten und Kritiker Deutschers heben indessen hervor, dass „Deutschers eigene Liebe zu diesen Grundzügen des Bolschewismus ihn daran hindern, die im Leninismus inhärente Saat des Totalitarismus zu erkennen“.17 Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass er bereits die Ansätze dieses Abweges untersuchte, und damit Trotzki überlegen war. Wolfgang Ruge ist seiner Leninbiographie diesen Weg konsequent weitergegangen.18
„Broué kann einige (in der Regel nicht sehr erhebliche) faktische Unrichtigkeiten Deutschers korrigieren und hat eine größere Liebe zum Detail als Deutscher. Der französische Biograph berichtet auf der Grundlage des Trotzki-Nachlasses ausführlicher als Deutscher über Trotzkis Aktivitäten bei der Organisierung der internationalen ‚trotzkistischen‘ Bewegung nach seiner Ausweisung aus der Sowjetunion; dies ist der wichtigste Vorzug von Broués Buch gegenüber bisherigen Biographien Trotzkis. Fast jeder Sozialist oder Kommunist, der mit dem exilierten Trotzki zu tun hatte, wird bei Broué erwähnt.“19
Wadim Rogowins Trotzki-Studien
Die von Wadim Rogowin, einem am Institut für Soziologie der Russischen Akademie der Wissenschaften tätigen Soziologen, verfassten Trotzki-Studien20 übernahm der Essener Arbeiterpresse-Verlag ins Programm. Rogowins Zyklus ist sowohl eine Kampfansage an Stalinisten und Antikommunisten als auch eine Handreichung für jene, die der Idee des Sozialismus noch nicht abgeschworen, jedoch noch nicht zum Trotzkismus gefunden haben. Wie Broué wollte auch Rogowin seinen Lesern einen Leitfaden in die Hand geben, der sie endlich auf den richtigen Weg bringt, denn Trotzkismus ist nach seiner Lesart Synonym nicht nur für linke, sondern für Opposition überhaupt.
Während seiner Vortragsreise durch Deutschland im Dezember 1996 hat Rogowin in der Humboldt-Universität zum Anliegen, das ihn vom Beginn der Arbeit am Buchprojekt „Gab es eine Alternative?“ umtrieb, Stellung genommen. Es ist der Kampf gegen die in Russland verbreiteten Mythen, antikommunistischen Legenden sowie bösen und vulgären antibolschewistischen Verleumdungen, ein Kampf für die Ehrenrettung „der wahrhaft kommunistischen Mentalität“, des zweimal, „das erste Mal von Stalin, das zweite Mal von den Gorbatschows, Jelzins, Jakowlews und Schewardnadses verratenen Sozialismus“. Nach Lenins Tod „bildete sich im Umkreis der vernichteten Führer des Bolschewismus eine menschenleere Ödnis“, übrig blieb nur der ausgebürgerte Trotzki, „gegen den sich die Hauptanklage in allen Prozessen richtete“. Im Land hielt „Stalin den gesamten riesigen Mechanismus zur Durchsetzung des Staatsterrors unter seiner unablässigen und wirksamen Kontrolle“. Damit ist der Rahmen der von Rogowin erzählten Geschichten skizziert.
Befreiung vom Geschwür des Stalinismus beginnt für Rogowin mit der genauen Benennung der „Feinde“, das heißt der „ideell degenerierten Dissidenten“, der „offenen Antikommunisten“, der „Renegaten des Kommunismus“, der „Kapitulanten, die mit der trotzkistischen Opposition gebrochen“ haben, und der „Cliquen“. In der Auseinandersetzung mit ihnen gilt es, die „historische Wahrheit wiederherzustellen“ und, einer reinen, unbefleckten Lehre gleich, in die Massen zu tragen. „Zurück zum originären Bolschewismus und seinen Verfechtern Lenin und Trotzki!“ Diese Losung variiert Rogowin von Band zu Band. Was dabei hinderlich ist, wird wie in den vorhergehenden und darauffolgenden Büchern „Die Stalinsche Neonöp“ und „Die Partei der Erschossenen“ ausgeklammert oder als „Legende“, für Rogowin gleichbedeutend mit dem „ideologischen Hauptwerkzeug reaktionärer Kräfte“, verteufelt.
Rogowin klammert solche Themen wie Folgeprozesse der Moskauer Schauprozesse, Folter und Lebensbedingungen in den Stalinschen Lagern aus, bleibt die versprochene Antwort auf die Frage nach den Ursachen und Folgen des Massenterrors schuldig. So gut wie nichts über die Situation in den Parteiorganisationen, keine Analyse der Funktionsweise der Partei- und Staatsführung. Der Autor, der nicht in Archiven arbeiten konnte und sich deshalb weitgehend auf veröffentlichte Quellen stützte, hoffte zu Lebzeiten, seine Hypothesen in späteren Arbeiten „umfassender zu begründen“. Diese Begründung ist leider ausgeblieben.
Unklar sind die Kriterien, nach denen Rogowin aus den Veröffentlichungen seiner Kollegen auswählt. Unerklärlich die unkritische Übernahme der in den NKWD-Dokumenten enthaltenen „Hinweise auf die Existenz“ einer auch nach 1932 einflussreichen, mächtigen und landesweit agierenden trotzkistischen Opposition. Nicht nachzuvollziehen ist die Abkopplung der ersten zwei vom dritten Moskauer Schauprozess gegen den „Block der Rechten und Trotzkisten“. Drängte Nikolai Bucharin wirklich, wie Rogowin behauptet, „quasi selbst in das Spiel hinein“?
Da die – man müsste an dieser Stelle hinzufügen: veröffentlichten – Gutachten der zur Überprüfung der Repressalien eingesetzten Rehabilitierungskommissionen nach Auffassung Rogowins keine Antwort auf die Frage „Was geschah wirklich?“ geben, empfiehlt der Autor seinen Lesern Lew Sedows „Rotbuch“ (1937) und Alexander Orlows „Erinnerungen“. Unter Hinweis auf Arch Gettys und Pierre Broués Recherchen im Trotzki-Archiv schließt sich Rogowin der umstrittenen These an, dass die Moskauer Prozesse „in Wirklichkeit kein grundloses kaltblütiges Verbrechen, sondern der Gegenschlag Stalins in einem zugespitzten politischen Kampf“ waren. Wer sich für die Diskussion dieser Frage interessiert, sei auf die Publikationen auf Oleg Chlewnjuk und sein neuestes Buch über Stalin21 hingewiesen.
„In den Jahren 1936 bis 1938 ist die Leninsche Partei endgültig durch die Stalinsche ersetzt und der Bolschewismus als politische und ideologische Massenkraft beseitigt worden“, leitete Rogowin die Skizze über die „Partei der Hingerichteten“ ein.22 Wer das Szenario der ineinander verwobenen öffentlichen und geheimen Moskauer Prozesse während des Großen Terrors aufdecken will, ist gut beraten, nach dem Zeitpunkt der Verhaftung und des ersten Geständnisses der Angeklagten zu fragen. „Nachdem man Rakowski im Januar 1937 verhaftet hatte, lieferte er umfangreiche schriftliche Aussagen über die Motive seiner opportunistischen Tätigkeit“, heißt es in der deutschen Ausgabe der „Partei der Hingerichteten“.23 Der Vorwurf des Opportunismus passt sehr gut zu der vorhergehenden abschätzigen Vorstellung des einstigen Freundes von Trotzki, der die Freundschaft verriet und vor Stalin kapitulierte.
Christian Rakowski wurde am 27. Januar 1937 verhaftet, das erste „Geständnis“ trägt das Datum 4. September 1937. Welche Mittel und Methoden zur Anwendung kamen, um Rakowski zum Geständnis zu zwingen, nennt Rogowin nicht. Ähnlich ist es um die Vorstellung der anderen Angeklagten im Moskauer Schauprozess 1938, die in der Regel als „Kapitulanten“ vorgeführt werden, bestellt. „Einige Beschuldigte erpresste man offenbar mit kompromittierenden Tatsachen aus ihrer Biographie“, schreibt Rogowin über Isaak Selenski und Wladimir Iwanow, die u.a. als „Ochrana-Spitzel“ vor Gericht standen. „So könnte es“, meint Rogowin, „gewesen sein“. War es aber nicht, möchte man entgegnen und fragen, warum dem Leser die von der Rehabilitierungskommission veröffentlichten Untersuchungsergebnisse vorenthalten werden.
„Am problematischsten war“, konstatiert Rogowin, „das Verhalten Bucharins im Gefängnis“.24 Er habe in der Haft „apologetische Schriften“ verfasst. Es steht Rogowin frei, den Vorsitzenden der Rehabilitierungskommission Alexander Jakowlew für einen „Wendehals und Opportunisten“ zu halten. Aber ein Grund, dem Leser jene 1995 publizierten Dokumente aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation vorzuenthalten, die die Falsifikation dessen belegen, was Nikolai Bucharin während des Prozesses wirklich sagte, ist es nicht. Zu durchsichtig ist der Versuch, den dritten Moskauer Schauprozess „in dem auch ein Körnchen Wahrheit war“, von den vorhergehenden „richtigen Trotzkistenprozessen“ zu trennen.
Dieser Lesart folgt übrigens auch der Herausgeber der „Stenogramme“ der Schauprozesse 1937 und 1938, Nikolai Wiktorowitsch Starikow (geb. 23.8.1970). In den Vorworten und Kommentaren zu diesen Publikationen stellt der Publizist und Blogger den Bezug zu den Ereignissen in der Ukraine her. Die Entwicklung in der Ukraine, von der Abspaltung von der Union bis hin zur Orientierung am Westen, hebt er hervor, entspricht haargenau den von Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski aufgedeckten konterrevolutionären Plänen.
Der angeblich der historischen Wahrheit verpflichtete Publizist schreibt, dass Trotzki auf einem „amerikanischen Dampfer“ ankam und von der Provisorischen Regierung begeistert begrüßt wurde. Nach Auffassung von Starikow erklärt das zur Genüge, in wessen Auftrag Trotzki handelte. Was Trotzkis Auftraggeber anstrebten, setzten die „Verräter um Boris Jelzin und Michail Gorbatschow“ 1991 um. Wie unverfroren hier gelogen und, der aktuellen Vorgehensweise gegen unliebsame NGOs und ausländische Agenten folgend, manipuliert wird, lässt sich an diesem Beispiel vorzüglich erörtern.
Wie Trotzkis von Verhaftung und Internierung unterbrochene „Rückreise“ auf dänischen Schiffen, die in „Mein Leben“ beschrieben wird, tatsächlich verlief, kann nachgelesen werden. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist, dass Starikow die von Nikita Petrow und Shana Artamonowa 2013 herausgegebene Dokumentenedition des 3. Moskauer Schauprozesses als Fälschung bezeichnet. In wessen Auftrag der für „Memorial“ tätige Petrow und die Mitarbeiterin des Russischen Staatsarchivs für sozial-politische Geschichte Artamonowa handeln, erfährt der Leser nicht. Auch nicht, dass sich beide auf die im Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation überlieferte Fassung des Stenogramms stützen, während Starikow „seiner“ Publikation die in den 1930er Jahren in der Tagespresse in Fortsetzungen veröffentlichten Berichte zugrunde legt. Die Unterschiede zwischen diesen Fassungen sind mit Blick auf die redaktionelle Bearbeitung des nach wie vor für die Forschung gesperrten und im Zentralarchiv des FSB aufbewahrten Basistextes des Prozessstenogramms zurückzuführen.
IV. vs. III. Internationale
Im Exil-Tagebucheintrag vom 18. Februar 1935 weist Trotzki zum wiederholten Male auf einen für Stalins Denken relevanten Sachverhalt hin: „Seine Vorstellungen von politischer Stärke sind mit der Vorstellung von dem Apparat untrennbar verbunden“.25 Stalin fürchtete – so lautet eine der Thesen, die sich bei Rogowin findet – dass Trotzkis Vierte Internationale „zu einem gewichtigen Faktor in der politischen Entwicklung in der Welt wurde“.26 Seit 1935, dem Jahr des VII. Weltkongresses der Komintern, arbeitete Trotzki daran, die seiner Meinung nach bankrotte III. Internationale durch eine IV. zu ersetzen. Für Rogowin ist das die Erklärung für Stalins Mordbefehl.
Nachdem der Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Lawrenti Berija seinen Mitarbeiter Pawel Sudoplatow (7.7.1907-24.9.1996) im Kreml als zukünftigen Leiter der für Auslandsoperationen zuständigen Geheimdienstabteilung vorgestellt hatte, bestätigte Stalin die Kandidatur und ordnete die Ermordung Trotzkis an. Sudoplatow beschreibt in seinen Memoiren27 (1994) die zwei Vorladungen zu Stalin und stellt dessen von Rogowin ausgeblendete Motive dar. Außer Trotzki gab es in der IV. Internationale keinen Politiker von Format. Mit seiner Liquidierung ist das Problem aus der Welt und die Organisation nicht nur enthauptet, sondern bedeutungslos. Von der IV. Internationale als gewichtigem politischem Faktor war in diesem Zusammenhang nie die Rede.
Jurij Felschtinskij über Leo Trotzki
Abschließend sei auf die von Jurij Georgijewitsch Felschtinskij (geb. 7.9.1956) und Georgij Josifowitsch Tschernjawski (geb. 29.11.1931) verfasste Trotzki-Biographie in vier Bänden hingewiesen. Ein Vorzug dieser auf dem im Internet verfügbaren „Archiv Leo Trotzkis“ basierenden Studien ist, dass die neben Trotzki agierenden Oppositionellen umfassender als in den anderen in diesem Beitrag genannten Biographien in die Untersuchung einbezogen worden sind. Zu diesen gehören u.a. bekannte Oppositionelle wie Christian Rakowski und Jewgenij Preobrashenski, deren Leben und Werk in neuen Biographien28 und Werkausgaben29 vorgestellt worden ist. Die Erfassung der Biographien und Schriften der Vertreter der trotzkistischen Opposition ist längst nicht abgeschlossen. Ein Zwischenergebnis für die Jahre 1922 bis 1934 hat Konstantin Wladislawowitsch Skorkin (geb. 1955) 2011 vorgelegt.30
Heute besteht die Möglichkeit, den Fraktionskampf innerhalb der KPdSU(B) nicht ausschließlich unter dem Blickwinkel Stalins zu beschreiben. Wenn die Leistungen und Fehler der Opposition als Spiegelbild der dem System immanenten Leistungen und Fehler analysiert werden, erscheint die „Kapitulation aller oppositionellen Elemente“, auf die Rogowin immer wieder zu sprechen kommt, in einem neuen Licht. In diesem Sinne kann das Ende ein Neuanfang sein. Eine der Herausforderungen, der sich künftige Biographen des russischen Revolutionärs stellen müssen, besteht darin, die im Leninismus inhärente Saat des Totalitarismus zu erkennen und somit über Trotzki hinauszugehen.
Anmerkungen
1 Anatoli W. Lunatscharski: Leo Davidowitsch Trotzki. In: Ders.: Profile der Revolution. Eingeleitet von Isaac Deutscher. Frankfurt a. M. 1968, S. 49.
2 Anatoli W. Lunatscharski: Leo Davidowitsch Trotzki, a.a.O., S. 54.
3 W. I. Lenin: Brief an den Parteitag. Fortsetzung der Aufzeichnung. 24. Dezember 1922, in: W. I. Lenin: Werke, Bd. 36. Berlin 1962, S. 578-579.
4 Anatoli W. Lunatscharski: Leo Davidowitsch Trotzki, a.a.O., S. 56.
5 W. I. Lenin: Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922, in: W. I. Lenin: Werke, Bd. 36. Berlin 1962, S. 580.
6 Konspekt der abschließenden Rede des Genossen Trotzki auf dem Vereinigten Plenum des ZK und der ZKK mit Vertretern von 10 proletarischen Parteiorganisationen am 26. Oktober 1923. In: Wladislaw Hedeler: Stalin. Trotzki. Bucharin. Studien zum Stalinismus und Alternativen im historischen Prozess. Mainz 1994, S. 95-103.
7 Leo Trotzki: Der junge Lenin. Frankfurt a. M. 1971, S. 204.
8 Pierre Broué: Leo Trotzki. Bd. 1. Köln 2000, S. 21.
9 Leo Trotzki: Das Zentralkomitee, seine Zusammensetzung und die Geschichte des Bolschewismus. In: Ders.: Schriften. Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Bd. 1.2 (1936-1940). Hamburg 1988, S. 1204.
10 Leo Trotzki: Die permanente Revolution. Frankfurt a. M. 1969, S. 27.
11 Aus dem Brief von Helmut Dahmer an den Suhrkamp Verlag. Archiv W. Hedeler.
12 Manfred Behrend: Leo Trotzki (1879-1940). Verdienste und Fehler eines großen Revolutionärs. Berlin 1999, S. 6.
13 Hans Werner Klausen: Ein weichgezeichneter Trotzki – Zur Trotzki-Biographie von Pierre Broué. URL: https://hanswernerklausen.wordpress.com/2012/01/13/ein-weichgezeichneter-trotzki-zur-trotzki-biographie-von-pierre-broue/ (Stand: 15.08.2015).
14 Theodor Bergmann; Gert Schäfer (Hg.): Leo Trotzki. Kritiker und Verteidiger der Sowjetgesellschaft. Beiträge zum internationalen Trotzki-Symposium, Wuppertal 26.-29. März 1990. Mainz 1993.
15 Isaac Deutscher: Trotzki. I. Der bewaffnete Prophet. Stuttgart 1972, S. 304.
16 Pierre Broué: Trotzki. Eine politische Biographie. Bd. 1. Köln 2000, S. 221.
17 Mike Jones; Alistaire Mitchell: Isaac Deutscher. In: Theodor Bergmann; Mario Keßler (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus. 23 biographische Essays. Hamburg 2000, S. 374.
18 Wolfgang Ruge: Lenin. Vorgänger Stalins. Eine politische Biografie. Bearbeitet und mit einem Vorwort von Eugen Ruge, herausgegeben von Wladislaw Hedeler. Berlin 2010.
19 Hans Werner Klausen: Ein weichgezeichneter Trotzki, a.a.O.
20 Vadim Z. Rogovin: Byla li al‘ternativa? Trockizm. Vzgljad čerez gody. Moskva 1992 (umfasst die Zeitspanne von 1922 bis 1927; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: Trotzkismus. Essen 1996); Ders.: Vlast‘ i oppozicija. O. O., 1993 (umfasst die Zeitspanne von 1928 bis 1933; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: Stalins Kriegskommunismus. Essen 2006); Ders.: Stalinskij Neonėp. O. O., 1994 (umfasst die Zeitspanne von 1934 bis 1936; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: Vor dem großen Terror – Stalins Neonöp. Essen 2000); Ders.: Partija rasstreljanych. Moskva 1995 (umfasst die Zeitspanne von Juni 1937 bis 1939; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: Die Partei der Hingerichteten. Essen 1999); Ders.: 1937. Moskva 1996 (umfasst die Zeitspanne von Dezember 1936 bis Juni 1937; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: 1937 – Jahr des Terrors. Essen 1998); Ders.: Mirovaja revoljucija i mirovaja vojna. Moskva 1998 (umfasst die Zeitspanne von März 1939 bis August 1940.; dt. Übers.: Wadim S. Rogowin: Weltrevolution und Weltkrieg. Essen 2002); Vadim Z. Rogovin: Konec oznacaet načalo. [Ende bedeutet Anfang.] Moskva 2002.
21 Oleg Chlevnjuk: Stalin. Žizn‘ odnogo voždja. [Stalin. Das Leben eines Führers.] Moskva 2015. Hier insbesondere das Kapitel 4 „Terror und Krieg“.
22 Wadim S. Rogowin: Die Partei der Hingerichteten. Essen 1999, S. 12.
23 Ebd., S. 38.
24 Ebd., S. 41.
25 Leo Trotzki: Tagebuch im Exil. Köln 1979, S. 50.
26 Wadim S. Rogowin: Weltrevolution und Weltkrieg. Aus dem Russischen übersetzt von Hannelore Georgi und Harald Schubärth. Essen 2002, S. 347.
27 Pavel Sudoplatov: Razvedka i Kreml‘. Moskva 1996, S. 75-99; ders.: Specoperacii. Lubjanka i Kreml‘ 1930-1950 gody. Moskva 1997, S. 102-132.
28 Georgij Černjavskij; Michail Stancev; Marija Tortika: Žiznennyj put‘ Christiana Rakovskogo. 1873-1941. Evropeizm i bol‘ševizm: neokončennaja duel‘. [Der Lebensweg von Christian Rakowski. 1873-1941. Europäismus und Bolschewismus: ein unvollendetes Duell.] Moskva 2014.
29 Wladislaw Hedeler: Zur Ausgabe der Werke von E. A. Preobraženskij in Russland. In: Berliner Debatte Initial 23, H. 3/2012, S. 148-150.
30 Konstantin Vladislavovič Skorkin: Obrečeny proigrat‘. Vlast‘ i opposizija 1922-1934. [Zur Niederlage veurteilt. Macht und Opposition.] Moskva 2011.
Aus: Berliner Debatte INITIAL 26 (2015) 3, S. 116-123