digital arbeiten

Editorial Berliner Debatte 3/2021

 

„Zoom Fatique“, zu Deutsch „Videokonferenz-Erschöpfung“, ist vielleicht das neueste Phänomen eines zunehmend digitalisierten Büroalltags. Seit der Corona-Pandemie und dem notgedrungenen Umzug ins Home-Office sind Videokonferenzen allgegenwärtig. Zum digitalen Arbeiten gehören heute außerdem kollaborative Werkzeuge, die Echtzeiteinblicke in die Arbeitsfortschritte von Teams gewähren, sowie Applikationen und KI-Elemente, die Arbeitsprozesse erleichtern sollen. Digitales Arbeiten wird dadurch transparenter, jedoch in einer Weise, die für die Beschäftigten in der Regel intransparent ist. Dadurch verändern sich die Möglichkeiten der Überwachung und die Modi der Fremd- und Selbstkontrolle.

Dass die Digitalisierung in alle Lebensbereiche eingreift, Nebenwirkungen hat, Herausforderungen verschiedenster Art (politisch, kulturell, ökologisch etc.) mit sich bringt und wir erst lernen, mit ihr und ihren Effekten umzugehen, wird seit Jahren breit diskutiert. Im Themenschwerpunkt „digital arbeiten“ geht es vor allem darum, wie sich Arbeit unter digitalen Vorzeichen verändert. Besonders auffällig an der digitalen Arbeitswelt ist, dass sie zur Entgrenzung neigt: Ständige Erreichbarkeit am Smartphone sowie fließende Übergänge zwischen Arbeit und Freizeit sind längst selbstverständlich. Zugespitzt könnte man fragen, ob wir heute nicht alle digital arbeiten, weil wir den Internetfirmen und -konzernen Daten liefern, wenn wir Updates installieren, im Internet einkaufen, Apps nutzen, Bewertungen posten, Likes vergeben usw.

Mit der digitalen Transformation scheint die Arbeitswelt im Stadium der permanenten Veränderung angekommen zu sein. Das betrifft nicht nur die digitalen Arbeitsmittel, die ständig auf den neuesten Stand gebracht werden sollen. Auch die Arbeitsprozesse selbst werden stetig umgestaltet: Algorithmen übernehmen die Steuerung und Managementkonzepte, die aus der Softwarebranche stammen, dienen als Überbau. Während das Management für eine „agile“ Arbeitskultur mit flachen Hierarchien schwärmt, hangeln sich viele Beschäftigte von Projekt zu Projekt und von Job zu Job. Dies gilt für an Hochschulen tätige „Wissensarbeiter“ genauso wie für die Fahrradkuriere von Essenslieferdiensten.

Die Ambivalenzen und Verwerfungen, die mit dem digitalen Arbeiten einhergehen, resultieren auch aus dem „neuen Geist des Kapitalismus“, den Luc Boltanski und Ève Chiapello bereits vor über zwanzig Jahren untersucht haben. Von den Subjekten wird erwartet, autonom, spontan, mobil, kreativ, kompetent und teamfähig zu sein, kurzum: ein „unternehmerisches Selbst“ (Ulrich Bröckling) zu werden. Diesen nicht mehr ganz so „neuen Geist“ kann man als eine der ideellen Voraussetzungen für das digitale Arbeiten in dezentralen Strukturen und an flexiblen Arbeitsorten betrachten. Vollumfänglich möglich wird dieses Arbeiten mit den neuen Technologien, wobei die digitale Kommunikation über soziale Netzwerke und Kommunikationstools schon über Jahre im Privaten eingeübt wurde. Für die Beschäftigten entsteht eine spannungsgeladene Situation: Einerseits sind sie mit hohen Anforderungen konfrontiert und der soziale, kreative und technologische Druck auf sie wächst. Andererseits scheinen sich ihnen neue Emanzipationsmöglichkeiten zu bieten, denn die Welt des Home-Office könnte für weniger Verkehrsbelastung und mehr freie Zeit sorgen (etwa durch weniger Pendeln). Arbeitsorte könnten selbst gestaltet oder im Rahmen der mobilen Arbeit selbst gewählt werden, Zugänge zur Arbeit könnten barrierefreier werden. Da das digital zirkulierende Wissen zunehmend uneingeschränkt ist, könnte es an vielen Stellen Synergieeffekten geben – wenn die freie Zeit vorhanden wäre, sich dieses Wissen auch anzueignen.

Die Artikel des Themenschwerpunkts setzen sich mit Konzepten und Ansprüchen dieser Arbeitswelt auseinander, gewähren empirische Einblicke, legen aktuelle Entwicklungstendenzen offen und diskutieren politische und normative Fragen, die sich aus der Digitalisierung der Arbeit ergeben.

Die ersten drei Beiträge beschäftigen sich mit Agilität, einem Konzept und Schlagwort digitalen Arbeitens in Organisationen, vor allem in den Büroetagen und im Management. Dirk Baecker argumentiert aus einer systemtheoretischen Perspektive dafür, Arbeit am Bildschirm als Arbeit an organisationalen Entscheidungsprozessen zu verstehen, die in drei Dimensionen – Hierarchie, Netzwerk und Lernen – reflektiert und konditioniert werden kann. Der Bildschirm spiele insofern eine besondere Rolle, als er Lernen in eine „menschliche“ Oberfläche und eine „maschinelle“ Unterfläche trenne. Methoden agilen Managements zielten darauf, Organisationen beweglicher zu machen und Hierarchien mit Blick auf Netzwerke zu relativieren. Anschließend untersucht Stefan Sauer, wie agile Methoden und Konzepte in Unternehmen zum Einsatz gelangen. „Agile Projektarbeit“ heißt das Zauberwort, mit dem das organisationale Paradox von Autonomie und Kontrolle aufgelöst werden soll. Den Beschäftigten verheißt es, selbstgesteuert, flexibel und kreativ arbeiten zu können. Doch der agile Arbeitsalltag ist, wie Sauer am empirischen Material zeigt, weniger verheißungsvoll, denn er bringt nicht nur mehr Beweglichkeit, sondern auch Einschränkungen, Unsicherheiten und (individuelle) Belastungen mit sich. Auf die Spannung zwischen (Selbst-)Ermächtigung und (Selbst-)Ausbeutung, die kennzeichnend für den neuen Geist des Kapitalismus ist, geht auch Timo Daum ein: Er erinnert an die Anfänge agilen Managements in der Softwarebranche und zeichnet nach, wie sich aus den nicht-hierarchischen Ordnungsideen einer alternativen Softwareszene eine maßgeschneiderte Ausbeutungsmethodik entwickeln konnte, die erfolgreich in Teams (und damit: in Subjekten) verankert wurde.

Die folgenden vier Texte behandeln verschiedene Dimensionen der sogenannten Plattformökonomie. Was heißt „digital arbeiten“ in diesem Zusammenhang? Markus Hertwig unterscheidet über Online-Plattformen vermittelte Arbeitsleistungen danach, ob sie „online“ erbracht werden (wie Clickwork) oder „offline“ (etwa durch Fahrradkuriere), und identifiziert zentrale Merkmale von Online-Arbeitsmärkten. Im Rückgriff auf Giddens’ Strukturationstheorie erinnert er daran, dass Arbeit auch unter den Bedingungen der Plattformökonomie in soziale Strukturen eingebettet ist. Es hänge von Akteuren und deren Entscheidungen ab, die so oder anders ausfallen können. Zu diesen sozialen Strukturen gehören neuerdings auch „Communities“: disparate soziale Gruppierungen, die sich kognitiv auf Online-Plattformen beziehen, eigene Kulturen und Regeln entwickeln und insofern die Funktion von Berufen übernehmen könnten. Wie es im Innenraum von Dienstleistungsplattformen aussieht, ist das Thema von Oliver Nachtwey und Simon Schaupp. Sie werten Material aus einer ethnografischen Studie aus, die bei einer deutschen Lieferplattform durchgeführt wurde. Ausgehend davon charakterisieren sie Dienstleistungsplattformen als „dualistische Meta-Organisationen“. Es handelt sich demnach um zwei Organisationen in einer: eine „vollständige“ im Zentrum und eine „partielle“ an der Peripherie. Beide unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf die Mitgliedschaft der Beschäftigten (u. a. Vollzeit vs. Teilzeit, unbefristet oder befristet), sondern können durch algorithmische Arbeitssteuerung auch fast komplett voneinander getrennt werden. Die Autoren zeigen an der „offline“ erbrachten Kontingenzarbeit von Fahrradkurieren, dass die vielgepriesene Flexibilität prekäre Beschäftigungsverhältnisse etabliert und neue Formen individueller Unsicherheit entstehen. Auch Janis Ewen gewinnt durch eine Interviewstudie mit Fahrradkurieren eines Essenslieferdienstes Einblicke in die plattformbasierte „Gig Economy“. Die Lieferdienste sind nach wie vor auf Expansionskurs; gleichzeitig nehmen Arbeitskonflikte zu (z. B. um die Bereitstellung der Arbeitsmittel Telefon und Fahrrad). Die Beschäftigten beginnen sich zu vernetzen und entdecken ihre Handlungsmacht, was Reaktionen der Lieferdienste nach sich zieht, die ihr bisheriges Geschäftsmodell in Frage stellen könnten. Zugleich grenzen sich die Beschäftigten von den Plattformen ab, deren Management sie ohnehin auf Abstand halten wollte. Dass die Plattformökonomie auch körpernahe Dienstleistungen erfasst, illustriert David Greifenberg an der Pornobranche. Am Beispiel von Sex-Cam-Plattformen untersucht er, wie die Digitalisierung Sexarbeit verändert. Sex-Cam-Plattformen grenzen sich von der professionellen Porno-Industrie ab, indem sie das Amateurhafte der Darstellung betonen und die Illusion einer authentischeren, lustvolleren und moralisch höherwertigen Sexarbeit erzeugen. Die Emanzipationspotentiale amateurhafter Sex-Cam-Arbeit, die man vermuten könnte, seien de facto kaum vorhanden. Vielmehr unterwerfen sich die Darstellenden dem harten Regime der Aufmerksamkeitsökonomie, das ihre Arbeit entwertet.

Wo fängt digitales Arbeiten an, wo hört es auf? „Wer arbeitet eigentlich nicht für Datenkonzerne?“, fragt leicht entnervt Dietmar Dath in der F.A.Z. vom 11.11.2021. Es ist längst ein Gemeinplatz, dass datenhungrige Apps unsere ständigen Begleiter sind, die wir nicht zuletzt deshalb bereitwillig füttern, weil sie uns Annehmlichkeiten versprechen. Unser lebensweltlicher Umgang mit digitalen Anwendungen und Endgeräten wird, so die These von Susanne Draheim und Stefan Meißner, nicht vor der Arbeitswelt haltmachen. Vielmehr werden die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit immer weiter verwischt. „Companion Technology“ und „Convenience“ seien zwei Konzepte, mit denen sich diese Entwicklungen analysieren lassen, ohne das Loblied der Emanzipation oder den Klagegesang der Entfremdung anzustimmen. Für die Entgrenzung von Freizeit und Arbeit findet sich ein aktuelles Beispiel, das Nora Stampfl diskutiert: das pandemiebedingte Massenexperiment des Rückzugs ins Home-Office. Auch wenn das Home-Office gewisse Annehmlichkeiten mit sich bringe, schrumpfe „am Küchentisch“ der Erfahrungshorizont auf einen mediatisierten betrieblichen Austausch, der die sinnlich-körperliche Dimension von Arbeitsbeziehungen abblendet. Auch weil sich in der dinglichen Bürowelt gesellschaftlich-kulturelle Normen ablagern, sei es für den Arbeitsalltag von Angestellten wichtig, die Dinge zu erleben. Solche Einsichten der Organisationsforschung zu ignorieren und leibliche Präsenz nicht nur in der Krise, sondern auf lange Sicht durch Virtualität zu ersetzen, sei riskant: Es bedeute weniger Einfluss des Arbeitgebers, der Co-Worker und der räumlichen Umgebung auf die Arbeitsweise der Angestellten – eine Überlegung, die unterschiedliche politische Schlussfolgerungen erlaubt. Karsten Uhl erinnert schließlich an die alte Hoffnung, Automatisierung und Computerisierung würden die industrielle Arbeit humanisieren, und an die ebenso alte Furcht, Automaten und Computer würden den Menschen ersetzen und Arbeitsplätze vernichten. Am Beispiel des Einsatzes computergesteuerter Maschinen, die komplexe Werkstücke schnell und präzise bearbeiten, verdeutlicht er, dass Erfahrung und Gefühl der Fach­arbeiter:innen maßgeblich dazu beitragen, dass Automatisierungsprozesse gelingen und akzeptiert werden.

Außerhalb des Schwerpunkts widmen sich zwei Artikel der Literatur und ihrem Verhältnis zu Politik und Geschichte: Der 20. Todestag von Thomas Brasch (1945–2001) ist für Birgit Dahlke ein Anlass, sich erneut mit dem Werk des Dichters und Dramatikers auseinanderzusetzen. Im Unterschied zu biographischen oder (geschichts-)politischen Deutungen – wie in dem neuen Kinodrama „Lieber Thomas“ (D 2021; Regie: Andreas Kleinert) – geht die Autorin auf Braschs Ästhetik ein und verortet diese in einem größeren literaturgeschichtlichen Kontext. Jakob Ole Lenz zeigt, welche Bedeutung der jüdische Spätaufklärer Saul Ascher (1767–1822) für Peter Hacks’ Abrechnung mit der Romantik hatte. Neben Hacks’ Ascher-Rezeption sind auch Aschers Leben und Werk Thema dieses Beitrags.