Große Koalition der "Reformer"

Nun haben wir sie also, die große Koalition der Reformer. Genauer, nun existiert sie amtlich und institutionell beglaubigt. ...

... Ihre Ursprünge reichen weit zurück. Die Riester-Rente beispielsweise ist ein Vorläufer: Die Alterssicherung zu privatisieren und ihre Finanzierung den Arbeitnehmern aufzubürden - das propagierten schon lange CDU wie FDP. Stärkung der "Eigenverantwortung" heißt das in den besseren Kreisen. Die Vorschläge der Hartz-Kommis-sion, wahrlich eine Magna Charta der Deregulierung, fanden dann auch offiziell den Beifall fast aller Parteien. Das Strategiepapier aus dem Kanzleramt und die parallel dazu im Bundeswirtschaftsministerium entwickelten Planspiele zur Überwindung "beschäftigungspolitischer Hindernisse" könnten ebenso gut aus der Feder eines freidemokratischen Strategen stammen. Einschränkung des Kündigungsschutzes, Reduzierung der Mitbestimmung, Lockerung der Tarifbindung, die Schaffung gesetzes- und tariffreier Regionen, Zwangsarbeit für arbeitslose junge Menschen - das ist der Stoff, aus dem große Koalitionen gewebt sind. So weit das Auge reicht: Reformer allerorten.
Apropos Reformen. Kürzlich wurde die "Ich-AG" zum Unwort des Jahres erklärt. Mit Recht. Wie wärÂ’s in diesem Jahr mit dem Begriff "Reform"?! Gesellschaftliche und soziale Reformen, so haben wir auf der Schule gelernt, sollen Emanzipation, Entfaltungsfreiheit, Demokratie und gesellschaftliche Wohlfahrt fördern. Das Gegenteil hieß Restauration. Nehmen wir das aktuelle Thema des Kündigungsschutzes. Vorweg: Das gleichnamige Gesetz schützt nicht vor Kündigungen. Es gibt dem Gekündigten lediglich das Recht, sich vor Gericht gegen Willkür zu wehren und kann dafür sorgen, unter den Betroffenen ein wenig soziale Gerechtigkeit durchzusetzen.
So stellte die rot-grüne Koalition noch vor wenigen Wochen völlig zu Recht fest, dass etwa der Kündigungsschutz älterer Arbeitnehmer/innen eine Legende ist. Es entspreche einer "zwar nicht zutreffenden, aber weit verbreiteten und hartnäckig vertretenen Auffassung, dass neu eingestellte ältere Arbeitnehmer aufgrund besonders starken Kündigungsschutzes bei einem später erforderlich werdenden Personalabbau nicht mehr entlassen werden können". Dies sei erwiesenermaßen falsch. Dabei werde "z.B. verkannt, dass im Rahmen der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen jüngere Arbeitnehmer häufiger schutzwürdiger sind". Dies liest man in der amtlichen Begründung zum zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz-Gesetz). Doch das hinderte die Koalition nicht, in eben jenem Gesetz für alle älteren Arbeitnehmer ab dem 50. Lebensjahr befristete Arbeitsverträge ohne jeden sachlichen Grund und in willkürlicher Abfolge von Kettenarbeitsverträgen zuzulassen. Um "psychologische Einstellungsbarrieren" zu überwinden, ist so für jeden vierten Arbeitnehmer ab Januar diesen Jahres der gesetzliche Kündigungsschutz beseitigt.
Die Tinte unter der Ausfertigung dieses Gesetzes war noch nicht trocken, da sprach sich der Bundeswirtschaftsminister dafür aus, das Kündigungsschutzgesetz generell für Kleinbetriebe, für junge Arbeitnehmer/innen und für neu Eingestellte bis zum zweiten Beschäftigungsjahr außer Kraft zu setzen. Abermals interessiert die Realität herzlich wenig. Was Kleinbetriebe angeht, haben wir einen Praxistest hinter uns: 1996 "befreite" die damalige konservative Koalition schon einmal Betriebe bis zu zehn Vollzeit- bzw. 20 Teilzeitbeschäftigten vom Kündigungsschutzgesetz. Damals schon verhieß uns die Regierung vollmundig mehrere Hunderttausend Neueinstellungen in Handwerks- und Kleinbetrieben. Doch der Erfolg blieb aus; im Gegenteil: Die Arbeitslosigkeit stieg an, auch im Handwerk und in anderen mittelständischen Betrieben ging die Zahl der Beschäftigten deutlich zurück. Das kollektive Gedächtnis der Medien scheint ausgeschaltet; offenkundig gibt es keine Archive mehr.
Zurück zu den "Reformen". So bescheiden das Kündigungsschutzgesetz auch ist, so hohe Bedeutung kommt ihm für die Gekündigten zu. Es verbürgt ein wichtiges Stück demokratischer Kontrolle, wenn diese wenigstens die Arbeitsgerichte anrufen können, und sei es auch nur, um am Ende eine Abfindung durchzusetzen. Wer es übrigens nicht weiß: Für zehn Beschäftigungsjahre sind fünf Monatseinkommen Standard; zu viel? Und es ist ein Stück Freiheitsverbürgung, wenn gekündigte Arbeitnehmer/innen sich wenigstens insofern wehren können, als sie die Kündigung einer Willkürkontrolle und einer Überprüfung der sozialen Auswahl unterziehen können.
Wer den Abbau solcher Rechte eine Reformaufgabe nennt, pervertiert den Reformbegriff. Oder: Ist es wirklich eine Reform, wenn Frauen das jüngst geschaffene, unter mehreren Vorbehalten stehende Recht, ihr Arbeitsverhältnis auf Teilzeit umzustellen, wieder genommen werden soll? Ist es am Ende eine Reform, junge Arbeitslose in eine neue Variante von Arbeitsdienst zu stecken? Ist es Reform, wenn die Tarifbindung gelockert wird? "Deregulierung" des Arbeitsrechts heißt ja nicht, rechtliche Regeln und Versteinerungen beseitigen, sondern heißt, bestehende Rechte verschieben. Den einen, nämlich den Arbeitnehmern, Rechte nehmen und sie den anderen, den Arbeitgebern in Gestalt von Entscheidungsund Verfügungsfreiheit geben. Doch solche simplen Feststellungen gehören mittlerweile zu den gesellschaftlichen Tabus. Jüngst werden Reformen durch das Merkmal definiert, dass sie "richtig weh tun"(!). Man darf wohl noch fragen: wem eigentlich? In einer gespaltenen Gesellschaft ist durchaus des Einen Schmerz des Anderen Freude, oder, zurückhaltender formuliert: des Einen Last des Anderen Gewinn, des Einen Abhängigkeit des Anderen Freiheit, auch Macht über Menschen.
Ein großer Teil der Wähler, die in der jüngsten Bundestagswahl Rot-Grün nochmals die Stimme gaben, wollten genau jene "Reform"-Politik nicht fortgesetzt sehen. Ebenso wie 1998 war auch 2002 das Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit ein verbreitetes Motiv, vor allem für die Wahl der SPD. Die Wähler, die 1998 den Wechsel herbeiführten, votierten für den vorsorgenden Staat, wie Renate Kröcher vom Allensbach-Institut seinerzeit zutreffend analysierte. Das war im letzten Sommer nicht anders. Und diese Erwartungen bedienten der Bundeskanzler und die SPD in der zweiten Hälfte des Bundestagswahlkampfes ja mehrfach.
Umso größer die Enttäuschung! Das zeigt die andere Botschaft aus den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen: Die Wähler lassen sich nicht veralbern. Zu einem nicht unerheblichen Teil schlug sich die Enttäuschung in Wahlenthaltung nieder, unter den obwaltenden Umständen eine durchaus politische Haltung, wenn die Alternative fehlt. Wer, etwa in Treue erblindet, in der SPD noch ein Bollwerk gegen liberale Umverteilung von Einkommen und Rechten sieht, ist ein Traumtänzer.
Natürlich gibt es andere Optionen, theoretisch jedenfalls. Wollte die SPD langfristig geltende Lehren aus der Wahlniederlage ziehen, müsste sie mit ihrem eigenen sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs der letzten Jahre abrechnen. Das setzte eine inhaltliche und programmatische Erneuerung voraus. Doch dies wird nicht geschehen; nebenbei, wer sollte dies bewegen?
Also bleibt es bei der großen Koalition als realistischer Variante. Die Folgen sind absehbar: Wirtschaftspolitisch wird die Fortsetzung von Haushaltskonsolidierung und Rückzug des Staates die Arbeitslosigkeit verschärfen. Sozialpolitisch werden sich Unsicherheit und Sorgen um die Zukunft verfestigen. In der sozialen Realität wird sich der Sozialabbau fortsetzen und dank Großer Koaliation beschleunigen.
Unabsehbar und verhängnisvoll sind zudem die Folgen wachsender Orientierungslosigkeit und Ohnmacht unter den Arbeitnehmern. "Die machen ja doch, was sie wollen." Eine nicht ungefährliche Polarisierung verfestigt sich: Zwischen denen, die man seit geraumer Zeit die "politische Klasse" nennt, die den Politikbetrieb in Parteien, Parlament und Medien dominieren und beispielsweise dieser Tage die Hoheit über die Interpretation der jüngsten Wahlergebnisse ausüben; und auf der anderen Seite denen, die als Zuschauer der sonntäglichen Christiansen-Runde Scheingefechte präsentiert bekommen. Sie müssen den Eindruck gewinnen, dass der Berliner Betrieb ihre Sorgen und Nöte, auch Hoffnungen nicht aufnimmt. Wer so über die Jahre erleben muss, dass Politik zu symbolischen Handlungen und inszenierten Scheinlösungen verkommt, bei gleichzeitig fortgesetztem Sozialabbau, der wendet sich am Ende ab oder wird empfänglich für irrationale Politikmuster. Den Schaden trägt die Demokratie davon.