Sozialdemokratische Chaostage

Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben. So kläglich, wie jüngst in Hessen wurde noch keine Mehrheit verspielt. Mit Folgen, die uns womöglich noch lange begleiten werden.

Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben. So kläglich, wie jüngst in Hessen wurde noch keine Mehrheit verspielt. Mit Folgen, die uns womöglich noch lange begleiten werden. Den Schaden des Hessen-Dramas trägt nicht nur die SPD davon. Auch die Chancen einer Politik, die dem Mehrheitswillen der Wähler entspricht, sind auf mittlere Frist dahin. Der politische Diskurs wird zur Camouflage: Wer die Bildung einer reformbereiten Mehrheit auf die Kategorien von Wortbruch und Aufrichtigkeit, Machthunger und Gewissen reduziert, lässt die politische, also inhaltliche Kontroverse hinter der Inszenierung öffentlichen Pharisäertums verschwinden.

Natürlich war und ist es erklärungsbedürftig, wenn die SPD von ihrer Ankündigung abweicht, mit der Linkspartei keine gemeinsame Sache zu machen. Wer von solchen Bündnisaussagen abrückt, schuldet allerdings zuvörderst eine Erklärung, warum er sich die Kontaktsperre überhaupt verordnet hat. Den Umgang mit einer Partei zu tabuisieren, deren Programm - traditionell sozialdemokratisch - in die gleiche Richtung weist, bedarf unter erwachsenen Menschen der Erläuterung. Die erst spät vom Vorsitzenden nachgelieferte Begründung, der Linken durch Nichtbeachtung den Zugang zum Parlament zu verbauen, ist töricht und erinnert mehr an Spiritismus und Magie als an rationales politisches Kalkül. Sie bestätigt überdies den Verdacht, dass dieses Land immer noch nicht in der parlamentarischen Demokratie angekommen ist.

Was mit allem moralischen Aplomb als Wortbruch gegeißelt wird, wäre nicht mehr und nicht weniger als das Eingeständnis eines Fehlers, der einem Parteivorsitzenden und einer Spitzen-kandidatin eigentlich nicht unterlaufen dürfte. Ein solches Eingeständnis war schon am Wahlabend überfällig - wenn denn das Wahlprogramm ernst gemeint war und ist. Die SPD ist in Hessen mit einem in Maßen substanzvollen sozialdemokratischen Programm angetreten. Die Wählerinnen und Wähler haben es honoriert. Sie haben für einen inhaltlichen Politikwechsel votiert, nicht aber für oder gegen bestimmte Taktiken der parlamentarischen Zusammenarbeit. Überdies hätte die Tabuisierung der Linkspartei allein bei SPD-Wählern einen Vertrauenstatbestand schaffen können. Nur sie könnten sich düpiert fühlen. Wie sie sich im Übrigen bei offener Kooperationsaussage verhalten hätten, bleibt reine Spekulation.

Doch dessen ungeachtet hätte die SPD nach der Wahl nicht der Frage ausweichen können, wie sie mit der nunmehr veränderten Geschäftsgrundlage umgeht. Steht sie für ihr Wahlprogramm ein, ist dies nur in Zusammenarbeit mit den Grünen und der Linkspartei möglich. Verzichtet sie auf Unterstützung durch die Linke, bedeutet dies zwangsläufig die Preisgabe des Programms. Weder aus der Opposition noch im Bündnis mit FDP oder CDU lassen sich die Ziele der hessischen SPD verwirklichen. Wer Gefallen daran findet, die Wortbruch-Keule zu schwingen, hätte allen Grund, hier anzusetzen. Eine SPD, die sich etwa an die Rockschöße der hessischen FDP hängt, gibt substanzielle Elemente sozialdemokratischer Wahlaussagen preis.

Doch dieser potentielle Wortbruch wurde in der öffentliche Debatte nicht thematisiert. Stattdessen erlebten wir einen veritablen Kreuzzug der Aufrichtigen. Keine Talkshow, die sich nicht inmehrfacher Wiederholung und in aller Inbrunst des Themas angenommen hätte. Keine Zeitung, in der sich nicht die Produzenten von Schlagzeilen und Kommentaren in Lautstärke und Heftigkeit der moralischen Verdammnis überboten hätten. Was nach so mancher Wahl üblich ist, nämlich wahlkampfbedingte Koalitionsaussagen zu revidieren, lieferte den Stoff für eine moralisch aufgelandene Glaubwürdigkeitskampagne, in der am Ende ganz im Stile eines schlechten Lehr- und Rührstücks der Schurkin die Lichtgestalt Dagmar Metzger aus Darmstadt entgegentrat.

Die Frage drängt sich auf: Was eigentlich ist das Besondere daran, dass Kurt Beck und Andrea Ypsilanti eine historische Sekunde lang mit dem normalsten aller Gedanken spielten, ihr Programm mit der möglichen parlamentarischen Mehrheit umzusetzen? Was hat die Medien in einen Alarmismus versetzt, wie wir ihn lange nicht mehr erlebt haben? Selbst Altbundespräsident Roman Herzog hat sich zu Wort gemeldet und vorgeschlagen, das Wahlrecht zugunsten einer Mehrheitswahl zu ändern. Das Fünfparteiensystem, auf das die Republik zusteuert, zwinge dazu. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ein Fünfparteiensystem würde Herrn Herzog nicht in Unruhe versetzen, wäre nicht die fünfte Partei die Linke.

Damit sind wir beim entscheidenden Punkt. Mit der Linkspartei hat sich inzwischen eine Partei auch parlamentarisch etabliert, die den marktliberalen Grundkonsens der übrigen vier Parteien stört und die eine mehrheitliche Stimmung in der Bevölkerung zu Wort und womöglich zu Bewusstsein kommen lässt. Ja, mit Ypsilantis SPD stand zumindest in Hessen ein Richtungswechsel an, der sich jenem Vier-Parteien- Konsens nicht bruchlos eingefügt und ihn womöglich auf längere Sicht gefährdet hätte. Das Programm eines marktradikalen Umbaus der Gesellschaft einschließlich politisch gewollter sozialer Ungleichheit lässt sich jedenfalls mit zentralen Wahlaussagen derhessischen SPD nicht ohne weiteres in Einklang bringen. Eine nicht nur rechnerische, sondern auch handlungsbereite linke Mehrheit im Wiesbadener Parlament musste daher Anstoß erregen, nicht wegen der Beteiligung der Linkspartei, sondern angesichts eines womöglich über Hessen hinausweisenden Richtungswechsels. Dies gilt erst recht angesichts des Umstands, dass die parlamentarische Mehrheit sich in wichtigen Fragen mit der mehrheitlichen Stimmung in der Bevölkerung deckt.

Eine solche Perspektive galt es offenkundig zu verhindern. Nicht dass wir Verschwörungstheorien aufsitzen. Doch in den Medien herrscht seit Jahren ein Grundkonsens, dass in Zeiten der Globalisierung, der vermeintlichen Überalterung und des internationalen Terrorismus etc. die von Rot-Grün mit Macht begonnene Politik nicht in Frage zu stellen ist. Nur so sind die regelmäßigen Durchhalteparolen an die Adresse der SPD zu verstehen, trotz Mitglieder- und Wahlverlusten vom einmal eingeschlagenen Kurs nicht abzugehen. Nur so ist die Aufregung zu verstehen, die der letzte Parteitag der SPD in so bescheidenen Fragen wie ALG-I-Bezugsdauer und Bahnprivatisierung verursacht hat. Und daher die Warnungen vor einer linken Mehrheit, einschließlich der Tolerierung durch die Linkspartei. Dass dabei parlamentarische Mehrheiten nichts gelten und die Wähler veralbert werden, stört nicht. Feine Demokraten!

In Hessen ist die Immunisierungsstrategie gegen Links vorerst aufgegangen. Auch mit Hilfe der Seeheimer, Netzwerker und anderer Kanalarbeiter. Sie werden - auf dem letzten Parteitag in der Minderheit - in den Medien beinahe mit dem Monopol bedient, für die wahre SPD und das gute Gewissen zu sprechen. Sie dürften Überzeugungstäter sein. Wolfgang Clement hatÂ’s vor der Wahl demonstriert und aus seiner Ablehnung des hessischen Kurses der eigenen Partei keinen Hehl gemacht. Der rechtssozialdemokratische Abscheu gegen die Linkspartei dürfte echtumsein. Immerhin sind Existenz und Erfolg der linken Konkurrenz eine tägliche Provokation für das Selbstverständnis vieler sozialdemokratischer Mandatsträger. Seit Jahren haben sie sich gegen die Mehrheit der Mitglieder wie der Wähler auf die Unantastbarkeit der Agenda-Politik eingeschworen - als sei sie ein Teil des Grundsatzprogramms. Wer aber lässt schon gerne die Frage an sich heran, ob sein politisches Wirken der letzten Jahre voll in die falsche Richtung gegangen ist? Auch deshalb braucht die Linke einen langen Atem.

Das Ende ist ein Scherbenhaufen. Die Mehrheit in Hessen ist verspielt. DieSPD wird weiter Mitglieder und Wähler verlieren. Die Wahlverlierer in Wiesbaden triumphieren und regieren. Womöglich kommt es gar zum konservativen Bündnis mit den Grünen - wetten, dass Anne Will und Frank Plasberg dazu keine Wortbruch-Runde veranstalten? Mit einem solchen Bündnis würde der sozialdemokratische Sieg vollends in eine Niederlage verkehrt, und zwar auf längere Dauer. Der SPD wäre das Kunststück gelungen, nicht nur standhaft die Distanz zur Linkspartei zu wahren, sondern auch einen eigenen Bündnispartner zu verabschieden. Gratulation!
Kommentare und Berichte - Ausgabe 04/2008 - Seite 5 bis 7