Eine derartige Präsenz hat die Bundeskanzlerin in den bald zehn Jahren ihrer Regentschaft noch nicht erlebt: erst ihr engagierter Versuch der Beilegung der Ukrainekrise, dann der Poker mit der neugewählten Regierung von Alexis Tsipras um einen Schuldennachlass und den Verbleib Griechenlands in der Eurozone. Kein Zweifel: Angela Merkel ist die dominierende Figur der Europäischen Union. Umso mehr taucht bei vielen Bürgern, aber auch Staaten die argwöhnische Frage auf: Wer regiert heute die EU?
Eigentlich wollte Jean-Claude Juncker mit seiner neuen EU-Kommission Berlin ja die Führung streitig machen. Juncker konzipierte sie bewusst als „politische Kommission“, die vor allem in der Wirtschaftspolitik den Ton angeben soll. Mit der Ankündigung eines milliardenschweren Investitionsprogramms setzte er schon in den ersten hundert Tagen eine erste Marke gegen den Merkelschen Austeritätskurs. Doch so sehr Juncker seinen politischen Gestaltungswillen betont, so sehr ist er sich auch der Grenzen seiner Macht bewusst.
Denn: Brüssel wird heute stärker von deutschen Interessen und Strategien geprägt denn je. Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat Deutschland die Schlüsselposten in den EU-Institutionen erobert und Strukturen geprägt, die auch die selbstbewusste Juncker-Kommission binden. Europa spricht heute nicht nur deutsch, wie CDU-General Volker Kauder schon 2011 proklamierte. Es denkt und handelt mittlerweile auch deutsch, nach in Deutschland geprägten Modellen und Regeln. Doch diese Regeln haben der EU bisher weder Wachstum noch Stabilität gebracht. Sie tragen daher auch den Keim des Widerspruchs und des Scheiterns in sich.
Deutsche überall an der Spitze
Die deutsche Dominanz beginnt bereits bei der EU-Kommission. Heute steht der Kommissionspräsident einer Behörde vor, die so deutschlastig ist, wie nie zuvor. Das fängt schon bei den Kabinetten an – also in jenen politischen Abteilungen der Brüsseler Behörde, in denen die EU-Gesetzgebung ihren Anfang nimmt. In fast allen Kabinetten der 27 Fachkommissare ziehen mittlerweile Deutsche die Strippen. 31 deutschen Beratern im „Team Juncker“ stehen nur noch 21 Franzosen und 18 Briten gegenüber. Aus Luxemburg – immerhin Junckers Heimat – kommen nur acht. Früher landeten die Deutschen nur auf Platz drei, hinter Briten und Franzosen. Heute geben sie den Ton an.
Beeindruckend ist die deutsche Präsenz auch bei den Kabinettschefs. Neben Juncker haben sich noch drei Kommissare (Günther Oettinger, Veˇra Jourová, Neven Mimica) für Deutsche entschieden. Weitere fünf Kommissare haben deutsche Vizechefs – darunter Währungskommissar Pierre Moscovici und Außenvertreterin Federica Mogherini. Damit ist Berlin auch in diesen strategischen Ressorts bestens „vernetzt“. Zwar dienen die deutschen Berater und Stabschefs nicht als „Statthalter“ Deutschlands – dies wäre eine allzu simple Sicht der Dinge. In der Regel haben sie eine europäische Karriere durchlaufen und fühlen sich ihren Kommissaren mehr verpflichtet als der Bundesregierung. Zu ihren Aufgaben gehört es jedoch auch, den Draht nach Berlin zu halten – um mögliche Konflikte mit dem wichtigsten EU-Mitglied von vornherein zu minimieren.
Das Parlament der Deutschen
Ganz ähnlich sieht es in den beiden anderen großen EU-Institutionen aus, im Parlament und im Rat. Im Europaparlament besetzen Deutsche alle wichtigen Schlüsselposten: Martin Schulz (SPD) ist Parlamentspräsident, Klaus Welle (CDU) ist Generalsekretär und Manfred Weber (CSU) führt die größte und wichtigste Fraktion, die konservative EVP. Auch in den für die EU-Gesetzgebung entscheidenden Ausschüssen geben Deutsche den Ton an. Sie führen fünf der insgesamt 20 Ausschüsse, so viel wie kein anderes EU-Land.
Damit hat sich Deutschland in der legislativen Arbeit von Kommission und Parlament eine herausragende Stellung gesichert. Gesteuert wird die deutsche Mehrheit genau wie in Berlin von einer großen Koalition, die außer von EVP-Chef Weber auch von Parlamentspräsident Schulz getragen wird. Offiziell wird die sozialdemokratische Gruppe zwar von dem Italiener Gianni Pittella geleitet; in der Praxis mischt sich Schulz aber immer wieder ein und stellt so sicher, dass die Große Koalition in Brüssel und Berlin funktioniert.
Schulz kommt damit, genau wie Juncker, eine wichtige Scharnierfunktion im Brüsseler Betrieb zu. Obwohl sich beide EU-Präsidenten verbal gern von Kanzlerin Merkel absetzen, sind sie im politischen Alltagsgeschäft doch auch stets darauf bedacht, Reibungsverluste zu reduzieren und somit letztlich die deutsche Agenda zu bedienen. Das erklärt, warum es Juncker so schwerfällt, sich politisch zu profilieren und von Merkel abzusetzen. Es erklärt aber auch, warum er (noch) so großen Rückhalt in Berlin hat.
»Alle warten darauf, was die Deutschen sagen«
Im Ministerrat und im Europäischen Rat (dem „EU-Gipfel“) gelten andere Regeln; hier gibt es keine große Koalition und keine deutsche Dominanz. Doch auch im „Justus Lipsius“, dem Brüsseler Ratsgebäude, gibt Berlin in einem Maße den Takt vor, dass es selbst deutschen Diplomaten manchmal unangenehm wird. „Alle warten darauf, was die Deutschen sagen“ – so beschreiben Insider die Lage im Rat. Ohne oder gar gegen Merkel gehe gar nichts mehr. Dabei sollte doch eigentlich der Ratspräsident den Weg weisen.
Doch dazu war schon Herman Van Rompuy nicht in der Lage; der mittlerweile ausgeschiedene Ratspräsident verstand sich eher als Sherpa der Chefs denn selbst als ein solcher. Von seinem Nachfolger Donald Tusk wird da schon mehr erwartet; vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik will der Pole eigene, möglichst starke Akzente setzen. Dass er sich mit Merkel anlegen wird, erwartet in Brüssel indes niemand. Schließlich war es die deutsche Kanzlerin, die sich von Anfang an für Tusk stark gemacht hat.
Beide verbindet nicht nur eine politische Freundschaft, sondern auch eine Sprache: deutsch. Tusk beherrscht das Deutsche besser als die in Brüssel vorherrschenden EU-Amtssprachen Englisch und Französisch. Dies dürfte auch den Umgang mit Uwe Corsepius erleichtern, dem Generalsekretär des Rats. Corsepius war früher im Kanzleramt für die Europapolitik zuständig und hat als erste Amtshandlung in Brüssel Merkels damals noch heftig umstrittenen Fiskalpakt umgesetzt. Seitdem läuft alles reibungslos – im deutschen Sinne.
Gut läuft auch die Zusammenarbeit mit anderen EU-Institutionen wie der Europäischen Investitionsbank (EIB) und dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Beide sind in Luxemburg ansässig und werden von Deutschen geführt. In der EIB sorgt der FDP-Politiker Werner Hoyer dafür, dass das von Kommissionschef Juncker geplante Investitionsprogramm nach deutschen Wünschen abgewickelt wird. Und im ESM wacht der CDU-nahe Klaus Regling über Disziplin in den Krisenländern, also auch und nicht zuletzt in Griechenland.
Auch bei der neuen Bankenunion spielt eine Deutsche eine Hauptrolle: Die bisherige Präsidentin der Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin, Elke König, übernimmt die Leitung des im Krisenfall zentralen Abwicklungs-Mechanismus SRM. Damit werden die drei wichtigsten Institutionen zur Lösung der Finanzkrise von Deutschen gesteuert. Nur in der Europäischen Zentralbank kann sich Deutschland bisher nicht durchsetzen. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann – ein ehemaliger Merkel-Berater – ist sogar in der Minderheit.
Aus deutscher Sicht erweist es sich nun als Handicap, dass die EZB nach dem Vorbild der Bundesbank gestaltet wurde – als politisch unabhängige und föderal organisierte Einrichtung. Allerdings muss auch EZB-Präsident Mario Draghi Rücksicht auf deutsche Befindlichkeiten nehmen. So hat er das umstrittene neue Anleihen-Kaufprogramm („Quantitative Easing“) so angelegt, dass der Bundesbank dabei eine zentrale Rolle zukommt und Deutschland zumindest nicht sofort für andere Euroländer haften muss.
Insgesamt hat es die Bundesregierung verstanden, sich in den EU-Institutionen eine zentrale Rolle zu sichern. Die alte Klage über einen „pro-französischen Bias“ in Brüssel hat sich erledigt; die deutsche Personalpolitik hat ganze Arbeit geleistet. Fast alle strategisch wichtigen Positionen werden heute von Deutschen besetzt, was verständlicherweise nicht überall auf Begeisterung stößt. Der britische „Economist“ machte sich über die „teutonische Union“ lustig und die französische „Libération“ warf Merkel vor, im Alleingang das „Casting“ zu bestimmen.
Seine besondere Wirkung entfaltet dieses Casting dadurch, dass einige Hauptrollen gerade nicht Deutschen vorbehalten sind, sondern der Bundesregierung besonders nahestehende Politiker wie Tusk oder Juncker. Was eigentlich eine europäische Selbstverständlichkeit sein sollte, hat im „deutschen Europa“ eine entlastende Funktion: Eine allzu offensichtliche Dominanz wäre deutschen Interessen abträglich. Gleichzeitig sind alle EU-Akteure – nicht nur die deutschen – in einen regulatorischen Rahmen eingebunden, der sie objektiv zu Schachfiguren im „deutschen Europa“ macht.
Deutsche Regeln
Denn: Fast alle EU-Regeln der letzten Jahre tragen eine deutsche Handschrift. Das fängt schon beim Lissabon-Vertrag an, dem bis heute gültigen Primärrecht der EU. Er wurde nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags bei den Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden aufgelegt – mit der so genannten Berliner Erklärung im Jahr 2007, unter deutschem EU-Vorsitz. Er sichert Deutschland unter anderem ein größeres Stimmgewicht in der EU; die früher übliche Parität mit Frankreich oder Großbritannien ist passé.
Im Zuge der Eurokrise wurde der Lissabon-Vertrag um die Fiskalunion und um die Bankenunion ergänzt – wiederum nach deutschen Vorstellungen. Die Fiskalunion macht eine Schuldenbremse nach deutschem Vorbild für alle Eurostaaten zur Pflicht, die Bankenunion enthält weitreichende Ausnahmen für deutsche Geldinstitute. Auch der Euro-Rettungsfonds ESM wurde weitgehend nach deutschen Vorgaben ausgestaltet. Die „Feuerkraft“ wurde begrenzt und die Inanspruchnahme an strikte Bedingungen geknüpft.
Schließlich machte sich die Bundesregierung für eine restriktive Economic Governance der Eurozone stark – wiederum mit Erfolg. Während die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, die viele Experten für die Eurokrise mitverantwortlich machen, eine Art Generalabsolution erhielten, werden Defizite nun strenger geahndet. Mit „Six Pack“, „Two Pack“ und dem Europäischen Semester wurde die Budgetpolitik der Eurostaaten in ein enges Korsett gepresst, das kaum noch Raum für eine antizyklische Politik lässt.
Während es der Bundesregierung auf diese Weise gelang, die Krisenländer auf eine „wachstumsfreundliche Konsolidierung“ und die „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ zu verpflichten, scheiterten Frankreich und andere Staaten weitgehend mit ihren Vorstößen. Präsident Francois Hollande konnte den Fiskalpakt nicht, wie vor seiner Wahl versprochen, neu verhandeln und auch keinen echten Wachstumspakt schließen. Beide Vorstöße scheiterten am Widerstand Deutschlands; darunter leidet die Eurozone bis heute.
Berlin hat zudem den Investitionsplan von Kommissionschef Juncker ausgebremst. Die Bundesregierung verhinderte, dass dieser auf ungenutzte Mittel des ESM zugreifen kann. Sie versucht, die Regeln so zu setzen, dass die Investitionen nicht politisch gesteuert werden können. Allerdings ist das letzte Wort über den Juncker-Plan noch nicht gesprochen. Vor allem das Europaparlament versucht, den Plan in eine groß angelegte Wachstums-Initiative umzudefinieren. Mit Ergebnissen wird jedoch nicht vor Juni gerechnet.
Festhalten lässt sich dagegen schon jetzt, dass die EU heute im Wesentlichen nach deutschen Regeln funktioniert und auch weiter funktionieren wird – selbst unter der neuen EU-Kommission. Allerdings ist diese Regulierung weniger offensichtlich als die massive Präsenz deutscher Berater und Politiker in Brüssel. Die EU-Regeln haben keine deutschen Namen und keine deutschen Pässe. Juncker und seine Kommissare folgen ihnen, ohne dass Kanzlerin Merkel nachhelfen müsste. Wenn man so will, sind sie in die europäische DNA eingeschrieben.
Wer regiert also die EU? Letztlich ist diese Frage falsch gestellt. Das „deutsche Europa“ braucht keine Regierung, um sich durchzusetzen. Es hat sich mithilfe von Personen in Institutionen und Regeln konstituiert – weit über das hinaus, was etwa Ulrich Beck vorauszusehen vermochte. Der „Merkiavellismus“, den Beck einst anprangerte, hat in gewisser Weise ausgedient. Die Kanzlerin hat es nicht mehr nötig, alle gegeneinander auszuspielen – sie lässt sie für sich spielen.
Allerdings handelt es sich nicht um ein geschlossenes, konsistentes System. Die doppelte große Koalition, die das „deutsche Europa“ trägt, ist in sich widersprüchlich und wird nicht ewig halten. Das gilt für Schwarz-Rot in Berlin ebenso wie in Brüssel. Juncker und Schulz, die diese Koalition auf europäischer Ebene zusammenhalten, haben bestenfalls ein Bündnis auf Zeit geschmiedet. Auch im Rat ist die deutsche Dominanz nicht gesichert. Frankreich und Italien versuchen bereits seit einiger Zeit, ein Gegengewicht zu bilden. Die neue Regierung in Griechenland sorgt auch hier für zusätzliche Unruhe.
Am Ende wird das „deutsche Europa“ also nicht primär von Personen, sondern von Regeln zusammengehalten – genau so, wie es die ordoliberale Denkschule fordert. Doch diese Regeln haben Europa weder Wachstum noch Stabilität gebracht. Sie sind deshalb brüchig, ergänzungsbedürftig oder sogar hinfällig. Zudem werden sie längst nicht mehr von allen EU-Ländern anerkannt, im Gegenteil: Griechenland, aber auch Großbritannien und Ungarn fordern sie mehr oder weniger offen heraus. Kurzum: Das „deutsche Europa“ ist heute stärker denn je – und gleichzeitig angreifbarer denn je.
(aus: »Blätter« 3/2015, Seite 5-8)