Perspektiven und Signale

Gewerkschaften und soziale Bewegungen beraten gemeinsam

Rund 2.000 Menschen trafen sich vom 14. bis 16. Mai in den Räumen der Technischen Universität in Berlin zu einem Perspektivenkongress.

Nach den Großdemonstrationen vom 1. November 2003 und 3. April 2004 wollte man sich über weitere Perspektiven der Proteste gegen die Agenda 2010 und gegen die Polarisierung in der Gesellschaft austauschen und Verabredungen für die zukünftige Zusammenarbeit treffen. Mögliche Alternativen zur Markt- und Wettbewerbsideologie sollten gefunden werden. Manche wollten mehr. Von gewerkschaftlicher Seite gehörten neben ver.di noch die IG Metall und die IG BAU zum Vorbereitungskreis des Kongresses. Der Trägerkreis umfasste rund 70 weitere Organisationen von attac über medico international bis zum Sozialverband Deutschland, kirchlichen Gruppen Umweltorganisationen und Erwerbsloseninitiativen. Allein die Zusammensetzung des Kreises wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Der Kongress stellte den ersten größeren Versuch dar, FunktionärInnen der mittleren und Führungsebene von Gewerkschaften mit ebensolchen der beteiligten Organisationen sowie mit AktivistInnen der sozialen Bewegungen ins Gespräch zu bringen. Ein Versuch, der nicht wichtig genug eingeschätzt werden kann; geht es den beteiligten Gewerkschaften doch darum, strategische Antworten auf den historischen Bruch der Sozialdemokratie mit den Gewerkschaften zu finden. Dabei sollte man sich nicht der Hoffnung hingeben, dass dieses Vorgehen der Vorsitzenden Bsirske (ver.di), Peters (IG Metall), Wiesehügel (IG BAU) in ihren Organisationen unumstritten ist. Es gibt dort vielmehr relevante Kräfte, die eine Öffnung hin zu den sozialen Bewegungen und ihren Themen für absolut schädlich halten; statt dessen wollen sie den "Modernisierungskurs" konsequent mitgehen und die Rolle als Ordnungsfaktor im Kapitalismus oder als "ideologischer Staatsapparat" (Althusser) voll ausfüllen.

Radikaler Reformismus ...

Dieser Strategiekonflikt innerhalb der beteiligten Gewerkschaften ist ebenso offensichtlich wie die Offenheit in Teilen des Funktionärskörpers, andere Antworten als die (neo-)sozialdemokratischen zu finden, neue Wege zu ihrer Durchsetzung zu beschreiten und bislang links liegen gelassene Kräfte zur Zusammenarbeit einzuladen. Dieses Angebot erweitert die Handlungsmöglichkeiten linker Politik. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auch wenn es kaum möglich ist, die Debatten in rund 130 Workshops auf einen Nenner zu bringen - die Gemeinsamkeit bestand vor allem in der Ablehnung der herrschenden Politik der "rotgrüngelbschwarzen neoliberalen Einheitspartei" bzw. im Willen, der "neoliberalen Konterrevolution" (Bsirske) Alternativen entgegenzusetzen. Bei den Inhalten gibt es jedoch erhebliche Differenzen, die Roland Roth (Fachhochschule Magdeburg) in der Abschlussdiskussion mit folgender Frage auf den Punkt brachte: Geht es in Zukunft um die Verteidigung des Sozialstaates oder um einen radikalen Reformismus, also um Alternativen, "die z.B. weniger herrschaftlich-bürokratisch und erwerbsarbeitszentriert sind?" (1) Die Spannbreite der offenen Fragen spiegelte sich, so Roth, auch in der Vielfalt der Workshop-Themen wider. "Sie reicht von einer Verständigung über den Umgang mit dem neuen Arbeitslosengeld II am 1.1.2005 bis zur Institutionalisierung transnationaler sozialer Rechte, die einen weitgehenden Umbau der bestehenden Weltwirtschaftsordnung voraussetzt, will man auch nur das Versprechen der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und der dort garantierten sozialen Rechte einlösen. Eine Kampagne gegen die Steuerflucht oder ein politisch und ethisch motivierter Boykott von Markenfirmen setzen eine geringere Veränderungstiefe voraus als die Forderung nach einem auskömmlichen bedingungslosen Existenzgeld für jede und jeden oder einer grundlegenden Neubewertung der verschiedenen Formen gesellschaftlicher Arbeit, die schon aus ökologischen und aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit so bedeutsam ist."

... oder zurück zum Sozialstaat?

Die vorherrschende Position, da sollte man sich keine Illusionen machen, war jedoch der national- und sozialstaatlich gezähmte Nachkriegskapitalismus, wie er in den vom verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske auf dem Abschlusspodium formulierten konkreten Arbeitsschwerpunkten der nahen Zukunft Gestalt annahm: Vorgeschlagen wurden Aktivitäten für eine Erhöhung der Steuern für Vermögende und die Stärkung der kommunalen Finanzsituation; die Verhinderung von Arbeitszeitverlängerungen; Streichung der Zumutbarkeitsregelungen für Erwerbslose und Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes und Grundeinkommens; den Aufbau eines Sozialforums in 2005. Dazu soll ein erstes Vorbereitungstreffen am 17./18. Juli in Frankfurt/Main stattfinden. Die IG Metall hat, wie von Peters auf dem Kongress angekündigt, am 1. Juni ein "Arbeitnehmerbegehren für eine soziale Politik" mit einer ähnlichen Stoßrichtung gestartet. (2) Bei aller Begrenztheit der Maßnahmen und Forderungen war der Perspektivenkongress keine Alibiveranstaltung, sondern Teil einer Kette von Aktivitäten im innergewerkschaftlichen Transformationsprozess, an deren Ende durchaus ein neuer "historischer Block" aus sozialen Bewegungen und re-mobilisierter Gewerkschaftsbewegung stehen kann. Dies vorschnell als Formierung eines neo-sozialdemokratischen Blocks abzutun, hieße die Möglichkeiten linker und linksradikaler Intervention auszuschlagen. Denn der Kongress war nicht nur ein deutliches Signal an die politisch Verantwortlichen; er hatte auch die Funktion, Signale an Kräfte außerhalb der Gewerkschaften, vor allem aber in die Gewerkschaftsapparate selbst, zu senden. Georg Wißmeier Anmerkungen: 1) Unter dem Titel: "Alternativen, für die es sich zu streiten lohnt" sind die vollständigen Thesen von Roland Roth im labournet zu lesen unter: http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/alternativen.pdf 2) www.arbeitnehmerbegehren.de oder über www.igmetall.de aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 485 / 18.06.2004