Gespräch zum Verhältnis zwischen Ombudschaft und Selbstorganisation in der Kinder- und Jugendhilfe

MM: Das Spannungsverhältnis, über das ich mich mit Dir unterhalten will, ist das zwischen der nun mittlerweile auch gesetzlich verankerten Ombudschaft in der Kinder- und Jugendhilfe auf der einen Seite und der Beförderung der Selbstorganisation Heranwachsender auf der anderen Seite. Als Redaktion war uns wichtig, dieses Spannungsverhältnis auch vor dem Hintergrund Deiner fundierten historischen Kenntnisse etwas zu sondieren und zu beurteilen.

 

MW: Also zunächst mal muss ich ganz offen gestehen, dass ich diese Diskussion um Ombudschaft hier in Deutschland nur am Rande verfolgt habe. Ich habe sie in Österreich sehr stark mitbekommen, wo dies schon sehr viel länger Thema war: Dort allerdings vornehmlich in Fragen des Kinderschutzes und der Hilfen zur Erziehung. Die Frage der Selbstorganisation ist da jedoch, soweit ich mich erinnere, gar nicht größer diskutiert worden. Grundsätzlich finde ich, ist da von vornherein ein Spannungsverhältnis insofern gegeben, als man sich darüber im Klaren sein muss, dass Ombudschaft, auch wenn sie sich distanziert gegenüber den klassischen Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe situiert sehen will, im Prinzip eigentlich einen Eingriff in Formen der Selbstorganisation darstellt. Also es gibt nur einen Bereich in der Kinder- und Jugendhilfe, der sich davon hat frei machen können: Das ist interessanterweise die Vormundschaft, wenn sie von Erwachsenen übernommen wird, die eher distanziert gegenüber den unmittelbar pädagogisch wirkenden Fachkräften in einer Einrichtung oder im Jugendamt agieren und damit ein besonderes Verhältnis zu den Kindern und Jugendlichen finden können. 

Zu bedenken ist andererseits, dass in den fortgeschrittenen, liberalen, individualisierenden Gesellschaften so etwas wie Selbstorganisation eher schwierig geworden ist. Und das hängt nicht zuletzt mit den Formen von digitaler Kommunikation zusammen. Sie kann zwar Selbstorganisation unterstützen und befördern. Die Jugendlichen und auch schon Kinder organisieren sich und ihr Leben über soziale Medien und gleichwohl grenzen sie sich damit auch wiederum ein, weil der unmittelbare Erfahrungszusammenhang des Treffens und sich selbst bezüglich gemeinsamer Unternehmungen zu organisieren darüber nur allzu oft in den Hintergrund tritt. Vor diesem Hintergrund halte ich es eher für schwierig, dass Formen von Ombudschaft helfen können, dass Kinder und Jugendliche sich selbst organisieren und sie haben sicher auch einen gewissen Kanalisierungseffekt. Aber man muss das wohl in einer Art und Weise sehen und bewerten, dass alles, was in irgendeiner Weise mit Sozialpädagogik zu tun hat, immer ambivalent ist. Es hat immer zwei Tendenzen. Es kanalisiert und es kann ermächtigen.

 

MM: Meiner Kenntnis nach sind Ombudsstellen in den verschiedenen Bundesländern recht unterschiedlich organisiert und aufgestellt. Zu deren Aufgaben gehört ja auch, die Selbstorganisation der Nutzenden zu unterstützen. Aber das geht wohl nur, wenn sie sich schon organisiert haben. Denn als Ombudsstelle können sie nicht mal eben nebenbei deren Selbstorganisation anregen oder gar sozialpädagogisch begleiten im Sinne Makarenkos (1982: 79) Pädagogik als Kunst des Perspektivenentwickelns von der „nahen Perspektive“, über die „mittlere Perspektive“ kollektiver Selbstorganisation, bis hin zur „weiten Perspektive“ einer partizipativen Ausgestaltung von Gesellschaft. Eine solche sozialpädagogische Arbeit zur Stützung von Selbstorganisation kann eine Ombudsstelle so gar nicht leisten. Und die Frage ist, ob nicht im Gegenteil durch die Einrichtung solcher Ombudsstellen dieser Anspruch, von dem ich nicht einmal weiß, ob er überhaupt noch in einem relevanten Maße im Bewusstsein der Fachkräfte ist, in der Kinder- und Jugendhilfe, vor allem aber der Heimerziehung gleich ganz aufgegeben wird nach dem Motto: Wir haben ja jetzt die Ombudsstelle, die advokatorisch die Interessen der Heranwachsenden vertritt.

 

MW: Erstmal ganz banal: Die Praxis der Ombudsstellen ist für mich noch kaum wahrnehmbar. Wenn ich den Fachkräftemangel in den Bereichen der Sozialen Arbeit in Betracht ziehe, befürchte ich, dass die Ombudsstelle nicht mehr als ein Türschild ist und diejenigen, die diese Funktion wahrnehmen sollen, dauernd mit anderen Aufgaben überlastet sind, dass also von Seiten der Politik und von Seiten der Verwaltung ein Etikett aufgenommen worden ist, das toll klingt und sich vielleicht irgendwo mit Partizipation zusammenfügen lässt. Die zweite Seite ist: Wir haben ja verschiedene Formen von Selbstorganisationen von Jugendlichen. Beginnend etwa in der kirchlichen Arbeit, die wir überhaupt nicht unterschätzen dürfen. In der offenen Jugendarbeit entstehen unvermeidlich immer wieder Vorhaben kollektiver Selbstorganisation. Und wir haben einen riesigen Bereich, den wir nicht aus den Augen verlieren sollten, wo Kinder, Jugendliche sich selbst organisieren, aber im Blick auf Aufgabenstellungen hin: zum Beispiel die Freiwillige Feuerwehr, in der gerade im ländlichen Bereich sich Jugendliche engagieren. Eine Zeit lang wurde befürchtet, dass die Ganztagsschulen das zerstören könnten. Aber das scheint nicht der Fall zu sein. So ist die Freiwillige Feuerwehr inzwischen in den Ganztagsschulen durchaus präsent. Und man kann beobachten, dass da sogar Kinder und Jugendliche erreicht werden, die über längere Zeit als nicht erreichbar gegolten haben: Kinder aus Migrationsfamilien. Andererseits sind die Kinder und Jugendlichen in solche Organisationen ja vor allem deshalb eingebunden, weil der Zweck familiär oder in der Gemeinde immer schon präsent war. Bezüglich der Ombudsstellen befürchte ich, dass diese neue Instanz sich darauf reduziert, dass Bericht erstattet werden muss. 

Im Hinblick auf die klassischen Modelle, die du angesprochen hast, gerade auf Makarenko, gibt es ja diese wunderschöne Studie von Martin Kamp über die Kinderrepubliken, wo er Makarenko vorwirft, der wäre völlig undemokratisch gewesen im Unterschied zu Korczak beispielsweise und anderen (Kamp 1995: 467ff.). Zu bedenken ist allerdings, dass viele dieser Formen der Selbstorganisation aus extremen Krisensituationen heraus entstanden sind, die wir uns in dieser Form wahrscheinlich nicht einmal richtig vorstellen können. Bleiben wir mal bei Makarenko: Nach der Revolution in Russland und der Entstehung der Sowjetunion nach dem ersten Weltkrieg waren Abermillionen von Kindern und Jugendlichen unterwegs, unterversorgt, immer auch in der Tendenz, kriminell sein zu müssen, was damals mit dem Ausdruck „verwahrlost“ bezeichnet wurde. Die Kinder und Jugendlichen waren schlicht und einfach verhungert und zwar nicht nur materiell, sondern auch geistig und sozial. Sie waren im Überlebenskampf. Daraus sind diese Kolonien entstanden, die Makarenko geführt hat, in denen er vor allem zweierlei realisiert hat: Nämlich einmal eine Form des sozialen Miteinanders, was er vergleichsweise hart organisiert hat, weil es ihm darum ging, das Überleben zu sichern. Und er hat sie hart organisiert, weil er eine Einsicht gehabt hat, dass in sozialer Selbstorganisation auch immer Hierarchien und Machtprozesse entstehen. Deshalb mussten die Anführer der Arbeitsgruppen wechseln. Und er hat es hinbekommen, dass sich nicht Subkulturen in Verbindung mit entsprechenden Unterdrückungsstrukturen ausgebildet haben. Und das Zweite ist, dass er den Kindern gezeigt hat, dass sie aus ihrer Situation herauskommen können, eine andere Perspektive entwickeln können: die von Dir angesprochene pädagogische Kunst des Perspektivenentwickelns. Das ist eigentlich ein altes pädagogisches Konzept. Wichtig aber war, dass er auf diese Weise den kollektiven Zusammenhang überhaupt erst begründen musste, weil, und das ist das systematische Merkmal, es ja so etwas, wie eine basale Sozialität, auf die man sich hätte stützen können, gar nicht gegeben hat. 

Ähnlich gelagert ist dies bei Janusz Korczak (1996-2005). Auch da eine dramatische Situation, die wir uns nicht vorstellen können. Man muss sich ja immer wieder vergegenwärtigen, dass die Nazis, die deutschen Faschisten, die jüdische Bevölkerung da zusammengetrieben hat und eigentlich verhungern lassen wollte. In dieser Extremsituation ging es zunächst einmal um Selbstversorgung. Um so etwas wie Sozialität herzustellen, hat Korczak auf die Kindergerichte und die Kindergesetzgebung gesetzt, mit allen übrigens sehr barbarischen Prozessen, die sich mit solchen Formen von Kinderselbstregierung verbinden. Gruppenprozesse können immer auch hochgradig fatal exkludierend wirken. 

Einen Dritten, der zu nennen wäre im 20. Jahrhundert, ist Karl Wilker (1989), der im Lindenhof in eine Anstalt hineingekommen ist, die permanent überbelegt war. Statt 200 Kindern sind da 1200 im Jahr durchgeschleust worden. Auch da wieder diese materielle Seite und die Seite der guten sozialen Erfahrung, die er zu ermöglichen suchte in – so nenne ich das ja immer ganz gern – der „Aneignung des Ortes“. Wobei: man muss dazu sagen, diese Formen von Selbstorganisation finden sich auch schon früher. Es gibt Hinweise darauf zum Beispiel nach dem 30-jährigen Krieg bei Comenius. Es ist immer so ein Anknüpfen an etwas, was sich zeigt, um es aufzunehmen und in pädagogische Prozesse zu überführen: Das heißt schützende Räume und Lernräume sicherzustellen, um Perspektiven zu entwickeln. Dies lässt sich historisch immer wieder nachzeichnen in extremen gesellschaftlichen Bruchsituationen. 

 

MM: Da würde ich gerne einhaken: Also meine These wäre, dass eigentlich genau diese Situation das ermöglicht hat. Brecht (1976) lässt ja seine Mutter Courage ein „Lob der dritten Sache“ singen, die sie mit ihrem Sohn eint. Das ist wie bei Makarenkos „weiter Perspektive“ der Kommunismus. Aber das viel naheliegendere „gemeinsame Dritte“ in all den von Dir angesprochenen Fällen zwischen Heranwachsenden und pädagogisch Tätigen war das Dach über dem Kopf oder das „Fressen“, um noch einmal mit Brecht zu sprechen, für das sie gemeinsam sorgen mussten. Das ist ein kolossaler Unterschied zur heutigen Kinder- und Jugendhilfe. Ich sage immer polemisch, was Heranwachsende in den Hilfen zur Erziehung heute vor allem lernen, ist: Wie funktionalisiere ich die Sozis so, dass sie meine Angelegenheiten für mich erledigen und ich mir Handlungsspielräume wahren kann, indem ich sie gegeneinander ausspiele? Von daher komme ich noch mal auf eine andere Art und Weise auf Makarenkos (1982: 79) Kunst des Perspektivenentwickelns zurück: Die Leute, die wir in den Hilfen zur Erziehung haben, die haben keinen positiven Ansatz mehr, keine Fantasie, wie es einige politisierte Kollektive von Jugendlichen noch artikulieren: Wir wollen uns selbst organisieren! – Unabhängig davon, ob sie von der mutualistischen Tradition der Genossenschaftsbewegung noch etwas gehört haben oder nicht. Vielmehr ist deren Willen zur Selbstorganisation eigentlich negativ bestimmt: Ich will nicht, dass andere mir sagen, was ich wie zu tun habe! Das ist das dominante Muster bei denjenigen, die meist weniger freiwillig dazu genötigt wurden, entsprechende Angebote der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen. Das wird, glaube ich, verkannt: Die sozialpädagogischen Herausforderungen von einer solchen Negativbestimmung aus schon zu einer „mittleren Perspektive“ der Selbstorganisation in einem einigermaßen stabilen Kollektiv zu kommen. 

Du hast am Anfang von diesen sehr fluiden Mustern heutiger Selbstorganisation auch im virealen Raum gesprochen. Aber für eine Selbstorganisation des Alltagslebens, mit all seinen Herausforderungen, bedarf es verlässlichere Strukturen und zumeist auch eine Arbeitsteilung sowie zumindest mittelfristige, zeitliche Perspektiven. Dafür braucht es eine Pädagogik des Perspektivenentwickelns. Deswegen kam ich auf Makarenko. Viele Heranwachsende sind heute aufgrund des hohen Ausmaßes erfahrener Fremdbestimmung im schulischen Bereich oder auch im Kontext der erzieherischen Hilfen so drauf, dass sie gegen alles geradezu allergisch reagieren, was sie daran hindert, das zu machen, auf was sie gerade ‚Bock haben‘. Darüber hinaus sind viele Heranwachsende in von sozialer Ausschließung betroffenen Milieus zu einer Ökonomie des Gelegenheiten-Nutzens verurteilt, weil ihnen jegliche materielle Grundlage für eine solide Zukunftsplanung schlicht fehlt. Ihnen bleibt somit nichts anderes als die „nahe Perspektive“. An diese muss, das ist von Makarenko zu lernen, unweigerlich angeknüpft werden. Aber darauf lässt sich noch keine wirkliche kollektive Selbstorganisation gründen. Es ist Makarenko zufolge vielmehr schon eine Kunst, von solchen „nahen Perspektiven“ her mit den Heranwachsenden erst mal zu einer nächsten Stufe zu gehen, Angelegenheiten des eigenen Interesses mit Gleichgesinnten bzw. -betroffenen in Gruppen auch arbeitsteilig in einer mittelfristigen Perspektive anzugehen. Und ich befürchte, dass diese pädagogische Idee eigentlich in den Hilfen zur Erziehung abhandengekommen ist. 

Des Weiteren befürchte ich, dass die Arbeit der Ombudsstellen, obwohl sie auch Selbstorganisationen fördern sollen, sich dann doch nur auf eine Art Kundenbeschwerdemanagement reduziert und dass sie auf diese Weise in eine Logik von Dienstleistungsorientierung eingebaut wird, die in einer ganz anderen Art und Weise in der Kinder- und Jugendhilfe Verbreitung gefunden hat, als es der 9. Kinder- und Jugendbericht (Bundesministerium für Familie 1994) oder gar Andreas Schaarschuch (1998) mit seiner Habilitationsschrift intendiert haben. Ganz im Gegenteil schwebte Andreas (vgl. ebd.: 243) ja als deren sozialstaatlicher Erbringungskontext eine Infrastruktur republikanischer Selbstregierung vor, die damit zugleich demokratische Lernprozesse befördert und – mit Makarenko gesprochen – in „weiter Perspektive“ zu einer demokratischen politischen Kultur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene beiträgt.

 

MW: Das sind jetzt viele Fässer auf einmal, die Du aufgemacht hast. Also ich fange mal bei dem an, was du angesprochen hast, dass der fachliche Diskurs sich ausgerichtet hat an irgendeiner Vorstellung von Dienstleistung, bis hin, dass im sozialen Sektor von Kundinnen und Kunden gesprochen worden ist. Das ist genau dasselbe Dilemma, das in der Schule auch zu erkennen ist. Die eigene spezifische Qualität dieses pädagogischen Raums ist durch die Umstellung auf Dienstleistungen und Kundenorientierung gewissermaßen negiert worden. Also die Vorstellung, man geht dann halt zum Laden hin, kauft sich eine Dienstleistung ein und erwartet dann auch, dass diese Dienstleistung funktioniert. Aber um diese Dienstleistungen abzuholen, müssen deren Nutzende selbst etwas tun. Das ist mal die eine Seite. 

Die zweite Seite, die ist jetzt ambivalent, dass wir tatsächlich in weiten Bereichen durch die Fokussierung auf Probleme nicht sehen, was in Gesellschaften eigentlich doch ganz gut läuft. Also wir sehen Probleme, wir sehen Risiken. Das ist für mich eigentlich das schlimmste Wort, was es überhaupt gibt, weil in jeder Aktivität, also wenn sich Jugendliche selbst organisieren, steckt natürlich ein Risiko drin. Da dürfen wir eigentlich, glaube ich, viel optimistischer sein, als wir das gemeinhin sind, selbst wenn es da zu Konflikten kommt. So, jetzt kommt aber wieder das Problem, dass wir eine inzwischen hochgradig heterogene Gesellschaft sind, wo wir viele Zusammenschlüsse von Jugendlichen haben. Ich habe ja schon die Feuerwehr angesprochen. Wie die Sportvereine bilden sie so eine Art Mixtur von Selbstorganisation und Organisation. Die Heranwachsenden treffen sich halt danach und daneben auch noch. Man muss einfach noch zusätzlich sehen: Die Kinder und Jugendlichen heute sind eigentlich extrem überlastet. Sie haben schulische Ansprüche, zumindest Anwesenheitsansprüche wie noch nie. Sie sind gefordert, nicht zuletzt durch soziale Medien, in denen sie sich einerseits auch selbst organisieren, aber zugleich eingebunden werden in die Kulturindustrie. Und dann kommt noch hinzu, dass wir bei Gruppen, die möglicherweise vulnerabel sind, sozusagen administrativ alles tun, um die Selbstorganisation und zwar aller – der Erwachsenen, wie der Kinder und Jugendlichen – zu unterbinden. Also beispielsweise wie diesbezüglich mit Asylbewerberinnen und -bewerbern umgegangen wird, das ist einfach eine Katastrophe. Anders gesagt, man macht mit dieser Ombudschaft ein Riesenfass auf, ohne es wirklich sehen zu können. In meinen Augen besteht die Gefahr, dass man damit dann erst recht wieder Interventionsnotwendigkeiten erzeugt, die nicht notwendig sind.

 

MM: Also Du hast das angesprochen mit den sozialen Problemen und dass soziale Probleme leider eben auch in der Kinder- und Jugendhilfe häufig bedeuten, dass die Heranwachsenden selbst zum Problem erklärt werden und dass dahinter liegende Konfliktdimensionen außer Blick geraten. Eigentlich wäre es notwendig im Zusammenhang mit Selbstorganisation, den Blick für Konflikte zu schärfen. Zwar haben solche Ansätze in der Kinder- und Jugendhilfe leider keine Tradition. Aber im Rahmen von Gemeinwesenarbeit setzt ein Organizing gerade an Konflikten an. Und Alinsky (1999) vermochte über solche existenziell erfahrenen Konflikte, anknüpfend an die in marginalisierten Milieus verbreitete Kultur des Spotts, selbst Leute zu organisierten, von denen Marx und Engels annahmen, dass sie nicht organisierbar seien. Das ist die eine Seite. 

Aber die andere Seite, die du angesprochen hast und die eigentlich aus meiner Sicht auch eine spezifische Art von Sozialpädagogik erforderlich macht, ist eben: Wie können denn Konflikte demokratisch ausgetragen werden und wie können Konflikte diesbezüglich auch zu Lernprozessen werden für diese Menschen. Das ist wohl kaum durch eine Ombudsstelle leistbar. Also im besten Falle vertreten sie Interessen der Nutzenden der Kinder- und Jugendhilfe gegenüber der übermächtigen Trägerseite. Aber sie können doch nicht diese Konflikte so ausgestalten, dass darüber demokratische Lernprozesse angestoßen werden oder gar diese sozialpädagogisch begleiten. Sie können auch nicht Heranwachsende organisieren, wie das unlängst die ehemaligen Heimzöglinge aus eigener Betroffenheit heraus als Erwachsene geschafft haben, aber darin auch von Kolleg*innen unterstützt wurden, ihren Anliegen nach so vielen Jahren endlich eine Öffentlichkeit zu verschaffen und dadurch auch politisch Nachdruck zu verleihen. Oder die Missbrauchsskandale, bei denen sich die Betroffenen jetzt glücklicherweise auch zu organisieren beginnen. Klar können die Ombudsstellen solche Formen der Selbstorganisation dann stärken, aber sie können sie wohl kaum anstoßen. Und das, denke ich, ist etwas, was im Blick behalten werden muss. 

Im Hinblick auf demokratische Selbstorganisation hat sich zumindest in der fachlichen Diskussion auch bezüglich der Kinder- und Jugendhilfe eine Position behaupten können, die sehr stark an Habermas‘ deliberativen Ansatz anschließt. Sie selbst nennt sich ja gerne „Hamburger Schule“ und wird auch in diesem Heft mit ihrer Position vertreten sein. Zwar zeigt sich an Ansätzen, wie „Just Community“ (Kohlberg 1986), dass wenn Menschen über sie betreffende moralische Dilemmata ihres Alltags diskutieren, sie damit zugleich lernen, andere Perspektiven zu antizipieren und damit auch ohne unterrichtliche Wertevermittlung höhere Stufen moralischer Entwicklung erreichen, wenngleich solche Stufenmodelle sich ja als problematisch erwiesen haben. Zugleich ist Habermas Rede vom „zwanglosen Zwang des besseren Arguments“ (z.B. 1971: 137), auf das solche Ansätze demokratischer Selbstorganisation der sog. Hamburger Schule setzen, äußerst naiv. Denn nicht alle sind gleichermaßen sprachmächtig, bzw. in der Lage, ihre Anliegen und Interessen entsprechend, ob nun verbal oder über andere Medien, Gehör zu verschaffen. So gibt es auch Unterschiede, sich einzubringen in eine „Politik der Bedürfnisinterpretation“, wie Nancy Fraser (1994: 240) das nennt, um dann auch Ansprüche zu formulieren, die politisch wahrgenommen werden. Ombudsstellen werden wohl kaum solche Prozesse in der Kinder- und Jungendhilfe anstoßen können. Und selbst dann bedürfte es noch einer Sozialpädagogik, für Leute, die eben nicht gehört werden oder für die es noch schwierig ist, ihr Bedürfnis zu formulieren, über ein entsprechendes „Ortshandeln“, wie Du (Winkler 2021) das nennst, einen Raum zu kreieren, wo sie zu ihrer eigenen Stimme finden können. Demgegenüber drohen die Ombudsstellen sich in Frasers Worten in einem „juristisch-administrativen Management der Bedürfnisbefriedigung“ (1994: 240) zu erschöpfen.

 

MW: Man könnte ja die Idee der Ombudschaft relativ klein halten. Im Grunde müsste es so etwas geben, wie stadtteilnahe, niedrigschwellige Anlaufstellen, die einem Rat geben können, wo man sich mit seinem Anliegen hinwenden kann. Also erst einmal ist das Problem, dass ein Zugang zu vertrauenswürdigen Erwachsenen nicht mehr gegeben ist. Es braucht Personen, die nahe sind. Das ist mal die eine Seite. Die andere Seite ist, das wollte ich vorhin schon ansprechen, ein verrückter Gedanke, ich gebe es zu, dass wir in der Sozialpädagogik und der Sozialen Arbeit viel zu sehr darauf fixiert sind, uns auf die sogenannten, oft genug von uns selbst so definierten, Problemgruppen zu fokussieren. Wir gucken dann auf das Problem der Armen und fragen die gar nicht, wie bewältigen sie ihr Leben, sondern haben unsere Stereotypen, die wir durchaus in der akademischen Ausbildung gelernt haben. Zu fragen, wie die Menschen eigentlich ihre Lebenssituation wirklich bewältigen, würde Potenziale der Selbstorganisation entdecken lassen. Aber es gibt noch einen anderen Effekt: In unserer Fixierung auf Probleme übersehen wir, dass bürgerliche Vorstellungen, was auch immer das heißen mag, weil diese hochdifferent sind, häufig verbunden sind mit Engagement und Formen der Beteiligung, und dass das attraktiv für Menschen sein kann, die sich aus ihrer unterprivilegierten Lebenssituation herausarbeiten wollen. Wir schauen eigentlich zu wenig auf die Pädagogik des alltäglichen Lebens. 

Das ist eine steile These. Ich weiß um die Brüche zwischen den Zugehörigen unterschiedlicher, ich nenne es jetzt mal so, Milieus in ihrer intersektionalen Betroffenheit und denen, die ein einigermaßen etabliertes Leben führen. Dennoch bleibe ich dabei, dass wir da eher überlegen müssen, wie dieser Abstand verringert werden kann. Also mit anderen Worten, wir sollten vielleicht mehr Vertrauen haben in Institutionen, die in unseren Kreisen durchaus auch verachtet werden, also Vereine beispielsweise, dass die eigentlich eher als attraktive Angebote gelten können, ohne dass wir jetzt sofort die große pädagogische Vorstellung damit verbinden. Eine der wichtigsten Institutionen, um Demokratie zu lernen, in all ihren grässlichen und guten Seiten, sind tatsächlich Vereine. Also diese Formen geordneter Mitwirkung, das sind eigentlich, ich nenne es jetzt mal so, die Brutstätten der Demokratie. Und die sind momentan hochgradig vernachlässigt. Das ist ein bisschen ein Problem beispielsweise beim Sport. Es ist kein Zufall, dass die Ultras – eine Form jugendlicher Selbstorganisation – sich so entwickelt haben. Dahinter verbirgt sich ja eine Auseinandersetzung mit den hochkommerzialisierten Vereinsstrukturen. Mitglieder haben da überhaupt keine Chance mehr mitzuwirken, weil der Großsponsor entscheidet. 

Um noch mal auf das Fehlen vertrauenswürdiger Erwachsener zurückzukommen. Also wir wissen aus der Forschung zur Vormundschaft, dass es unglaublich wichtig ist, dass ein Erwachsener mit einer Jugendlichen, mit einem Jugendlichen auf Augenhöhe redet. Im ländlichen Raum funktioniert das im Übrigen zumindest in einem Bereich offensichtlich relativ gut, nämlich dort, wo beispielsweise Handwerker versuchen und das schon vor dem Fachkräftemangel getan haben, einen Jugendlichen mit schlechten Schulleistungen zu sagen, probiere es halt mal bei mir im Betrieb, und sie bekommen dann diese Impulse, die du angesprochen hast, und dann treten solche Lernprozesse ein. Oder jetzt, das ist ja das zentrale Problem bei Geflüchteten, wie kriegen wir die, also gerade die Jugendlichen, wie kriegen wir die da eingefädelt? Ich will das alles nicht idealisieren, aber ich fürchte fast, dass wir zu wenig tatsächlich an die realen Möglichkeiten denken, die es gibt. 

 

MM: Nur das als kleine Ergänzung zu dem, was Du gerade sagst. Ich hatte mal eines der vielen Programme für Jugendliche evaluiert, die es nicht von alleine im dualen System schaffen (May 2007). Das Interessante war genau dieses Phänomen, was du erzählst, dass die in den Handwerksbetrieben problemlos integrierbar waren, während sie mit der Schule und häufig auch mit den anderen pädagogischen Maßnahmen in diesem Programm nicht zurechtkamen. Meine These wäre, dass da die Jugendlichen sich tatsächlich als selbstwirksam erleben konnten und merkten, dass sie auch etwas Relevantes zur Gesellschaft beitragen. Sie erhalten Anerkennung und die guten Meister geben ihnen diese auch. Wo aber sollen sie in den Hilfen zur Erziehung solche Erfahrungen sammeln? Anerkennung können sie da bestenfalls in sekundärer Weise, wenn nicht auf schräge Weise in der peer-group gewinnen. In dieser Hinsicht müsste eigentlich viel in der Kinder- und Jugendhilfe passieren, jenseits einerseits der Ombudsstellen und andererseits dieser Ansätze im Anschluss an Habermas Konzept deliberativer Demokratie, im Hinblick auf eine Stützung von Selbstorganisation, die auf eine demokratische Ausgestaltung des Alltagslebens zielt, das – wie Agnes Heller (1978: 24) dies gefasst hat – den gesamten Bereich der Tätigkeiten zur individuellen Reproduktion umfasst und damit maßgeblich auch zur gesellschaftlichen Reproduktion beiträgt. 

Das dürfte aus meiner Sicht auch der Grund sein, warum – was du angesprochen hast – das Jugendrotkreuz und die Jugendfeuerwehr noch funktioniert, wenn sie nicht gerade von Erwachsenen paramilitärisch organisiert werden, was Du ja auch als Ambivalenz von solchen Organisationen angesprochen hast. Wenn den Jugendlichen dort – zugegeben etwas klischeehaft gesprochen – auch die Möglichkeiten gegeben wird, ihren Roller zu reparieren, wenn sie nach dem Brand auch ihren Durst löschen dürfen, dann organisieren sich darin auch Jugendliche, die aus ökonomisch, wie kulturell unterprivilegierten Milieus stammen und an der Schule zu scheitern drohen. Vor diesem Hintergrund wäre im Rahmen der Hilfen zur Erziehung sowohl von den historischen Traditionen zu lernen als auch von dem, was jetzt noch funktioniert. Ich kenne zum Beispiel hier in der Gegend eine Jugendhilfeeinrichtung, die mit den Jugendlichen – das war hoch umstritten – ein Karussell betreibt. Die Jugendlichen – und das sind nicht gerade ‚pflegeleichte‘ Jugendliche, die schon zahlreiche Maßnahmen abgebrochen haben – sind total begeistert, und das Geld, das sie erwirtschaften, verwalten sie kollektiv. Also das kann sich niemand privat auszahlen lassen, aber sie können sich damit als Gruppe etwas gönnen. Dies hat zugleich auch enormen Einfluss auf das Selbstbewusstsein der Jugendlichen. 

 

MW: Aber der entscheidende Punkt, den du benannt hast: Es geht nicht um Selbstzweck, sondern es muss eine Aufgabe sein, bei der etwas rauskommt, die mit Achtung und Anerkennung verbunden ist. Also man muss tatsächlich einen, ich habe das ja immer so genannt, dritten Faktor haben, vermittels dem man sich mit der Welt auseinandersetzt. Und das gilt auch für die Förderung von Selbstorganisation. Eine Ombudsstelle vermag dies wohl eher kaum zu leisten.

 

Literatur

Alinsky, Saul D. 1999: Anleitung zum Mächtigsein. Ausgewählte Schriften. Göttingen

Brecht, Bertolt 1976: Lob der dritten Sache. In: Gesammelte Gedichte. Frankfurt am Main: 1159

Bundesministerium für Familie, Senioren Frauen und Jugend 1994: 9. Bericht über die Situation der Kinder und Jugendlichen und die Entwicklung der Jugendhilfe in den neuen Bundesländern. Bonn

Comenius, Johann Amos 2018: Große Didaktik. Stuttgart 

Fraser, Nancy 1994: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt am Main

Habermas, Jürgen 1971: Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung? Frankfurt am Main: 101–141

Heller, Ágnes 1978: Das Alltagsleben: Versuch einer Erklärung der individuellen Reproduktion. Frankfurt am Main

Kamp, Johannes-Martin 1995: Kinderrepubliken. Geschichte, Praxis und Theorie radikaler Selbstregierung in Kinder- und Jugendheimen. Opladen

Kohlberg, Lawrence 1986: Der „Just Community“-Ansatz der Moralerziehung in Theorie und Praxis. In: Oser, Fritz/ Fatke, Reinhard/ Höffe, Otfried. (Hg.): Transformation und Entwicklung. Grundlagen der Moralerziehung. Frankfurt am Main: 21–55

Korczak, Janusz 1996-2005: Sämtliche Werke. Gütersloh

Makarenko, Anton Semënovič 1982: Ein pädagogisches Poem III. In: Gesammelte Werke Band 5. Ravensburg

May, Michael 2007: Jugendberufshilfe – oder der immer wieder neue Versuch, strukturellen und institutionellen Diskriminierungen pädagogisch zu begegnen. Ergebnisse aus der Evaluation eines hessischen Modellprojektes. In: Neue Praxis, 4: 422–437

Schaarschuch, Andreas 1998: Theoretische Grundelemente Sozialer Arbeit als Dienstleistung. Perspektiven eines sozialpädagogischen Handlungsmodus. Habilitationsschrift. Bielefeld

Wilker, Karl 1989: Der Lindenhof – Fürsorgeerziehung als Lebensschulung. Frankfurt am Main

Winkler, Michael 2021: Eine Theorie der Sozialpädagogik. Neuausgabe mit einem neuen Nachwort. Weinheim Basel