Ein Fazit zwanzig Jahre nach dem Kosovokrieg
Der Kosovokrieg war Teil der Zerfallskriege Jugoslawiens. Vorausgegangen waren ihm die Unabhängigkeitserklärung fast aller Teilrepubliken des föderalen Jugoslawiens sowie die darauf folgenden Kriege: Der 10-Tage-Krieg in Slowenien 1991, der kroatische Unabhängigkeitskrieg 1991–95 und der Bosnienkrieg 1992–95. Gerade letzterer spielt für das Verständnis des Kosovokrieges 1999 eine wichtige Rolle: Die Schaffung von ethnisch homogenen Gebieten war bereits Teil der Kriegsstrategie aller Seiten und führte zu brutalen Vertreibungen und Massakern, denen die so genannte internationale Gemeinschaft vielfach tatenlos zusah.
Auch Kosovo, das keine Teilrepublik, sondern autonome Provinz Jugoslawiens war und damit laut jugoslawischer Verfassung kein einvernehmliches Sezessionsrecht besaß, hatte sich 1992 unabhängig erklärt. Dies wurde jedoch lediglich von Albanien anerkannt. Zunächst schlugen sich die Unabhängigkeitsbestrebungen im Aufbau von Parallelstrukturen nieder. Erst 1996 nahm die UCK (»Befreiungsarmee des Kosovo«) den bewaffneten Unabhängigkeitskampf auf.
Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für die Situation im Kosovo nahm ab 1998 zu. Nach Massenfluchten bis Januar 1999 wurden die Forderungen nach internationaler Einmischung immer lauter. Am 24. März griff die Nato das heutige Serbien an, die Militärintervention endete am 9. Juni.
Präzedenzfall statt Ausnahme
Dass es sich seinerzeit um einen Bruch des Völkerrechts handelte, wird mittlerweile kaum bestritten. An der Frage, ob der Krieg dennoch gerechtfertigt war, scheiden sich die Geister. Der Soziologe Ulrich Beck brachte das Dilemma damals so auf den Punkt: Wegschauen macht ebenso schuldig wie Eingreifen. In Bosnien hatte die internationale Gemeinschaft viel zu lange weggesehen, und man wird den Eindruck nicht los, dass das beim Kosovo überkompensiert wurde.
Der Kosovokrieg stellte eine Zäsur dar: Einerseits schuf die Nato mit dem völkerrechtlich nicht gedeckten Eingreifen einen Präzedenzfall für Einsätze ohne UN-Mandat. So verweist Russland heute im Konflikt um die Krim auf den Kosovoeinsatz, um sein Vorgehen zu rechtfertigen. Andererseits hat der Kosovokrieg auch das Prinzip der »Schutzverantwortung« im Völkerrecht befördert. Heute sind eklatante Verletzungen von Minderheiten- und Menschenrechten nicht mehr durch die Souveränität von Staaten geschützt. Der UN-Sicherheitsrat unterliegt nun theoretisch der Pflicht, Menschen auch vor ihren eigenen Regierungen zu schützen. Dass dies häufig nicht geschieht und der Sicherheitsrat oft – wie beispielsweise im Falle Syriens – blockiert ist, steht auf einem anderen Blatt.
Auch für die deutsche Außenpolitik stellte der Kosovokrieg einen Präzedenzfall dar: Es war der erste Krieg, an dem sich Deutschland nach 1945 aktiv beteiligte, noch dazu in einer Region, in der die Wehrmacht zahlreiche Massaker verübt hatte. Zwanzig Jahre danach ist die Beteiligung Deutschlands an Auslandseinsätzen etabliert. Die Grundlage für diese Akzeptanz schuf die damalige rot-grüne Bundesregierung. Berüchtigt ist der Auschwitz-Vergleich des damaligen grünen Außenministers Joseph Fischer: »Ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus.« Fischer lag auch jenseits dieser Verharmlosung des Holocaust falsch: Nur im Bosnienkrieg gab es Lager (von denen jedoch keines mit Auschwitz vergleichbar war), im Kosovo nicht.
Dem Erfolg von Fischers Argumentation tat dies keinen Abbruch. Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger sagt dazu: »Die Beteiligung einer Partei, die maßgeblich aus der deutschen Friedensbewegung hervorgegangen war, war mit großer Wahrscheinlichkeit geradezu entscheidend dafür, dass die Positionierung des wiedervereinigten Deutschlands als international und offensiv agierende Militärmacht nicht auf mehr Widerstand stieß.«
Von der Provinz zum Protektorat
Formal blieb der Kosovo nach dem Krieg Teil der Bundesrepublik Jugoslawien, wurde aber unter internationale Verwaltung gestellt, zunächst unter die Übergangsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo (UNMIK). Sie übergab später viele Aufgaben an die EU-Rechtsstaatlichkeitsmission im Kosovo (EULEX). Gleichzeitig wurden etwa 50.000 SoldatInnen der Nato Kosovo-Mission (KFOR) im Kosovo stationiert. Ihre Zahl ist heute auf etwa 4.500 gesunken. Die drei Missionen übernahmen von Polizeiaufgaben bis zu Haushaltsverwaltung viele staatliche Aufgaben, sodass Kosovo ein internationales Protektorat darstellte.
2008 erklärte sich der Kosovo schließlich unilateral unabhängig. Vorausgegangen waren lange Verhandlungen über eine einvernehmliche Lösung für den Status der Region, die schließlich scheiterten. Serbien erkennt die Unabhängigkeit bis heute nicht an, hat seine Strategie aber darauf verlegt, den nördlichen Teil des Kosovo, in dem die Bevölkerungsmehrheit serbisch ist, als Teil Serbiens zu erhalten. International ist die Unabhängigkeit weiterhin umstritten – nur 114 der 193 UN-Mitgliedsstaaten haben sie anerkannt, darunter auch nur 23 der 28 EU-Staaten.
Mit der Unabhängigkeit übernahm EULEX viele Aufgaben der UNMIK und soll die kosovarischen Behörden beim Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung unterstützen. Ursprünglich war die Mission bis 2010 geplant, soeben wurde sie bis 2020 verlängert. Über die Jahre wurden immer mehr Kompetenzen von EULEX auf kosovarische Behörden übertragen, mit dem neuesten Mandat bekommt EULEX erneut weniger Befugnisse. Das Land steht aber weiterhin unter einer Doppelverwaltung aus kosovarischen und internationalen Strukturen. So findet sich im Kosovo die größte Ansammlung von EU-Personal außerhalb von Brüssel.
Die massive internationale Präsenz hat nichts an den vielen Problemen des Landes geändert. Kosovo gilt heute als einer der korruptesten und ärmsten Staaten Europas. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 40 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist noch höher, und dies bei einer Bevölkerung, in der jede/r zweite unter 25 Jahre alt ist. Auf die etwa 1,8 Millionen EinwohnerInnen des Kosovo kommen etwa 420.000 KosovoarInnen, die (legal) im Ausland leben. Ihre Rücküberweisungen machen 14 Prozent des Bruttoinlandproduktes des Landes aus. Oft sind ganze Familien von den Überweisungen von Familienangehörigen aus dem Ausland abhängig.
Migration war immer ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für den Kosovo und lebt mit jeder Krise neu auf. Allein im Winter 2014/15 verließen über 70.000 Menschen das Land, mehr als die Hälfte davon stellte Asylanträge in Deutschland. Hierzulande wurde dadurch der Diskurs um sogenannte »Wirtschaftsflüchtlinge« befeuert. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Unterscheidung der Realität von Migration nicht gerecht wird, gibt es unter diesen Geflüchteten eine große Gruppe, die als schutzbedürftig anerkannt werden müsste: die Roma-Minderheiten. Nach dem Kosovokrieg kam es immer wieder zu gewaltsamen Übergriffen gegen RomNija, die unter Verdacht der »Kollaboration« mit der serbischen Seite gestellt wurden. Bis heute leiden RomNija im Kosovo unter massiver struktureller Diskriminierung. Da Minderheitenschutz aber in der Verfassung des Kosovo verankert ist, werden Asylanträge von RomNija in Deutschland prinzipiell abgelehnt. Mit dem Verweis auf Rechte, die es nur auf dem Papier gibt, stiehlt sich Deutschland aus der Verantwortung.
Die Büchse der Pandora
Auch sonst sind die Nachwirkungen des Krieges bis heute groß. Im Juli 2019 trat der kosovarische Regierungschef Ramush Haradinaj zurück, nachdem er eine Vorladung vor das internationale Sondergericht zur Ahndung von Kriegsverbrechen während des Kosovokrieges erhalten hatte. Das Gericht wurde 2017 eingerichtet und soll mutmaßliche Verbrechen in den Jahren von 1998 bis 2000 aufklären. Haradinaj war damals ein regionaler UCK-Kommandant.
Serbien erkennt die Unabhängigkeit seiner ehemaligen Provinz weiterhin nicht an. Ein durch die EU vermitteltes »Normalisierungsabkommen« hat dennoch eine gemeinsame Grenzverwaltung herbeigeführt. Auch bei der Frage eines EU-Beitritt Serbiens spielen die Beziehungen zum Kosovo eine große Rolle. Der Norden des Kosovo wird bis heute de facto überwiegend serbisch verwaltet. Mittlerweile ist die kosovarische Polizei dort präsent, aber Aktionen wie die Verhaftung des serbischen Direktors für Kosovo Marko Duric 2018 führen immer noch zu schweren diplomatischen Konflikten zwischen Priština und Belgrad.
Die im April diskutierte Idee eines Gebietsaustausches zwischen den beiden Staaten, bei dem der Norden Kosovos Serbien zugeschlagen werden soll und Kosovo dafür südserbische Gebiete mit überwiegend albanischer Bevölkerung erhält, kann einen nur mit Grauen erfüllen. Eine erneute Verschiebung der Grenzen auf dem Balkan nach ethnischen Kriterien würde jene Büchse der Pandora wieder öffnen, die das Morden in den 1990er Jahren erst möglich gemacht hat: die Vorstellung vom ethnisch homogenen Nationalstaat.
Larissa Schober ist Mitarbeiterin im iz3w.