Es gab Zeiten – und es gibt nach wie vor einen Haufen Orte – auf dieser Welt, da war es Leistung genug, zu Überleben. Die Geburt, das Säuglingsalter, die Kindheit. Ganz zu schweigen davon, älter als 30, 40 zu werden. Diese Zeit, dieser Ort ist definitiv nicht jetzt und hier. Hier und jetzt fängt die (Über-)Lebensleistung ab dem 100. Lebensjahr an. Für die Jahre 0 bis 99 hat sich irgendwie die Verwertungslogik eingeschlichen, man weiß gar nicht, wann und wie das nur passieren konnte. Aber die Lebenszeit gehört schon irgendwie genutzt, einfach „da“ sein, ein bisschen Herumleben, um sich die Zeit zu vertreiben – wo kämen wir denn da hin. Und plötzlich sitzt man da, mit sagen wir Ende 30, und bekommt einen gehörigen Schrecken, weil so vieles noch nicht erreicht, die Zeit schon so knapp ist. Längst müsste da eine ordentliche Kleinfamilie um eine herum gruppiert fröhlich vom Foto auf der Weihnachtskarte lachen (die man natürlich auch nicht verschickt, schon wieder so ein Versagen), und so etwas wie ein im weitesten Sinne beruflicher Erfolg sollte sich doch auch eingestellt haben. Ohne archäologische Kenntnisse ins Blaue hinein gefragt: Waren Frauen aus dem Paläozän auch von solchen Lebenszielen getrieben, zum Beispiel, noch vor ihrem 30er die beste Speerspitze der Jagdgruppe zu schnitzen? Vermutlich nicht. Ich jedenfalls beobachte an mir lachhafte Gefühlsregungen: Ich kann Thomas Mann nicht ausstehen. Weil er noch keine 30 war, als er die Buddenbrooks schrieb. Und dann auch noch den Nobelpreis, den er als sechsfacher Familienvater entgegennahm. Fast freue ich mich schadenfroh, dass der Roman, den ich leider gut finde, mit Iris Berben und Armin Mueller-Stahl verfilmt wurde. Es ist gemein, Thomas Mann hatte es schließlich auch nicht leicht. Und es ist, ich bin mir dessen bewusst, lächerlich. Trotzdem bin ich neidisch auf Thomas Mann, was soll ich machen. Mit unter 30 ein Buch zu veröffentlichen, für das ich später den Nobelpreis erhalten werde: Der Zug ist abgefahren, und das nicht nur, weil den Schwedendemokraten zuzutrauen ist, dass sie bald auch den Nobelpreis abschaffen, oder zumindest nur noch an „echte“ Schwed:innen vergeben lassen. Die Zeit ist noch nicht reif, möchte ich gerne glauben, weil, wie mir von einem Agenten leicht angewidert mitgeteilt wurde: „Das ist ja Literatur.“ Ich möchte gerne glauben, dass in 100 Jahren Menschen mich dafür schätzen werden, so wie ich heute für Franz Kafka, dessen Literatur auch niemand drucken wollte, wesentlich herzlichere Gefühle hege, als für Thomas Mann. Nur stelle ich mir die Frage: Gibt es in 100, 200 Jahren überhaupt noch Menschen, die irgendjemanden schätzen oder verabscheuen, lesen oder nicht lesen können? Und damit meine ich nicht, kulturpessimistisch, gibt es in 100 Jahren noch Menschen, die sinnerfassend lesen können, sondern tatsächlich: Gibt es noch Menschen? Viele von uns sind jetzt schon mit dem Überleben beschäftigt, und das sagt sich so wirkungslos dahin, weil es nur ein paar Worte sind, aber tatsächlich könnten auch wir diese Menschen sein, und sind es vielleicht bald. Und in Anbetracht dessen ist die größte Lebensleistung, die man erbringen kann, sowieso diese: Möglichst wenig kaputt machen.
Andrea Heinz ist Autorin und Literaturwissenschaftlerin und lebt in Wien, dem Berchtesgadener Land und leider zu selten in Schweden.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Nr. 62, Herbst 2022, „Senior Artist“.