Eine kurze Diskussion zentraler Konzeptionen
Scheitern als Zäsur und Notwendigkeit. Der Umgang mit Scheitern als Privileg, das aus feministisch-kritischer Sicht zu hinterfragen ist, wenn der neoliberalen Individualisierung begegnet werden soll.
Bereits auf der Individualebene ist Scheitern durch hierarchisierte und politisierte Diskurse beeinflusst und erzeugt zugleich konzeptuelle Thesen über die jeweils gegenwärtige Gesellschaft. Dies betrifft die sowohl kategorialen als auch gruppenbezogenen Fragen, was zum Scheitern zählt und worauf es sich auswirkt sowie wer und auf welche Weise Scheitern attestiert und bewertet. Aus dieser Perspektive sind zwei zentrale Konzepte von Scheitern zu differenzieren, die es grundlegend anders diskutieren: das Scheitern als Zäsur in einer Biografie oder einer gesellschaftlichen Entwicklung sowie das Scheitern als Notwendigkeit, auch für Erfolg, in einem fortschrittsorientierten Verständnis. Zwar akzeptieren beide Auffassungen, dass ein Überwinden des Scheiterns notwendig ist, um Handlungsfähigkeit wiederherzustellen, unterscheiden sich jedoch darin, ob Scheitern vorrangig reflektiert oder genutzt werden soll.[i]
Individuelles Scheitern als Teil des Menschseins oder Scheitern als Dispositiv des Erfolgs
Diese Unterschiede in der Konzeption von Scheitern ordnen sich bestimmten Disziplinen der Forschung zu. Wird es einerseits soziologisch als Bedingung des Menschseins begriffen, kann es als Erfahrung von Handlungsverlust definiert werden, der sich sowohl auf die raumzeitliche Orientierung als auch die Kontingenz der Person auswirkt. Die notwendige Bewältigung des Scheiterns vollzieht sich in dieser Perspektive nur unter der diskursiven Berücksichtigung der Ausprägungen menschlichen (Zusammen-)Lebens.[ii] Versteht man Scheitern andererseits aus ökonomischer Sicht als Bedingung von Erfolg, Innovation oder als Optimierungsanlass, wird dagegen die zukünftige Handlungskompetenz über das Scheitern noch gestärkt, dessen Qualität wiederum stets verbessert werden soll.[iii] Dies kann schließlich dazu führen, dass das disruptive Moment des Scheiterns eine Ermutigung zur Wiederholung sowie Fetischisierung des Scheiterns darstellt und dadurch eine nahezu soteriologische Potenz erhält;[iv] ebenso zeigt sich nicht zuletzt in der Kunst, wie Scheitern gleichsam Bedingung oder Ergebnis künstlerischer Praxis darstellen kann.[v]
Das Privileg des Scheiterns: Kritik und Fragen an outputorientierte Ansätze
Zur Konzeption von Scheitern als Erfolgsbestandteil zeigt ein feministisch-kritischer Blick, dass ein Umfeld, in dem Scheitern genutzt werden kann, ein gesellschaftliches Privileg darstellt. Das Verständnis der Biografie als Unternehmung und von Privatpersonen als unternehmer*innenähnlichen Akteur*innen legt nahe, dass nur eine auf Erfolg ausgerichtete Haltung profitabel ist. Das unumgängliche und statistische Scheitern mancher Prozesse stoppt somit nicht das Vorhaben, sondern erzeugt neben der vorbenannten Entwertung des Scheiterns fortlaufend unnachhaltige Prozesse, die zugleich die tatsächliche Wahrscheinlichkeit des Gelingens verzerren. Über das neoliberale Konzept wird so die Verantwortung für Scheitern auf Individualpersonen verlagert, indem, ungeachtet von Diversitätsmerkmalen, die Erfolgsabsicht Garant des Ergebnisses ist – eine Perspektive, die sich regelmäßig etablierter Klassismen bedient und somit keine sozialen Bewältigungserzählungen für Individuen anbieten kann.
Gesellschaftliche Entwürfe und der diskursive und transdisziplinäre Umgang mit Scheitern
Diese Leerstelle wiederholt sich, wenn der Ansatz auf alternative oder zukunftsfähige Gesellschaftsentwürfe übertragen werden soll. Sich hierbei vollständig der Innovation zu verpflichten kann zur Folge haben, laufende Denkprozesse einer Gesellschaft bereits deshalb als gescheiterte Ideen zu verstehen, weil sie sich in ihren Bezugsdiskursen verankern. Mit dem Zurücklassen dieser Geistesarbeit kann zwar die Option eines stets verfügbaren Neuanfangs proklamiert werden, zugleich wird jedoch aus intersektionaler Sicht die Historie aller aktiven Entwürfe marginalisiert. Dagegen kann ein Konzept, das Scheitern transdisziplinär und darin diskursiv über menschliche Handlungsdimensionen reflektiert, auch soziale, solidarische und damit gerechtigkeitsnormative Zukünfte einfordern: Die gesellschaftlich erzählten Zeiten müssen somit nicht nur perspektivieren, sondern frei und sozial sein, und die gesellschaftlichen Kontingenzen müssen nicht nur vorliegen, sondern demokratisch und inklusiv sein; schließlich müssen die gesellschaftlichen Räume sichere Räume sein.
Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Nr. 71, Winter 2024/25, „Scheitern“.
Denise Biesenbach ist Germanistin. Sie beforscht und bearbeitet Diversitätsthemen in Wissenschaft und Gesellschaft und lebt in Mülheim an der Ruhr.
[i] Biesenbach, D. (2023): Konzepte des Scheiterns. Diskontinuitäten weiblicher Biografien bei Judith Hermann, Ingeborg Bachmann, Isabelle Lehn und Christa Wolf. Tectum. Dort findet sich, auch in Bezug auf die folgenden Passagen, eine ausführlichere und kritische Diskussion der benannten Konzeptionen sowie ein anschlussfähiges Modell für die gendernarratologische Arbeit.
[ii] Konzept nach Junge, M. (2014): Scheitern und Scheiternsbewältigung. In: Pechlaner, H., Stechhammer, B. & Hinterhuber, H.H.: Scheitern: Die Schattenseite des Daseins. Die Chance zur Selbsterneuerung. Erich Schmidt.
[iii] Einen Überblick bietet u.a. Bünger, C. (2024): Scheitern. In: M. Dederich & J. Zirfas (Hrsg.): Optimierung Ein interdisziplinäres Handbuch (S. 391-396). Springer.
[iv] Daub, A. (2020): What Tech Calls Thinking. Farrar, Straus & Giroux, zur toxischen Kultur des Scheiterns im Silicon Valley.
[v] Le Feuvre, L. (2010): Failure (Whitechapel Art Gallery: Documents of Contemporary Art). MIT Press, als beispielhafte Ausstellung von Scheitern als Basis künstlerischen Tuns.